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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Ideal näher, die ander" ihm ferner stehn, sondern daß dieses Ideal, mag es
auch an seinem jenseitigen Ursprungsorte nach christlicher Vorstellung eines sein
und nicht eine platonische Vielheit vou Ideen, in unserm irdischen Menschen
leben "ur in eine Vielheit gebrochen vorhanden ist. Ein absolut vollkommner
Mensch, der in allen Lebenslagen, als Herr und als Knecht, als General und
als Gemeiner, als Offizier und als Kaufmann, als Diplomat und als Pfarrer,
als Geheimpolizist oder Advokat und als Lehrer gleich vollkommen Märe, ist
undenkbar, ist schon physisch unmöglich, weil der Jdealmensch auch zugleich
Kind und Mann, Mann und Weib, verheiratet und ledig sein müßte. Darum
ist es kein Rückschritt gewesen, daß Herbart das sittliche Ideal in eine Mehrheit
von Ideen aufgelöst hat, die nicht alle zugleich und uicht alle vou einem
und demselben Menschen, wenigstens nicht in demselben Grade verwirklicht
werden können; daß sich Herbart mit der Ableitung der einen seiner sittlichen
Ideen (die Idee des Rechts soll daraus entspringen, daß der Streit mißfällt)
lächerlich gemacht hat, und daß seine Ethik den Gegenstand nicht erschöpft,
sondern nur die Forschung auf den richtigen Weg leitet, soll dabei nicht in
Abrede gestellt werden. Wie die Moral aus dein rein Subjektiven, Formaten
und Instinktiven heraus und zu einem objektiven Inhalt gekommen ist, erzählt
Liebmann mit den Worten: "Seher und Weise, Propheten, Gesetzgeber und
Religionsstifter alter und neuer Zeit haben ihrer Nation und der Menschheit
Wege gewiesen, auf denen sie hinschreiten soll, Vorschriften gegeben, nach denen
sie sich richten soll, Gebote und Verbote, die sie heilig halten soll. Sie haben
dies gethan, ihrem sittlichen Takt und Instinkt, ihrem moralischen Werturteil,
d. h. der Stimme ihres Gewissens gehorchend, die sie teilweise, von der un-
antastbaren Heiligkeit ihrer Borschriften überzeugt, einer dem Daimouiou des
Sokrates blutsverwandten höhern Eingebung und göttlichen Offenbarung zu¬
schreibe!? zu müssen glaubten; sich selbst als Sprachrohr und Sendboten des
unendlich unbekannten Weltwesens erkennend." Daß der kategorische Imperativ,
wie jedes Apriori, auf dieses Weltwesen als seine Wurzel deutlich hinweist,
kann natürlich auch Liebmann nicht unausgesprochen lassen, aber er macht die
Sache, seinem kritischen Grundsatz gemäß, sehr kurz ab. "Giebt es eine ab¬
solute Ethik? Man muß daran glauben; denn der Glaube ist es auch hier,
der selig macht; und jeder echt und tief moralisch denkende Mensch glaubt
thatsächlich daran. Dieser Glaube aber enthält in sich versteckt die Idee einer
transzendenten Teleologie, die weit über alle Erfahrung, über Natur und
Geschichte hinausreichend in das dunkle Reich metaphysischer Welträtsel hin¬
übergreife." So ganz transzendent ist diese Teleologie doch nicht; wir er¬
kennen deutlich genug, daß die Verwirklichung der sittlichen Ideen im ganzen
aufbauend und erhaltend, das Gegenteil zerstörend wirkt, wenn auch im einzelnen
Tugend und edle Gesinnung häusig schaden, gewissenloses Handeln (aber nie¬
mals ein Laster) nützt. Es ist damit so wie rin Frost, Hitze, Sturm, Wasser und
allen Naturmächten, die "wütend eine Kette der tiefsten Wirkung ringsumher"
bilden, viel einzelnes zerstörend, während sie im ganzen die organische Welt


Ideal näher, die ander» ihm ferner stehn, sondern daß dieses Ideal, mag es
auch an seinem jenseitigen Ursprungsorte nach christlicher Vorstellung eines sein
und nicht eine platonische Vielheit vou Ideen, in unserm irdischen Menschen
leben »ur in eine Vielheit gebrochen vorhanden ist. Ein absolut vollkommner
Mensch, der in allen Lebenslagen, als Herr und als Knecht, als General und
als Gemeiner, als Offizier und als Kaufmann, als Diplomat und als Pfarrer,
als Geheimpolizist oder Advokat und als Lehrer gleich vollkommen Märe, ist
undenkbar, ist schon physisch unmöglich, weil der Jdealmensch auch zugleich
Kind und Mann, Mann und Weib, verheiratet und ledig sein müßte. Darum
ist es kein Rückschritt gewesen, daß Herbart das sittliche Ideal in eine Mehrheit
von Ideen aufgelöst hat, die nicht alle zugleich und uicht alle vou einem
und demselben Menschen, wenigstens nicht in demselben Grade verwirklicht
werden können; daß sich Herbart mit der Ableitung der einen seiner sittlichen
Ideen (die Idee des Rechts soll daraus entspringen, daß der Streit mißfällt)
lächerlich gemacht hat, und daß seine Ethik den Gegenstand nicht erschöpft,
sondern nur die Forschung auf den richtigen Weg leitet, soll dabei nicht in
Abrede gestellt werden. Wie die Moral aus dein rein Subjektiven, Formaten
und Instinktiven heraus und zu einem objektiven Inhalt gekommen ist, erzählt
Liebmann mit den Worten: „Seher und Weise, Propheten, Gesetzgeber und
Religionsstifter alter und neuer Zeit haben ihrer Nation und der Menschheit
Wege gewiesen, auf denen sie hinschreiten soll, Vorschriften gegeben, nach denen
sie sich richten soll, Gebote und Verbote, die sie heilig halten soll. Sie haben
dies gethan, ihrem sittlichen Takt und Instinkt, ihrem moralischen Werturteil,
d. h. der Stimme ihres Gewissens gehorchend, die sie teilweise, von der un-
antastbaren Heiligkeit ihrer Borschriften überzeugt, einer dem Daimouiou des
Sokrates blutsverwandten höhern Eingebung und göttlichen Offenbarung zu¬
schreibe!? zu müssen glaubten; sich selbst als Sprachrohr und Sendboten des
unendlich unbekannten Weltwesens erkennend." Daß der kategorische Imperativ,
wie jedes Apriori, auf dieses Weltwesen als seine Wurzel deutlich hinweist,
kann natürlich auch Liebmann nicht unausgesprochen lassen, aber er macht die
Sache, seinem kritischen Grundsatz gemäß, sehr kurz ab. „Giebt es eine ab¬
solute Ethik? Man muß daran glauben; denn der Glaube ist es auch hier,
der selig macht; und jeder echt und tief moralisch denkende Mensch glaubt
thatsächlich daran. Dieser Glaube aber enthält in sich versteckt die Idee einer
transzendenten Teleologie, die weit über alle Erfahrung, über Natur und
Geschichte hinausreichend in das dunkle Reich metaphysischer Welträtsel hin¬
übergreife." So ganz transzendent ist diese Teleologie doch nicht; wir er¬
kennen deutlich genug, daß die Verwirklichung der sittlichen Ideen im ganzen
aufbauend und erhaltend, das Gegenteil zerstörend wirkt, wenn auch im einzelnen
Tugend und edle Gesinnung häusig schaden, gewissenloses Handeln (aber nie¬
mals ein Laster) nützt. Es ist damit so wie rin Frost, Hitze, Sturm, Wasser und
allen Naturmächten, die „wütend eine Kette der tiefsten Wirkung ringsumher"
bilden, viel einzelnes zerstörend, während sie im ganzen die organische Welt


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[0075] Ideal näher, die ander» ihm ferner stehn, sondern daß dieses Ideal, mag es auch an seinem jenseitigen Ursprungsorte nach christlicher Vorstellung eines sein und nicht eine platonische Vielheit vou Ideen, in unserm irdischen Menschen leben »ur in eine Vielheit gebrochen vorhanden ist. Ein absolut vollkommner Mensch, der in allen Lebenslagen, als Herr und als Knecht, als General und als Gemeiner, als Offizier und als Kaufmann, als Diplomat und als Pfarrer, als Geheimpolizist oder Advokat und als Lehrer gleich vollkommen Märe, ist undenkbar, ist schon physisch unmöglich, weil der Jdealmensch auch zugleich Kind und Mann, Mann und Weib, verheiratet und ledig sein müßte. Darum ist es kein Rückschritt gewesen, daß Herbart das sittliche Ideal in eine Mehrheit von Ideen aufgelöst hat, die nicht alle zugleich und uicht alle vou einem und demselben Menschen, wenigstens nicht in demselben Grade verwirklicht werden können; daß sich Herbart mit der Ableitung der einen seiner sittlichen Ideen (die Idee des Rechts soll daraus entspringen, daß der Streit mißfällt) lächerlich gemacht hat, und daß seine Ethik den Gegenstand nicht erschöpft, sondern nur die Forschung auf den richtigen Weg leitet, soll dabei nicht in Abrede gestellt werden. Wie die Moral aus dein rein Subjektiven, Formaten und Instinktiven heraus und zu einem objektiven Inhalt gekommen ist, erzählt Liebmann mit den Worten: „Seher und Weise, Propheten, Gesetzgeber und Religionsstifter alter und neuer Zeit haben ihrer Nation und der Menschheit Wege gewiesen, auf denen sie hinschreiten soll, Vorschriften gegeben, nach denen sie sich richten soll, Gebote und Verbote, die sie heilig halten soll. Sie haben dies gethan, ihrem sittlichen Takt und Instinkt, ihrem moralischen Werturteil, d. h. der Stimme ihres Gewissens gehorchend, die sie teilweise, von der un- antastbaren Heiligkeit ihrer Borschriften überzeugt, einer dem Daimouiou des Sokrates blutsverwandten höhern Eingebung und göttlichen Offenbarung zu¬ schreibe!? zu müssen glaubten; sich selbst als Sprachrohr und Sendboten des unendlich unbekannten Weltwesens erkennend." Daß der kategorische Imperativ, wie jedes Apriori, auf dieses Weltwesen als seine Wurzel deutlich hinweist, kann natürlich auch Liebmann nicht unausgesprochen lassen, aber er macht die Sache, seinem kritischen Grundsatz gemäß, sehr kurz ab. „Giebt es eine ab¬ solute Ethik? Man muß daran glauben; denn der Glaube ist es auch hier, der selig macht; und jeder echt und tief moralisch denkende Mensch glaubt thatsächlich daran. Dieser Glaube aber enthält in sich versteckt die Idee einer transzendenten Teleologie, die weit über alle Erfahrung, über Natur und Geschichte hinausreichend in das dunkle Reich metaphysischer Welträtsel hin¬ übergreife." So ganz transzendent ist diese Teleologie doch nicht; wir er¬ kennen deutlich genug, daß die Verwirklichung der sittlichen Ideen im ganzen aufbauend und erhaltend, das Gegenteil zerstörend wirkt, wenn auch im einzelnen Tugend und edle Gesinnung häusig schaden, gewissenloses Handeln (aber nie¬ mals ein Laster) nützt. Es ist damit so wie rin Frost, Hitze, Sturm, Wasser und allen Naturmächten, die „wütend eine Kette der tiefsten Wirkung ringsumher" bilden, viel einzelnes zerstörend, während sie im ganzen die organische Welt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/75>, abgerufen am 02.07.2024.