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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Poesie und z)o!iUt

danke nur in seltnen Ausnahmen Anregung, Motiv und Stoff zu den
Schöpfungen unsrer Dichter boten. War Deutschland, wie es im Deutschen
Bunde vou 1815 zusammengefaßt war, nicht viel mehr als ein geographischer
Begriff, kein wirklicher Staatsverband, so war schon dadurch dem deutschen
Doktrinarismus kein Anlaß gegeben, seine ideologischen Gebilde in den wissen¬
schaftlichen und künstlerischen Bereichen durch Beziehungen ans bisher unan-
gebaute und unde.achtete Gebiete des sich erst allmählich entfaltenden politischen
Lebens zu vervollständigen und zu berichtigen. Bis in die dreißiger Jahre
des neunzehnten Jahrhunderts konnte die ästhetische Theorie anscheinend mit
genügenden Gründen die Berechtigung einer politischen Lyrik bestreiten oder
ganz ignorieren. Eine poetische Behandlung staatlicher und zeitgeschichtlicher
Angelegenheiten erschien den meisten Fachgelehrten ästhetisch unzulässig: mit
dergleichen Dingen sollten sich nur die Parlamentarier und die Publizisten,
vor allen die des Auslands zu schaffen machen. Sollte die politische Poesie,
wie ein für sie begeisterter Anwalt (in der "Deutschen Monatsschrift" von 1842)
behauptete, wohl gar "der Atemzug der Männer, der Jude^- oder Weheruf
einer aufgeregten Zeit, das Spiegelbild innerer und äußerlicher nationaler
Zustände, ja auch eine Geschichte vou Völkern und Individuen" sein, so war
sie für die Ästhetiker erst recht keine kunstgerechte Poesie.

Wie sich von selbst versteht, muß den Kunstgelehrten von vornherein zu¬
gegeben werden, daß politisches vratorisches Phrasengeklingel und gereimte
Leitartikel nicht als Blüten lyrischer Poesie gelten können. Nicht minder ist
einzuräumen, daß in der Sturm- und Drangdichtung politisch bewegter Zeiten,
wie namentlich des vielberufnen "tollen Jahres" 1848 und seiner nächsten
Vorgänger, viele taube Nüsse zum Vorschein kommen, aus deuen das littera¬
rische Leben so wenig wie das nationale eine Befruchtung gewinnen konnte.
In der Hochflut verifizierter Gefühlsergüsse, die solche Zeitabschnitte entfesseln,
steht sogar der poetische Wert mancher Erzeugnisse noch unter dem politischen,
so gering wir oft auch diesem schätzen müssen.

Ist die Lyrik die Gnttnng der Dichtkunst, worin innerliches Empfinden
in geistiger Sammlung und Erhebung durch sprachlich und metrisch künstlerische
Fassung und Darstellung seinen idealen Ausdruck findet, so wird in, lyrische"
Gedichte nicht allein allgemein und individuell menschliches Empfinden von
Lenz und Liebe, Glück und Leid, Genuß und Begierde, Sehnsucht und Wehmut
seine kunstmäßige Ausprägung suchen und finden: auch dem Gefühl für Vater¬
land und Freiheit, für Recht und Staat, für Macht und Ehre der Nation
wird im lyrischen Gedichte dasselbe Recht zustehn. Und das weite Gebiet der
betrachtenden, schildernden, belehrenden Lyrik, sowie das der lyrisch-epischen
Mischgattungen, wo sich die poetischen Stoffe in Heimat und Fremde dem
Seher und Sänger zahllos entgegen drängen -- welcher ästhetische Kritiker
würde es heute noch wagen, dieses große Reich poetischer Objekte von der
dichterischen Behandlung auszuschließen oder für sie einzuschränken und die
volle Berechtigung der daran reich beteiligten politischen Lyrik in Zweifel zu


Poesie und z)o!iUt

danke nur in seltnen Ausnahmen Anregung, Motiv und Stoff zu den
Schöpfungen unsrer Dichter boten. War Deutschland, wie es im Deutschen
Bunde vou 1815 zusammengefaßt war, nicht viel mehr als ein geographischer
Begriff, kein wirklicher Staatsverband, so war schon dadurch dem deutschen
Doktrinarismus kein Anlaß gegeben, seine ideologischen Gebilde in den wissen¬
schaftlichen und künstlerischen Bereichen durch Beziehungen ans bisher unan-
gebaute und unde.achtete Gebiete des sich erst allmählich entfaltenden politischen
Lebens zu vervollständigen und zu berichtigen. Bis in die dreißiger Jahre
des neunzehnten Jahrhunderts konnte die ästhetische Theorie anscheinend mit
genügenden Gründen die Berechtigung einer politischen Lyrik bestreiten oder
ganz ignorieren. Eine poetische Behandlung staatlicher und zeitgeschichtlicher
Angelegenheiten erschien den meisten Fachgelehrten ästhetisch unzulässig: mit
dergleichen Dingen sollten sich nur die Parlamentarier und die Publizisten,
vor allen die des Auslands zu schaffen machen. Sollte die politische Poesie,
wie ein für sie begeisterter Anwalt (in der „Deutschen Monatsschrift" von 1842)
behauptete, wohl gar „der Atemzug der Männer, der Jude^- oder Weheruf
einer aufgeregten Zeit, das Spiegelbild innerer und äußerlicher nationaler
Zustände, ja auch eine Geschichte vou Völkern und Individuen" sein, so war
sie für die Ästhetiker erst recht keine kunstgerechte Poesie.

Wie sich von selbst versteht, muß den Kunstgelehrten von vornherein zu¬
gegeben werden, daß politisches vratorisches Phrasengeklingel und gereimte
Leitartikel nicht als Blüten lyrischer Poesie gelten können. Nicht minder ist
einzuräumen, daß in der Sturm- und Drangdichtung politisch bewegter Zeiten,
wie namentlich des vielberufnen „tollen Jahres" 1848 und seiner nächsten
Vorgänger, viele taube Nüsse zum Vorschein kommen, aus deuen das littera¬
rische Leben so wenig wie das nationale eine Befruchtung gewinnen konnte.
In der Hochflut verifizierter Gefühlsergüsse, die solche Zeitabschnitte entfesseln,
steht sogar der poetische Wert mancher Erzeugnisse noch unter dem politischen,
so gering wir oft auch diesem schätzen müssen.

Ist die Lyrik die Gnttnng der Dichtkunst, worin innerliches Empfinden
in geistiger Sammlung und Erhebung durch sprachlich und metrisch künstlerische
Fassung und Darstellung seinen idealen Ausdruck findet, so wird in, lyrische»
Gedichte nicht allein allgemein und individuell menschliches Empfinden von
Lenz und Liebe, Glück und Leid, Genuß und Begierde, Sehnsucht und Wehmut
seine kunstmäßige Ausprägung suchen und finden: auch dem Gefühl für Vater¬
land und Freiheit, für Recht und Staat, für Macht und Ehre der Nation
wird im lyrischen Gedichte dasselbe Recht zustehn. Und das weite Gebiet der
betrachtenden, schildernden, belehrenden Lyrik, sowie das der lyrisch-epischen
Mischgattungen, wo sich die poetischen Stoffe in Heimat und Fremde dem
Seher und Sänger zahllos entgegen drängen — welcher ästhetische Kritiker
würde es heute noch wagen, dieses große Reich poetischer Objekte von der
dichterischen Behandlung auszuschließen oder für sie einzuschränken und die
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[0079] Poesie und z)o!iUt danke nur in seltnen Ausnahmen Anregung, Motiv und Stoff zu den Schöpfungen unsrer Dichter boten. War Deutschland, wie es im Deutschen Bunde vou 1815 zusammengefaßt war, nicht viel mehr als ein geographischer Begriff, kein wirklicher Staatsverband, so war schon dadurch dem deutschen Doktrinarismus kein Anlaß gegeben, seine ideologischen Gebilde in den wissen¬ schaftlichen und künstlerischen Bereichen durch Beziehungen ans bisher unan- gebaute und unde.achtete Gebiete des sich erst allmählich entfaltenden politischen Lebens zu vervollständigen und zu berichtigen. Bis in die dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts konnte die ästhetische Theorie anscheinend mit genügenden Gründen die Berechtigung einer politischen Lyrik bestreiten oder ganz ignorieren. Eine poetische Behandlung staatlicher und zeitgeschichtlicher Angelegenheiten erschien den meisten Fachgelehrten ästhetisch unzulässig: mit dergleichen Dingen sollten sich nur die Parlamentarier und die Publizisten, vor allen die des Auslands zu schaffen machen. Sollte die politische Poesie, wie ein für sie begeisterter Anwalt (in der „Deutschen Monatsschrift" von 1842) behauptete, wohl gar „der Atemzug der Männer, der Jude^- oder Weheruf einer aufgeregten Zeit, das Spiegelbild innerer und äußerlicher nationaler Zustände, ja auch eine Geschichte vou Völkern und Individuen" sein, so war sie für die Ästhetiker erst recht keine kunstgerechte Poesie. Wie sich von selbst versteht, muß den Kunstgelehrten von vornherein zu¬ gegeben werden, daß politisches vratorisches Phrasengeklingel und gereimte Leitartikel nicht als Blüten lyrischer Poesie gelten können. Nicht minder ist einzuräumen, daß in der Sturm- und Drangdichtung politisch bewegter Zeiten, wie namentlich des vielberufnen „tollen Jahres" 1848 und seiner nächsten Vorgänger, viele taube Nüsse zum Vorschein kommen, aus deuen das littera¬ rische Leben so wenig wie das nationale eine Befruchtung gewinnen konnte. In der Hochflut verifizierter Gefühlsergüsse, die solche Zeitabschnitte entfesseln, steht sogar der poetische Wert mancher Erzeugnisse noch unter dem politischen, so gering wir oft auch diesem schätzen müssen. Ist die Lyrik die Gnttnng der Dichtkunst, worin innerliches Empfinden in geistiger Sammlung und Erhebung durch sprachlich und metrisch künstlerische Fassung und Darstellung seinen idealen Ausdruck findet, so wird in, lyrische» Gedichte nicht allein allgemein und individuell menschliches Empfinden von Lenz und Liebe, Glück und Leid, Genuß und Begierde, Sehnsucht und Wehmut seine kunstmäßige Ausprägung suchen und finden: auch dem Gefühl für Vater¬ land und Freiheit, für Recht und Staat, für Macht und Ehre der Nation wird im lyrischen Gedichte dasselbe Recht zustehn. Und das weite Gebiet der betrachtenden, schildernden, belehrenden Lyrik, sowie das der lyrisch-epischen Mischgattungen, wo sich die poetischen Stoffe in Heimat und Fremde dem Seher und Sänger zahllos entgegen drängen — welcher ästhetische Kritiker würde es heute noch wagen, dieses große Reich poetischer Objekte von der dichterischen Behandlung auszuschließen oder für sie einzuschränken und die volle Berechtigung der daran reich beteiligten politischen Lyrik in Zweifel zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/79>, abgerufen am 02.07.2024.