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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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irrigen Gewissen handelt, sündigt auf jeden Fall, materiell, wenn er nach
diesem Gewissen, formell, wenn er dagegen handelt. Freilich kann dieser
Grundsatz in der Praxis sehr gefährlich werden, wenn sich nämlich eine mächtige
Autorität anmaßt, den Inhalt des Moralgesetzes für viele Millionen unfehlbar
zu bestimmen; aber noch gefährlicher erscheint es doch, zu leugnen, daß es
einen solchen Inhalt giebt, der unbedingt verpflichtet, womit auch die Pflicht,
nach der Erkenntnis dieses Inhalts zu streben, hinwegfällt. Glücklicherweise
nimmt Liebmann den gefährlichen Satz indirekt zurück, und zwar sowohl auf
dem ethischen wie auf dem ästhetischen Gebiet, Die unvermeidliche Relativität
des ästhetischen Urteils, schreibt er, nähere sich doch einem Absoluten. "Un¬
leugbar und völlig unparteiisch betrachtet, nimmt in der Stufenleiter der uns
bekannten Geschöpfe die höchste Stufe der Vollendung der Mensch ein, und
innerhalb der Gattung wiederum der indogermanische Mensch. Darum wird
es nicht als ein Ausfluß egoistischer Borniertheit, sondern als objektiv best¬
motivierte Regel gelten dürfen, wenn man den ästhetischen Maßstab der höchst¬
entwickelten Intelligenz so handhabt, als wäre er absolut." Und ähnlich heißt
es in Beziehung auf die Ethik: "Das moralische Werturteil der sittlich höchst¬
stehenden Person, Nation, Religion u. s. f. ist so anzusehen, als wäre es ob¬
jektiv absolut, mithin für alle Menschen und Völker verpflichtend, und jede
Annäherung an dasselbe Fortschritt und Vervollkommnung. Es giebt eminente
Musterbilder der Sittlichkeit (wie auch der Schönheit), bei deren Erkenntnis
es der niedriger stehenden, roher empfindenden, aber entwicklungsfähigen Natur
wie Schuppen von den Augen fällt, ihr ein helleres Licht aufgeht, und sie
plötzlich das Bessere gewahrwerdend sich zu diesem bekehrt. Wie einen: nor¬
dischen Bildhauer zu Mute wird beim Anblick und Verständnis der Antike,
so müßte einem Weisen Griechenlands zu Mute geworden sein bei ernsthafter
Vertiefung in die Moral der allgemeinen Menschenliebe: liebe deinen Nächsten
wie dich selbst!" Wenn die Sittlichkeit etwas bloß Formales und der Inhalt
gleichgiltig wäre, dann hätte es keinen Sinu, von den sittlich höchst stehenden
Personen und Nationen zu sprechen, man müßte denn als solche die bezeichnen,
die ihrem kategorischen Imperativ am öftesten gehorchen. Aber von den Per¬
sonen kann das niemand wissen, und legt man diesen Maßstab an die Völker
an, so stehn die Mohammedaner unbedingt höher als sämtliche christliche
Nationen. Lothar Bucher hat bei der Vergleichung des Lebens in Konstanti¬
nopel und in London gefunden, der Hauptunterschied zwischen dem islamitischen
und dem christlichen Moralgesetz sei, daß jenes allgemein beobachtet, dieses all¬
gemein übertreten werde.

Richtig an Liebmanns Ansicht ist nur, daß das Formale, das in allen
nicht ganz stumpfsinnigen Menschen ertönende "du sollst" und "du sollst nicht"
die Apriorität des Sittlichen beweist und es uns unmöglich macht, darin eine
Erfindung der Pfaffen oder der Regierungen oder ein biologisches Entwicklungs¬
produkt zu sehen. Was nun aber den Inhalt betrifft, so rührt seine Ver¬
schiedenheit keineswegs bloß daher, daß die einen Menschen und Völker dem


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irrigen Gewissen handelt, sündigt auf jeden Fall, materiell, wenn er nach
diesem Gewissen, formell, wenn er dagegen handelt. Freilich kann dieser
Grundsatz in der Praxis sehr gefährlich werden, wenn sich nämlich eine mächtige
Autorität anmaßt, den Inhalt des Moralgesetzes für viele Millionen unfehlbar
zu bestimmen; aber noch gefährlicher erscheint es doch, zu leugnen, daß es
einen solchen Inhalt giebt, der unbedingt verpflichtet, womit auch die Pflicht,
nach der Erkenntnis dieses Inhalts zu streben, hinwegfällt. Glücklicherweise
nimmt Liebmann den gefährlichen Satz indirekt zurück, und zwar sowohl auf
dem ethischen wie auf dem ästhetischen Gebiet, Die unvermeidliche Relativität
des ästhetischen Urteils, schreibt er, nähere sich doch einem Absoluten. „Un¬
leugbar und völlig unparteiisch betrachtet, nimmt in der Stufenleiter der uns
bekannten Geschöpfe die höchste Stufe der Vollendung der Mensch ein, und
innerhalb der Gattung wiederum der indogermanische Mensch. Darum wird
es nicht als ein Ausfluß egoistischer Borniertheit, sondern als objektiv best¬
motivierte Regel gelten dürfen, wenn man den ästhetischen Maßstab der höchst¬
entwickelten Intelligenz so handhabt, als wäre er absolut." Und ähnlich heißt
es in Beziehung auf die Ethik: „Das moralische Werturteil der sittlich höchst¬
stehenden Person, Nation, Religion u. s. f. ist so anzusehen, als wäre es ob¬
jektiv absolut, mithin für alle Menschen und Völker verpflichtend, und jede
Annäherung an dasselbe Fortschritt und Vervollkommnung. Es giebt eminente
Musterbilder der Sittlichkeit (wie auch der Schönheit), bei deren Erkenntnis
es der niedriger stehenden, roher empfindenden, aber entwicklungsfähigen Natur
wie Schuppen von den Augen fällt, ihr ein helleres Licht aufgeht, und sie
plötzlich das Bessere gewahrwerdend sich zu diesem bekehrt. Wie einen: nor¬
dischen Bildhauer zu Mute wird beim Anblick und Verständnis der Antike,
so müßte einem Weisen Griechenlands zu Mute geworden sein bei ernsthafter
Vertiefung in die Moral der allgemeinen Menschenliebe: liebe deinen Nächsten
wie dich selbst!" Wenn die Sittlichkeit etwas bloß Formales und der Inhalt
gleichgiltig wäre, dann hätte es keinen Sinu, von den sittlich höchst stehenden
Personen und Nationen zu sprechen, man müßte denn als solche die bezeichnen,
die ihrem kategorischen Imperativ am öftesten gehorchen. Aber von den Per¬
sonen kann das niemand wissen, und legt man diesen Maßstab an die Völker
an, so stehn die Mohammedaner unbedingt höher als sämtliche christliche
Nationen. Lothar Bucher hat bei der Vergleichung des Lebens in Konstanti¬
nopel und in London gefunden, der Hauptunterschied zwischen dem islamitischen
und dem christlichen Moralgesetz sei, daß jenes allgemein beobachtet, dieses all¬
gemein übertreten werde.

Richtig an Liebmanns Ansicht ist nur, daß das Formale, das in allen
nicht ganz stumpfsinnigen Menschen ertönende „du sollst" und „du sollst nicht"
die Apriorität des Sittlichen beweist und es uns unmöglich macht, darin eine
Erfindung der Pfaffen oder der Regierungen oder ein biologisches Entwicklungs¬
produkt zu sehen. Was nun aber den Inhalt betrifft, so rührt seine Ver¬
schiedenheit keineswegs bloß daher, daß die einen Menschen und Völker dem


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[0074] Zurück zu RantI irrigen Gewissen handelt, sündigt auf jeden Fall, materiell, wenn er nach diesem Gewissen, formell, wenn er dagegen handelt. Freilich kann dieser Grundsatz in der Praxis sehr gefährlich werden, wenn sich nämlich eine mächtige Autorität anmaßt, den Inhalt des Moralgesetzes für viele Millionen unfehlbar zu bestimmen; aber noch gefährlicher erscheint es doch, zu leugnen, daß es einen solchen Inhalt giebt, der unbedingt verpflichtet, womit auch die Pflicht, nach der Erkenntnis dieses Inhalts zu streben, hinwegfällt. Glücklicherweise nimmt Liebmann den gefährlichen Satz indirekt zurück, und zwar sowohl auf dem ethischen wie auf dem ästhetischen Gebiet, Die unvermeidliche Relativität des ästhetischen Urteils, schreibt er, nähere sich doch einem Absoluten. „Un¬ leugbar und völlig unparteiisch betrachtet, nimmt in der Stufenleiter der uns bekannten Geschöpfe die höchste Stufe der Vollendung der Mensch ein, und innerhalb der Gattung wiederum der indogermanische Mensch. Darum wird es nicht als ein Ausfluß egoistischer Borniertheit, sondern als objektiv best¬ motivierte Regel gelten dürfen, wenn man den ästhetischen Maßstab der höchst¬ entwickelten Intelligenz so handhabt, als wäre er absolut." Und ähnlich heißt es in Beziehung auf die Ethik: „Das moralische Werturteil der sittlich höchst¬ stehenden Person, Nation, Religion u. s. f. ist so anzusehen, als wäre es ob¬ jektiv absolut, mithin für alle Menschen und Völker verpflichtend, und jede Annäherung an dasselbe Fortschritt und Vervollkommnung. Es giebt eminente Musterbilder der Sittlichkeit (wie auch der Schönheit), bei deren Erkenntnis es der niedriger stehenden, roher empfindenden, aber entwicklungsfähigen Natur wie Schuppen von den Augen fällt, ihr ein helleres Licht aufgeht, und sie plötzlich das Bessere gewahrwerdend sich zu diesem bekehrt. Wie einen: nor¬ dischen Bildhauer zu Mute wird beim Anblick und Verständnis der Antike, so müßte einem Weisen Griechenlands zu Mute geworden sein bei ernsthafter Vertiefung in die Moral der allgemeinen Menschenliebe: liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" Wenn die Sittlichkeit etwas bloß Formales und der Inhalt gleichgiltig wäre, dann hätte es keinen Sinu, von den sittlich höchst stehenden Personen und Nationen zu sprechen, man müßte denn als solche die bezeichnen, die ihrem kategorischen Imperativ am öftesten gehorchen. Aber von den Per¬ sonen kann das niemand wissen, und legt man diesen Maßstab an die Völker an, so stehn die Mohammedaner unbedingt höher als sämtliche christliche Nationen. Lothar Bucher hat bei der Vergleichung des Lebens in Konstanti¬ nopel und in London gefunden, der Hauptunterschied zwischen dem islamitischen und dem christlichen Moralgesetz sei, daß jenes allgemein beobachtet, dieses all¬ gemein übertreten werde. Richtig an Liebmanns Ansicht ist nur, daß das Formale, das in allen nicht ganz stumpfsinnigen Menschen ertönende „du sollst" und „du sollst nicht" die Apriorität des Sittlichen beweist und es uns unmöglich macht, darin eine Erfindung der Pfaffen oder der Regierungen oder ein biologisches Entwicklungs¬ produkt zu sehen. Was nun aber den Inhalt betrifft, so rührt seine Ver¬ schiedenheit keineswegs bloß daher, daß die einen Menschen und Völker dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/74>, abgerufen am 01.07.2024.