Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

ziehn? Bei dem eigentümliche", vielstich gehemmten und verzögerten Gang
unsrer nationalen Entwicklung hat es allerdings sehr lange gedauert, bis diese
natürliche Konsequenz unsrer geistigen Erhebung, Kräftigung und Einigung in
der Nationallitteratur auch nach dieser Richtung hin gezogen wurde. Hatte
auch schon Walther von der Vogelweide in der Blütezeit des alte" Reichs
von deutscher Größe und Ehre gesungen und das schneidige politische Gedicht
in unser Schrifttum eingeführt, so war doch seitdem unser Volk und Reich
jahrhundertelang zersplitternder und zerrüttender Ohnmacht verfallen, die den
nationalen Geist auch in der Litteratur nicht mehr zu würdigen: Ausdruck ge¬
langen ließ. Erst im achtzehnten Jahrhundert, als deutsches Staatswesen "uf
neuzeitlicher Grundlage wiederum erstarkte, und der große Preußentönig, den
alten Staufern ebenbürtig, den deutschen Namen aufs neue zu hohem Ausehen
erhob, wurde auch in der Litteratur der nationale Gedanke wieder kraftvoll
lebendig, und Klopstock führte in die deutsche Dichtung die Ideen des National¬
bewußtseins, der Vaterlands- und Freiheitsliebe zurück, die fortan unverlier¬
bare Leitsterne für unser nationallitterarisches wie für unser nationalpolitisches
Leben bleiben sollten.

In den letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts haben mit
Klopstock, Ewald von Kleist, Ramler, Gleim, Uz, Schubart, in den ersten des
neunzehnten Arndt, Körner, Rückert, Schenkendorf und die übrigen Dichter
der Freiheitskriege, ferner Romantiker wie Heinrich von Kleist, sodann die
Dichter der deutscheu Burschenschaft: die Brüder Follen, Binzer und Ma߬
mann, weiterhin Ludwig Uhland, Graf Platen, Gustav Pfizer und andre süd¬
deutsche Poeten, von norddeutschen Julius Mosen, August Kopisch die nationale
politische Lhrik mit kostbaren Gaben bereichert. Im Hinblick auf solche Leistungen
darf man behaupten, daß die politische Lyrik auch gegenüber unsern edelsten,
in ihrer humanistisch-universalen Höhe das deutsch-nationale Zeitgedicht weit
überragenden Klassikern Schiller und Goethe noch einen Fortschritt, eine Er¬
weiterung und Bereicherung des poetischen Kunstgebieth erzielt hat. Daß wir
bei Goethe noch viel mehr als bei Schiller die volle Würdigung und Wahrung
des deutschnationalen Wesens im politischen Sinne vermissen, ist nicht die
Schuld unsrer größten Dichter. Es lag vielmehr daran, daß in dem damaligen
Deutschland die nationale Einheit zumeist nur ans unserm Geistesleben in
Sprache und Litteratur beruhte, das staatliche Band des Reichs aber that¬
sächlich zerrissen und die Nation noch nicht zum politischen Bewußtsein heran¬
gereift war. In Weimar war um das Jahr 1800 el" national-staatliches
Ideal um so schwerer zu erfasse", als damals sogar auf Berlin nach dem
Aufschwung der Friederieianischen Zeit ein großer Druck lastete und nur noch
die stärksten Prenßenherzen das Ideal einer bessern deutschen Zukunft hoch
hielten. Im engen Rahmen des klcinstaatlichen Partikularismus war auch die
damalige allgemeine Kulturstufe des deutschen öffentlichen Lebens nicht geeignet,
nationalen Hochsinn und Weitblick zu fördern. Nur als unwahrscheinliche,
jedenfalls ferne Zukunftsmusik konnte der Dichterheros eine Zeit ahnen, in


ziehn? Bei dem eigentümliche», vielstich gehemmten und verzögerten Gang
unsrer nationalen Entwicklung hat es allerdings sehr lange gedauert, bis diese
natürliche Konsequenz unsrer geistigen Erhebung, Kräftigung und Einigung in
der Nationallitteratur auch nach dieser Richtung hin gezogen wurde. Hatte
auch schon Walther von der Vogelweide in der Blütezeit des alte» Reichs
von deutscher Größe und Ehre gesungen und das schneidige politische Gedicht
in unser Schrifttum eingeführt, so war doch seitdem unser Volk und Reich
jahrhundertelang zersplitternder und zerrüttender Ohnmacht verfallen, die den
nationalen Geist auch in der Litteratur nicht mehr zu würdigen: Ausdruck ge¬
langen ließ. Erst im achtzehnten Jahrhundert, als deutsches Staatswesen «uf
neuzeitlicher Grundlage wiederum erstarkte, und der große Preußentönig, den
alten Staufern ebenbürtig, den deutschen Namen aufs neue zu hohem Ausehen
erhob, wurde auch in der Litteratur der nationale Gedanke wieder kraftvoll
lebendig, und Klopstock führte in die deutsche Dichtung die Ideen des National¬
bewußtseins, der Vaterlands- und Freiheitsliebe zurück, die fortan unverlier¬
bare Leitsterne für unser nationallitterarisches wie für unser nationalpolitisches
Leben bleiben sollten.

In den letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts haben mit
Klopstock, Ewald von Kleist, Ramler, Gleim, Uz, Schubart, in den ersten des
neunzehnten Arndt, Körner, Rückert, Schenkendorf und die übrigen Dichter
der Freiheitskriege, ferner Romantiker wie Heinrich von Kleist, sodann die
Dichter der deutscheu Burschenschaft: die Brüder Follen, Binzer und Ma߬
mann, weiterhin Ludwig Uhland, Graf Platen, Gustav Pfizer und andre süd¬
deutsche Poeten, von norddeutschen Julius Mosen, August Kopisch die nationale
politische Lhrik mit kostbaren Gaben bereichert. Im Hinblick auf solche Leistungen
darf man behaupten, daß die politische Lyrik auch gegenüber unsern edelsten,
in ihrer humanistisch-universalen Höhe das deutsch-nationale Zeitgedicht weit
überragenden Klassikern Schiller und Goethe noch einen Fortschritt, eine Er¬
weiterung und Bereicherung des poetischen Kunstgebieth erzielt hat. Daß wir
bei Goethe noch viel mehr als bei Schiller die volle Würdigung und Wahrung
des deutschnationalen Wesens im politischen Sinne vermissen, ist nicht die
Schuld unsrer größten Dichter. Es lag vielmehr daran, daß in dem damaligen
Deutschland die nationale Einheit zumeist nur ans unserm Geistesleben in
Sprache und Litteratur beruhte, das staatliche Band des Reichs aber that¬
sächlich zerrissen und die Nation noch nicht zum politischen Bewußtsein heran¬
gereift war. In Weimar war um das Jahr 1800 el» national-staatliches
Ideal um so schwerer zu erfasse», als damals sogar auf Berlin nach dem
Aufschwung der Friederieianischen Zeit ein großer Druck lastete und nur noch
die stärksten Prenßenherzen das Ideal einer bessern deutschen Zukunft hoch
hielten. Im engen Rahmen des klcinstaatlichen Partikularismus war auch die
damalige allgemeine Kulturstufe des deutschen öffentlichen Lebens nicht geeignet,
nationalen Hochsinn und Weitblick zu fördern. Nur als unwahrscheinliche,
jedenfalls ferne Zukunftsmusik konnte der Dichterheros eine Zeit ahnen, in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0080" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/234610"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_204" prev="#ID_203"> ziehn? Bei dem eigentümliche», vielstich gehemmten und verzögerten Gang<lb/>
unsrer nationalen Entwicklung hat es allerdings sehr lange gedauert, bis diese<lb/>
natürliche Konsequenz unsrer geistigen Erhebung, Kräftigung und Einigung in<lb/>
der Nationallitteratur auch nach dieser Richtung hin gezogen wurde. Hatte<lb/>
auch schon Walther von der Vogelweide in der Blütezeit des alte» Reichs<lb/>
von deutscher Größe und Ehre gesungen und das schneidige politische Gedicht<lb/>
in unser Schrifttum eingeführt, so war doch seitdem unser Volk und Reich<lb/>
jahrhundertelang zersplitternder und zerrüttender Ohnmacht verfallen, die den<lb/>
nationalen Geist auch in der Litteratur nicht mehr zu würdigen: Ausdruck ge¬<lb/>
langen ließ. Erst im achtzehnten Jahrhundert, als deutsches Staatswesen «uf<lb/>
neuzeitlicher Grundlage wiederum erstarkte, und der große Preußentönig, den<lb/>
alten Staufern ebenbürtig, den deutschen Namen aufs neue zu hohem Ausehen<lb/>
erhob, wurde auch in der Litteratur der nationale Gedanke wieder kraftvoll<lb/>
lebendig, und Klopstock führte in die deutsche Dichtung die Ideen des National¬<lb/>
bewußtseins, der Vaterlands- und Freiheitsliebe zurück, die fortan unverlier¬<lb/>
bare Leitsterne für unser nationallitterarisches wie für unser nationalpolitisches<lb/>
Leben bleiben sollten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_205" next="#ID_206"> In den letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts haben mit<lb/>
Klopstock, Ewald von Kleist, Ramler, Gleim, Uz, Schubart, in den ersten des<lb/>
neunzehnten Arndt, Körner, Rückert, Schenkendorf und die übrigen Dichter<lb/>
der Freiheitskriege, ferner Romantiker wie Heinrich von Kleist, sodann die<lb/>
Dichter der deutscheu Burschenschaft: die Brüder Follen, Binzer und Ma߬<lb/>
mann, weiterhin Ludwig Uhland, Graf Platen, Gustav Pfizer und andre süd¬<lb/>
deutsche Poeten, von norddeutschen Julius Mosen, August Kopisch die nationale<lb/>
politische Lhrik mit kostbaren Gaben bereichert. Im Hinblick auf solche Leistungen<lb/>
darf man behaupten, daß die politische Lyrik auch gegenüber unsern edelsten,<lb/>
in ihrer humanistisch-universalen Höhe das deutsch-nationale Zeitgedicht weit<lb/>
überragenden Klassikern Schiller und Goethe noch einen Fortschritt, eine Er¬<lb/>
weiterung und Bereicherung des poetischen Kunstgebieth erzielt hat. Daß wir<lb/>
bei Goethe noch viel mehr als bei Schiller die volle Würdigung und Wahrung<lb/>
des deutschnationalen Wesens im politischen Sinne vermissen, ist nicht die<lb/>
Schuld unsrer größten Dichter. Es lag vielmehr daran, daß in dem damaligen<lb/>
Deutschland die nationale Einheit zumeist nur ans unserm Geistesleben in<lb/>
Sprache und Litteratur beruhte, das staatliche Band des Reichs aber that¬<lb/>
sächlich zerrissen und die Nation noch nicht zum politischen Bewußtsein heran¬<lb/>
gereift war. In Weimar war um das Jahr 1800 el» national-staatliches<lb/>
Ideal um so schwerer zu erfasse», als damals sogar auf Berlin nach dem<lb/>
Aufschwung der Friederieianischen Zeit ein großer Druck lastete und nur noch<lb/>
die stärksten Prenßenherzen das Ideal einer bessern deutschen Zukunft hoch<lb/>
hielten. Im engen Rahmen des klcinstaatlichen Partikularismus war auch die<lb/>
damalige allgemeine Kulturstufe des deutschen öffentlichen Lebens nicht geeignet,<lb/>
nationalen Hochsinn und Weitblick zu fördern. Nur als unwahrscheinliche,<lb/>
jedenfalls ferne Zukunftsmusik konnte der Dichterheros eine Zeit ahnen, in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0080] ziehn? Bei dem eigentümliche», vielstich gehemmten und verzögerten Gang unsrer nationalen Entwicklung hat es allerdings sehr lange gedauert, bis diese natürliche Konsequenz unsrer geistigen Erhebung, Kräftigung und Einigung in der Nationallitteratur auch nach dieser Richtung hin gezogen wurde. Hatte auch schon Walther von der Vogelweide in der Blütezeit des alte» Reichs von deutscher Größe und Ehre gesungen und das schneidige politische Gedicht in unser Schrifttum eingeführt, so war doch seitdem unser Volk und Reich jahrhundertelang zersplitternder und zerrüttender Ohnmacht verfallen, die den nationalen Geist auch in der Litteratur nicht mehr zu würdigen: Ausdruck ge¬ langen ließ. Erst im achtzehnten Jahrhundert, als deutsches Staatswesen «uf neuzeitlicher Grundlage wiederum erstarkte, und der große Preußentönig, den alten Staufern ebenbürtig, den deutschen Namen aufs neue zu hohem Ausehen erhob, wurde auch in der Litteratur der nationale Gedanke wieder kraftvoll lebendig, und Klopstock führte in die deutsche Dichtung die Ideen des National¬ bewußtseins, der Vaterlands- und Freiheitsliebe zurück, die fortan unverlier¬ bare Leitsterne für unser nationallitterarisches wie für unser nationalpolitisches Leben bleiben sollten. In den letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts haben mit Klopstock, Ewald von Kleist, Ramler, Gleim, Uz, Schubart, in den ersten des neunzehnten Arndt, Körner, Rückert, Schenkendorf und die übrigen Dichter der Freiheitskriege, ferner Romantiker wie Heinrich von Kleist, sodann die Dichter der deutscheu Burschenschaft: die Brüder Follen, Binzer und Ma߬ mann, weiterhin Ludwig Uhland, Graf Platen, Gustav Pfizer und andre süd¬ deutsche Poeten, von norddeutschen Julius Mosen, August Kopisch die nationale politische Lhrik mit kostbaren Gaben bereichert. Im Hinblick auf solche Leistungen darf man behaupten, daß die politische Lyrik auch gegenüber unsern edelsten, in ihrer humanistisch-universalen Höhe das deutsch-nationale Zeitgedicht weit überragenden Klassikern Schiller und Goethe noch einen Fortschritt, eine Er¬ weiterung und Bereicherung des poetischen Kunstgebieth erzielt hat. Daß wir bei Goethe noch viel mehr als bei Schiller die volle Würdigung und Wahrung des deutschnationalen Wesens im politischen Sinne vermissen, ist nicht die Schuld unsrer größten Dichter. Es lag vielmehr daran, daß in dem damaligen Deutschland die nationale Einheit zumeist nur ans unserm Geistesleben in Sprache und Litteratur beruhte, das staatliche Band des Reichs aber that¬ sächlich zerrissen und die Nation noch nicht zum politischen Bewußtsein heran¬ gereift war. In Weimar war um das Jahr 1800 el» national-staatliches Ideal um so schwerer zu erfasse», als damals sogar auf Berlin nach dem Aufschwung der Friederieianischen Zeit ein großer Druck lastete und nur noch die stärksten Prenßenherzen das Ideal einer bessern deutschen Zukunft hoch hielten. Im engen Rahmen des klcinstaatlichen Partikularismus war auch die damalige allgemeine Kulturstufe des deutschen öffentlichen Lebens nicht geeignet, nationalen Hochsinn und Weitblick zu fördern. Nur als unwahrscheinliche, jedenfalls ferne Zukunftsmusik konnte der Dichterheros eine Zeit ahnen, in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/80
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/80>, abgerufen am 02.07.2024.