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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Line Denkschrift des Ministers Witte

die weitere These, beiß Selbstverwaltung und Staatsbureaukratie einander
wesentlich gegensätzlich gegenüber stünden. Diesen prinzipiellen Gegensatz hält
Witte nun für einen ausgiebigen Beweis gegen die Ersprießlichkeit einer gleich¬
zeitigen Thätigkeit beider Arten von Beamten, denn es kommt ihm gar nicht
in den Sinn, auch nnr zu untersuchen, ob das Vorhandensein eines solchen
Gegensatzes und der aus ihm folgende Kampf nicht an sich auch nützlich sein
könne. Widerstand gegen die oberste Stantsleitnng ist ihm an sich ein Übel,
das prinzipiell beseitigt werden muß. Er führt gegen die Selbstverwaltung
als eine Erfahrung ins Feld, daß es leichter sei, einen Gouverneur ein- und
abzusetzen, als ein gewähltes Stndthaupt, leichter, eine Anordnung irgend einer
staatlichen Behörde abzuändern, als den Beschluß einer Landschaft usw. Der
starre Bureaukrat charakterisiert sich hiermit genügend scharf. Aber alle solche
Bedenken treten doch zurück vor der drohenden Gefahr, aus der lokalen Selbst¬
verwaltung eine allgemeine Volksvertretung, eine Reichsverfassung nach euro¬
päischem Muster hervorgehn zu sehen. Und diese Gefahr recht deutlich zu
machen, läßt der Minister eine" langen Zug wissenschaftlicher Größen Europas
als Zeugen auftreten.

Es ist, sagt man, gewöhnlich, fast üblich, daß russische Münster und
Würdenträger in solchen Staatsschrifteu in der vollen Rüstung europäischer
Wissenschaft auftreten. Jedenfalls hat Witte in einer Anlage zu dieser Denk¬
schrift eine Sammlung gelehrter Quellen gegeben, zum Beweise des innigen
Zusammenhangs zwischen Selbstverwaltung und repräsentativer Staatsverfassung.
Er bedauert zwar die Kürze dieser Quelleusammluug; aber der kurze Abriß
dieser Sammlung, der einen großen Teil des Textes seiner Denkschrift um¬
faßt, ist allem schon ausreichend, über die Gelehrsamkeit Staunen zu erregen,
über die ein russischer Minister verfügt. Die gesamte staatsrechtliche Litteratur
Europas, die Verfassungen und Provinzialvrduuugeu und Kreisordnnngen
Deutschlands, Frankreichs, Englands, ja Rumäniens und Japans, die Ge¬
schichte der französischen Revolution und der Stein-Hardenbergischeu Reformen
bis auf die Vorgänge von 1848 und die Debatten im Reichstage von 1872 --
alle die Waffen des Geistes sind da, um -- die enge Verbindung von
Selbstverwaltung und Konstitutionalismus zu beweisen. Allerdings scheint das
dringend nötig gewesen zu heilt gegenüber einem Minister, der seinerseits, ganz
auf Nnsseuschastlichem Boden stehend, aus der russischen Geschichte unchgewiesen
hatte, daß die örtliche Selbstverwaltung durch den ganzen Gang der russische"
Geschichte, durch die besondre gesellschaftliche Struktur und sogar durch die
geographische Lage im voraus angezeigt sei is. 1<>), und daß mit Ausucihme
eiuer kurzen Übergangszeit um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts die
büreaukratische Verwaltung niemals zur Grundlage des russischen Staatsbaues
gedient habe (S. 44). So überraschend diese Anschauungen des Ministers des
Jnnern siud, so überzeugend ist die Meinung des Ministers der Finanzen von
der Tendenz der örtlichen Selbstverwaltung zu der allgemeinen Selbstverwaltung,
wenn es eines Beweises dafür heute noch bedurft hätte; uur daß der große


Line Denkschrift des Ministers Witte

die weitere These, beiß Selbstverwaltung und Staatsbureaukratie einander
wesentlich gegensätzlich gegenüber stünden. Diesen prinzipiellen Gegensatz hält
Witte nun für einen ausgiebigen Beweis gegen die Ersprießlichkeit einer gleich¬
zeitigen Thätigkeit beider Arten von Beamten, denn es kommt ihm gar nicht
in den Sinn, auch nnr zu untersuchen, ob das Vorhandensein eines solchen
Gegensatzes und der aus ihm folgende Kampf nicht an sich auch nützlich sein
könne. Widerstand gegen die oberste Stantsleitnng ist ihm an sich ein Übel,
das prinzipiell beseitigt werden muß. Er führt gegen die Selbstverwaltung
als eine Erfahrung ins Feld, daß es leichter sei, einen Gouverneur ein- und
abzusetzen, als ein gewähltes Stndthaupt, leichter, eine Anordnung irgend einer
staatlichen Behörde abzuändern, als den Beschluß einer Landschaft usw. Der
starre Bureaukrat charakterisiert sich hiermit genügend scharf. Aber alle solche
Bedenken treten doch zurück vor der drohenden Gefahr, aus der lokalen Selbst¬
verwaltung eine allgemeine Volksvertretung, eine Reichsverfassung nach euro¬
päischem Muster hervorgehn zu sehen. Und diese Gefahr recht deutlich zu
machen, läßt der Minister eine» langen Zug wissenschaftlicher Größen Europas
als Zeugen auftreten.

Es ist, sagt man, gewöhnlich, fast üblich, daß russische Münster und
Würdenträger in solchen Staatsschrifteu in der vollen Rüstung europäischer
Wissenschaft auftreten. Jedenfalls hat Witte in einer Anlage zu dieser Denk¬
schrift eine Sammlung gelehrter Quellen gegeben, zum Beweise des innigen
Zusammenhangs zwischen Selbstverwaltung und repräsentativer Staatsverfassung.
Er bedauert zwar die Kürze dieser Quelleusammluug; aber der kurze Abriß
dieser Sammlung, der einen großen Teil des Textes seiner Denkschrift um¬
faßt, ist allem schon ausreichend, über die Gelehrsamkeit Staunen zu erregen,
über die ein russischer Minister verfügt. Die gesamte staatsrechtliche Litteratur
Europas, die Verfassungen und Provinzialvrduuugeu und Kreisordnnngen
Deutschlands, Frankreichs, Englands, ja Rumäniens und Japans, die Ge¬
schichte der französischen Revolution und der Stein-Hardenbergischeu Reformen
bis auf die Vorgänge von 1848 und die Debatten im Reichstage von 1872 —
alle die Waffen des Geistes sind da, um — die enge Verbindung von
Selbstverwaltung und Konstitutionalismus zu beweisen. Allerdings scheint das
dringend nötig gewesen zu heilt gegenüber einem Minister, der seinerseits, ganz
auf Nnsseuschastlichem Boden stehend, aus der russischen Geschichte unchgewiesen
hatte, daß die örtliche Selbstverwaltung durch den ganzen Gang der russische»
Geschichte, durch die besondre gesellschaftliche Struktur und sogar durch die
geographische Lage im voraus angezeigt sei is. 1<>), und daß mit Ausucihme
eiuer kurzen Übergangszeit um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts die
büreaukratische Verwaltung niemals zur Grundlage des russischen Staatsbaues
gedient habe (S. 44). So überraschend diese Anschauungen des Ministers des
Jnnern siud, so überzeugend ist die Meinung des Ministers der Finanzen von
der Tendenz der örtlichen Selbstverwaltung zu der allgemeinen Selbstverwaltung,
wenn es eines Beweises dafür heute noch bedurft hätte; uur daß der große


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/252>, abgerufen am 23.07.2024.