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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Poesie und Politik

politischen Lyrik von 1840 bis 1850 beteiligt sind, ist bei weitem nicht so be¬
kannt, wie es sein sollte, und eine eingehendere, die bedeutsamem Zeitgedichte
den heutigen Modernen und Übermenschen vorführende Darstellung der meist
sehr unterschätzten Periode unsrer vaterländischen Dichtung wird hoffentlich
nicht ganz verloren sein. Wenn die politische Poesie dieser Zeit zum großen
Teil auch nur die negative Form einer Kritik der mangelhaften politischen
Zustände des damaligen Deutschen Bundes zeigt, so enthält sie doch auch recht
Positives, wo es sich um die Entfaltung des Banners der nationalen Einigung
und des liberalen Fortschritts im staatlichen und gesellschaftlichen Leben handelt.
Hierin hat die politische Poesie dieses Jahrzehnts das zeitgenössische und das
heranwachsende Geschlecht kräftig angeregt und angefeuert und hat auf diesen"
Wege mächtig dazu beigetragen, den geistig sittlichen Boden zu bereiten, auf
dem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts unter König Wilhelm durch die
aller Gegnerschaft überlegne Führung Bismarcks das neue Deutsche Reich
Wurzel fassen, sich erheben, vollenden und befestigen konnte. In diesem Sinne
liefert die Darstellung der politischen Lyrik von 1840 bis 1850 einen er¬
gänzenden Beitrag zur Geschichte der Grundlegung des Deutschen Reichs.

Die Ursachen, warum die politische Lyrik der vierziger Jahre des neun¬
zehnten Jahrhunderts die verdiente Aufmerksamkeit bisher nicht in vollen"
Maße gefunden hat, lassen sich leicht erkennen, Sie sind einerseits politischer,
andrerseits ästhetischer Natur, Im vormärzlichen Deutschland und bis weit
in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinein waren anch in den
gebildeten Schichten unsrer Nation wahre politische Einsicht und Gesinnung,
wie sie zur richtigen Schätzung der für staatliches Wesen maßgebenden Kräfte
nötig ist, noch wenig vorhanden. Die realpolitischen Grundbegriffe waren
außer den Fachmännern nur wenigen vertraut, und die thatsächlichen Zustände
des Staatswesens konnten das politische Gefühl wenig erheben. Sogar in
dem deutschen Hoffnnngsstaate Preußen waren ja so elementare Forderungen
des nationalen Kulturstaats wie Konstitution und Parlament bis in die vierziger
Jahre ohne Verwirklichung geblieben. Daß trotzdem in dem von höhern poli¬
tischen Anregungen aufgeschlossenem Bürgertum des bundestägigen Deutschlands
die Kraft zu vollem Staatsbewußtsein und wahrhaft vaterländischer Gesinnung
schlummerte, hatten nur schärfere und freiere Geister klar erkannt.

Andrerseits war die ästhetische Kritik noch weniger als heute geneigt, die
Berechtigung einer politischen Poesie anzuerkennen. Trotz aller Gelehrsamkeit
unsrer deutschen Philologen, trotz der klassischen Vorbilder von Pindar und
Tyrtäus, trotz der großen nationalpolitischen Dichtergenien des Mittelalters
war der vielberufne so oft falsch zitierte - - Vers aus Goethes Faust:
"Ein garstig Lied! pfui! ein politisch Lied!" das weitverbreitete Glaubens¬
bekenntnis schulgerechter Schönseligkeit unsrer ästhetisch Gebildeten. Die Blüte¬
zeit unsrer klassischen wie unsrer romantischen Poesie fiel ja bekanntlich in eine
Periode der staatlichen Zerrissenheit und Ohnmacht des deutschen Vaterlands,
und es war nicht zu verwundern, daß die Zeitgeschichte und der nationale Ge-


Poesie und Politik

politischen Lyrik von 1840 bis 1850 beteiligt sind, ist bei weitem nicht so be¬
kannt, wie es sein sollte, und eine eingehendere, die bedeutsamem Zeitgedichte
den heutigen Modernen und Übermenschen vorführende Darstellung der meist
sehr unterschätzten Periode unsrer vaterländischen Dichtung wird hoffentlich
nicht ganz verloren sein. Wenn die politische Poesie dieser Zeit zum großen
Teil auch nur die negative Form einer Kritik der mangelhaften politischen
Zustände des damaligen Deutschen Bundes zeigt, so enthält sie doch auch recht
Positives, wo es sich um die Entfaltung des Banners der nationalen Einigung
und des liberalen Fortschritts im staatlichen und gesellschaftlichen Leben handelt.
Hierin hat die politische Poesie dieses Jahrzehnts das zeitgenössische und das
heranwachsende Geschlecht kräftig angeregt und angefeuert und hat auf diesen»
Wege mächtig dazu beigetragen, den geistig sittlichen Boden zu bereiten, auf
dem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts unter König Wilhelm durch die
aller Gegnerschaft überlegne Führung Bismarcks das neue Deutsche Reich
Wurzel fassen, sich erheben, vollenden und befestigen konnte. In diesem Sinne
liefert die Darstellung der politischen Lyrik von 1840 bis 1850 einen er¬
gänzenden Beitrag zur Geschichte der Grundlegung des Deutschen Reichs.

Die Ursachen, warum die politische Lyrik der vierziger Jahre des neun¬
zehnten Jahrhunderts die verdiente Aufmerksamkeit bisher nicht in vollen«
Maße gefunden hat, lassen sich leicht erkennen, Sie sind einerseits politischer,
andrerseits ästhetischer Natur, Im vormärzlichen Deutschland und bis weit
in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinein waren anch in den
gebildeten Schichten unsrer Nation wahre politische Einsicht und Gesinnung,
wie sie zur richtigen Schätzung der für staatliches Wesen maßgebenden Kräfte
nötig ist, noch wenig vorhanden. Die realpolitischen Grundbegriffe waren
außer den Fachmännern nur wenigen vertraut, und die thatsächlichen Zustände
des Staatswesens konnten das politische Gefühl wenig erheben. Sogar in
dem deutschen Hoffnnngsstaate Preußen waren ja so elementare Forderungen
des nationalen Kulturstaats wie Konstitution und Parlament bis in die vierziger
Jahre ohne Verwirklichung geblieben. Daß trotzdem in dem von höhern poli¬
tischen Anregungen aufgeschlossenem Bürgertum des bundestägigen Deutschlands
die Kraft zu vollem Staatsbewußtsein und wahrhaft vaterländischer Gesinnung
schlummerte, hatten nur schärfere und freiere Geister klar erkannt.

Andrerseits war die ästhetische Kritik noch weniger als heute geneigt, die
Berechtigung einer politischen Poesie anzuerkennen. Trotz aller Gelehrsamkeit
unsrer deutschen Philologen, trotz der klassischen Vorbilder von Pindar und
Tyrtäus, trotz der großen nationalpolitischen Dichtergenien des Mittelalters
war der vielberufne so oft falsch zitierte - - Vers aus Goethes Faust:
„Ein garstig Lied! pfui! ein politisch Lied!" das weitverbreitete Glaubens¬
bekenntnis schulgerechter Schönseligkeit unsrer ästhetisch Gebildeten. Die Blüte¬
zeit unsrer klassischen wie unsrer romantischen Poesie fiel ja bekanntlich in eine
Periode der staatlichen Zerrissenheit und Ohnmacht des deutschen Vaterlands,
und es war nicht zu verwundern, daß die Zeitgeschichte und der nationale Ge-


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[0078] Poesie und Politik politischen Lyrik von 1840 bis 1850 beteiligt sind, ist bei weitem nicht so be¬ kannt, wie es sein sollte, und eine eingehendere, die bedeutsamem Zeitgedichte den heutigen Modernen und Übermenschen vorführende Darstellung der meist sehr unterschätzten Periode unsrer vaterländischen Dichtung wird hoffentlich nicht ganz verloren sein. Wenn die politische Poesie dieser Zeit zum großen Teil auch nur die negative Form einer Kritik der mangelhaften politischen Zustände des damaligen Deutschen Bundes zeigt, so enthält sie doch auch recht Positives, wo es sich um die Entfaltung des Banners der nationalen Einigung und des liberalen Fortschritts im staatlichen und gesellschaftlichen Leben handelt. Hierin hat die politische Poesie dieses Jahrzehnts das zeitgenössische und das heranwachsende Geschlecht kräftig angeregt und angefeuert und hat auf diesen» Wege mächtig dazu beigetragen, den geistig sittlichen Boden zu bereiten, auf dem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts unter König Wilhelm durch die aller Gegnerschaft überlegne Führung Bismarcks das neue Deutsche Reich Wurzel fassen, sich erheben, vollenden und befestigen konnte. In diesem Sinne liefert die Darstellung der politischen Lyrik von 1840 bis 1850 einen er¬ gänzenden Beitrag zur Geschichte der Grundlegung des Deutschen Reichs. Die Ursachen, warum die politische Lyrik der vierziger Jahre des neun¬ zehnten Jahrhunderts die verdiente Aufmerksamkeit bisher nicht in vollen« Maße gefunden hat, lassen sich leicht erkennen, Sie sind einerseits politischer, andrerseits ästhetischer Natur, Im vormärzlichen Deutschland und bis weit in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinein waren anch in den gebildeten Schichten unsrer Nation wahre politische Einsicht und Gesinnung, wie sie zur richtigen Schätzung der für staatliches Wesen maßgebenden Kräfte nötig ist, noch wenig vorhanden. Die realpolitischen Grundbegriffe waren außer den Fachmännern nur wenigen vertraut, und die thatsächlichen Zustände des Staatswesens konnten das politische Gefühl wenig erheben. Sogar in dem deutschen Hoffnnngsstaate Preußen waren ja so elementare Forderungen des nationalen Kulturstaats wie Konstitution und Parlament bis in die vierziger Jahre ohne Verwirklichung geblieben. Daß trotzdem in dem von höhern poli¬ tischen Anregungen aufgeschlossenem Bürgertum des bundestägigen Deutschlands die Kraft zu vollem Staatsbewußtsein und wahrhaft vaterländischer Gesinnung schlummerte, hatten nur schärfere und freiere Geister klar erkannt. Andrerseits war die ästhetische Kritik noch weniger als heute geneigt, die Berechtigung einer politischen Poesie anzuerkennen. Trotz aller Gelehrsamkeit unsrer deutschen Philologen, trotz der klassischen Vorbilder von Pindar und Tyrtäus, trotz der großen nationalpolitischen Dichtergenien des Mittelalters war der vielberufne so oft falsch zitierte - - Vers aus Goethes Faust: „Ein garstig Lied! pfui! ein politisch Lied!" das weitverbreitete Glaubens¬ bekenntnis schulgerechter Schönseligkeit unsrer ästhetisch Gebildeten. Die Blüte¬ zeit unsrer klassischen wie unsrer romantischen Poesie fiel ja bekanntlich in eine Periode der staatlichen Zerrissenheit und Ohnmacht des deutschen Vaterlands, und es war nicht zu verwundern, daß die Zeitgeschichte und der nationale Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/78>, abgerufen am 01.07.2024.