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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Poesie und Politik

der es allgemein als eine Lust empfunden würde, "Deutscher mit Deutschen
zu sein."

Mit den riesigen Fortschritten des neunzehnten Jahrhunderts wurde auch
in Deutschland das Kulturleben bis in die engsten Kreise hinab mächtig ge¬
hoben und zugleich die natioualstaatliche Einigung aufs kräftigste gefördert.
Mit der in früher ungeahntem Maße erweiterten und vertieften Kenntnis und
Beherrschung der Naturkräfte, mit der um das Wunderbare hinanreichenden
technischen und industrielle" Entwicklung, mit dem schrankenlos ausgedehnten
und beschleunigten Verkehr, mit den vor keiner Aufgabe zurückschreckenden
sozialen Bildungen und Ausgestaltungen, die die menschliche Wohlfahrt nach
allen Verzweigungen ihrer mannigfaltigen Bedürfnisse erfassen, erschlossen sich
nicht allein dem praktischen Leben, sondern auch der Litteratur neue nationale
und Weltgebiete, die den erhabensten Genien früherer Geschlechter noch völlig
fremd gewesen waren. Wissenschaftliche Erkenntnis und technische Vervoll¬
kommnung förderten mit allen Kräften den humanen und den nationalen Fort¬
schritt, und die Poesie blieb nicht hinter der Aufgabe zurück, zu der großartigen
Entwicklung die Worte der Weihe zu sprechen, die höchsten Ziele der Kultur
zu verkünden und zu verkläre".

Die poetische Darstellung eines derartig erhöhten humanen und zugleich
nationalen Geisteslebens war keinem Schiller und Goethe möglich gewesein
sie konnte erst dnrch die spätern modernen Dichter verwirklicht werden. Ein
deutsches Nationallied wie "Deutschland, Deutschland über alles" konnte kein
Weimaraner vou 1800, sondern erst nach 1840 ein Hoffmann von Fallers-
leben dichte"; einen Mahnruf für die deutsche Flotte: "Erwach, mein Volk, mit
neuen Sinnen" erst Herwegh, eine Weissagung der deutschen Zukunft wie
"Am Baum der Menschheit drängt sich Blut an Blüte" erst Freiligrath, ein
Preislied auf Deutschland, das "Herzblatt der Weltenblüte," die "Völkerwehre,"
den "Stern der Ehre," das "Land des Rechtes, Land des Lichtes" erst Graf
Strachwitz dichten.

Daß die Entwicklung der politischen Poesie mit dem Fortschritt der all¬
gemeinen Kultur und des modernen Staatswesens zusammenhängt, zeigt sich
auch darin, daß dieselbe Erscheinung, mit den entsprechenden staatlichen und
nationalen Verschiedenheiten, bei den andern großen Kulturvölker" ebenfalls
beobachtet werden kann. Auf die politische Lyrik Deutschlands ist die Frank¬
reichs und Englands mehrfach von Einfluß gewesen, wie sich bei der nähern
Betrachtung einiger unsrer hervorragendsten Dichter der Zeit von 1840 bis
1850 klar herausstellt; wir meinen aber nicht, daß dadurch der Wert dieser
deutschen Dichtungen beeinträchtigt würde.

Wenn die Verächter und Verkleinerer unsrer damaligen politischen Lyrik
diese mit den? "Jungen Deutschland" der dreißiger Jahre in einen Topf werfen
und die gesamte angeblich revolutionäre Dichtung beider Jahrzehnte als eine
Abirrung vom wahren Kunstideal brandmarken, aus der sich erst in vollem
Gegensatz die deutsche Poesie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr-


Greiizboton II 1901 10
Poesie und Politik

der es allgemein als eine Lust empfunden würde, „Deutscher mit Deutschen
zu sein."

Mit den riesigen Fortschritten des neunzehnten Jahrhunderts wurde auch
in Deutschland das Kulturleben bis in die engsten Kreise hinab mächtig ge¬
hoben und zugleich die natioualstaatliche Einigung aufs kräftigste gefördert.
Mit der in früher ungeahntem Maße erweiterten und vertieften Kenntnis und
Beherrschung der Naturkräfte, mit der um das Wunderbare hinanreichenden
technischen und industrielle» Entwicklung, mit dem schrankenlos ausgedehnten
und beschleunigten Verkehr, mit den vor keiner Aufgabe zurückschreckenden
sozialen Bildungen und Ausgestaltungen, die die menschliche Wohlfahrt nach
allen Verzweigungen ihrer mannigfaltigen Bedürfnisse erfassen, erschlossen sich
nicht allein dem praktischen Leben, sondern auch der Litteratur neue nationale
und Weltgebiete, die den erhabensten Genien früherer Geschlechter noch völlig
fremd gewesen waren. Wissenschaftliche Erkenntnis und technische Vervoll¬
kommnung förderten mit allen Kräften den humanen und den nationalen Fort¬
schritt, und die Poesie blieb nicht hinter der Aufgabe zurück, zu der großartigen
Entwicklung die Worte der Weihe zu sprechen, die höchsten Ziele der Kultur
zu verkünden und zu verkläre».

Die poetische Darstellung eines derartig erhöhten humanen und zugleich
nationalen Geisteslebens war keinem Schiller und Goethe möglich gewesein
sie konnte erst dnrch die spätern modernen Dichter verwirklicht werden. Ein
deutsches Nationallied wie „Deutschland, Deutschland über alles" konnte kein
Weimaraner vou 1800, sondern erst nach 1840 ein Hoffmann von Fallers-
leben dichte»; einen Mahnruf für die deutsche Flotte: „Erwach, mein Volk, mit
neuen Sinnen" erst Herwegh, eine Weissagung der deutschen Zukunft wie
„Am Baum der Menschheit drängt sich Blut an Blüte" erst Freiligrath, ein
Preislied auf Deutschland, das „Herzblatt der Weltenblüte," die „Völkerwehre,"
den „Stern der Ehre," das „Land des Rechtes, Land des Lichtes" erst Graf
Strachwitz dichten.

Daß die Entwicklung der politischen Poesie mit dem Fortschritt der all¬
gemeinen Kultur und des modernen Staatswesens zusammenhängt, zeigt sich
auch darin, daß dieselbe Erscheinung, mit den entsprechenden staatlichen und
nationalen Verschiedenheiten, bei den andern großen Kulturvölker» ebenfalls
beobachtet werden kann. Auf die politische Lyrik Deutschlands ist die Frank¬
reichs und Englands mehrfach von Einfluß gewesen, wie sich bei der nähern
Betrachtung einiger unsrer hervorragendsten Dichter der Zeit von 1840 bis
1850 klar herausstellt; wir meinen aber nicht, daß dadurch der Wert dieser
deutschen Dichtungen beeinträchtigt würde.

Wenn die Verächter und Verkleinerer unsrer damaligen politischen Lyrik
diese mit den? „Jungen Deutschland" der dreißiger Jahre in einen Topf werfen
und die gesamte angeblich revolutionäre Dichtung beider Jahrzehnte als eine
Abirrung vom wahren Kunstideal brandmarken, aus der sich erst in vollem
Gegensatz die deutsche Poesie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr-


Greiizboton II 1901 10
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[0081] Poesie und Politik der es allgemein als eine Lust empfunden würde, „Deutscher mit Deutschen zu sein." Mit den riesigen Fortschritten des neunzehnten Jahrhunderts wurde auch in Deutschland das Kulturleben bis in die engsten Kreise hinab mächtig ge¬ hoben und zugleich die natioualstaatliche Einigung aufs kräftigste gefördert. Mit der in früher ungeahntem Maße erweiterten und vertieften Kenntnis und Beherrschung der Naturkräfte, mit der um das Wunderbare hinanreichenden technischen und industrielle» Entwicklung, mit dem schrankenlos ausgedehnten und beschleunigten Verkehr, mit den vor keiner Aufgabe zurückschreckenden sozialen Bildungen und Ausgestaltungen, die die menschliche Wohlfahrt nach allen Verzweigungen ihrer mannigfaltigen Bedürfnisse erfassen, erschlossen sich nicht allein dem praktischen Leben, sondern auch der Litteratur neue nationale und Weltgebiete, die den erhabensten Genien früherer Geschlechter noch völlig fremd gewesen waren. Wissenschaftliche Erkenntnis und technische Vervoll¬ kommnung förderten mit allen Kräften den humanen und den nationalen Fort¬ schritt, und die Poesie blieb nicht hinter der Aufgabe zurück, zu der großartigen Entwicklung die Worte der Weihe zu sprechen, die höchsten Ziele der Kultur zu verkünden und zu verkläre». Die poetische Darstellung eines derartig erhöhten humanen und zugleich nationalen Geisteslebens war keinem Schiller und Goethe möglich gewesein sie konnte erst dnrch die spätern modernen Dichter verwirklicht werden. Ein deutsches Nationallied wie „Deutschland, Deutschland über alles" konnte kein Weimaraner vou 1800, sondern erst nach 1840 ein Hoffmann von Fallers- leben dichte»; einen Mahnruf für die deutsche Flotte: „Erwach, mein Volk, mit neuen Sinnen" erst Herwegh, eine Weissagung der deutschen Zukunft wie „Am Baum der Menschheit drängt sich Blut an Blüte" erst Freiligrath, ein Preislied auf Deutschland, das „Herzblatt der Weltenblüte," die „Völkerwehre," den „Stern der Ehre," das „Land des Rechtes, Land des Lichtes" erst Graf Strachwitz dichten. Daß die Entwicklung der politischen Poesie mit dem Fortschritt der all¬ gemeinen Kultur und des modernen Staatswesens zusammenhängt, zeigt sich auch darin, daß dieselbe Erscheinung, mit den entsprechenden staatlichen und nationalen Verschiedenheiten, bei den andern großen Kulturvölker» ebenfalls beobachtet werden kann. Auf die politische Lyrik Deutschlands ist die Frank¬ reichs und Englands mehrfach von Einfluß gewesen, wie sich bei der nähern Betrachtung einiger unsrer hervorragendsten Dichter der Zeit von 1840 bis 1850 klar herausstellt; wir meinen aber nicht, daß dadurch der Wert dieser deutschen Dichtungen beeinträchtigt würde. Wenn die Verächter und Verkleinerer unsrer damaligen politischen Lyrik diese mit den? „Jungen Deutschland" der dreißiger Jahre in einen Topf werfen und die gesamte angeblich revolutionäre Dichtung beider Jahrzehnte als eine Abirrung vom wahren Kunstideal brandmarken, aus der sich erst in vollem Gegensatz die deutsche Poesie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr- Greiizboton II 1901 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/81>, abgerufen am 02.07.2024.