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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Nie Entwicklung der deutschen Monarchie

in Deutschland ausstarb, war die Ohnmacht des Königtums größer als je
vorher. Nicht einmal die militärischen Aufgaben der Abwehr äußerer Feinde
hatte es zu erfüllen vermacht. Die Stammesherzogtümer, deren staatliche
Selbständigkeit Karl für immer gebrochen zu haben schien, waren um die Wende
des neunten und zehnten Jahrhunderts zu neuem kraftvollem Dasein entstanden.
Aber von den Tagen Karls des Großen her hatte sich doch auch das Be¬
dürfnis im Volke erhalten, einen König an der Spitze des Staats zu sehen:
so traten unmittelbar uach dem Tode Ludwigs des Kindes die Stämme zu¬
sammen, sich einen neuen Herrscher zu küren.

Mit Konrad I. (911 bis 918) oder besser noch mit seinem Nachfolger
Heinrich I. (918 bis 936) setzt eine neue Periode in der Entwicklung der
vaterländischen Monarchie ein, die Periode des deutschen Lehnkönigtums.
Das neue Reich war in nationaler Beziehung eine Einheit: zum Unterschied
vom alten Frankenrciche war seine Bevölkerung fast rein germanisch. Doch
war darum das neue Staatswesen keineswegs in sich geschlossener als das
frühere. Im Gegenteil: hatte Karl der Große noch mit Glück den Versuch
unternommen, die Adelsaristokratie dein Königtum gefügig zu machen und sie
zu einem abhängigen Beamtenstande zu stempeln, so mußten jetzt die Könige
ihre selbständige Stellung sehr bald anerkennen. Die Großen und das Königtum,
das ihre Mithilfe braucht, stehn zu einander in einem Vertragsverhültnis, das
sich in genauen Grenzen hält. Auch für deutsche Verhältnisse trifft die An¬
schauung zu, die die normannischen Barone bei ihrem Lehnseide in den Worten
auszusprechen pflegten: "Ich werde euer Mann von wegen des Lehrs, das
ich von euch empfangen habe." Auf einen unbedingten Gehorsam darf der
König bei seinen Vasallen nicht mehr rechnen. Als Heinrich der Löwe im
Jahre 1176 Friedrich Barbarossa die Heerespflicht verweigerte, konnte ihm vom
streng rechtlichen Standpunkt aus kein Vorwurf gemacht werden: verpflichtet
war der Herzog nur dazu, den Kaiser auf seinem ersten Zuge nach Italien zu
begleiten.

Und wie hätte auch der König auf die Dauer zu einer durchgreifenden
Verwaltungsorganisation, zu einem unbedingt zuverlässigen Beamtentum ge¬
langen sollen? Vom zehnten Jahrhundert ab durchdringt das Lehnswesen,
dessen Anfänge schon in die Zeiten Pippins zurückreichen, das gesamte staat¬
liche Leben Deutschlands. Die Form, in der die königlichen Beamten ent¬
schädigt wurden, war gemäß den naturalwirtschaftlichen Zuständen die der Be¬
lehnung mit Grund und Boden. Bei den mangelnden Verkehrsverhältnissen
war es min unmöglich, die Nutzung des Grund und Bodens in einer von
diesem losgelösten Form dem Beamten zuzuwenden; vielmehr wurde der Be¬
amte durch die Belehrung zugleich der Besitzer und Herr des ihm zugewiesenen
Grundstücks. Er erhielt nicht nur Sold, er erhielt Macht. Es war immer
dasselbe Schauspiel: wo der König Getreuen die Durchführung seiner Gebote
und die Verteidigung seiner Machtinteressen anvertraute, da finden wir wenig
später eigenherrliche, von der Krone fast unabhängige Gewalten. Sie haben


Nie Entwicklung der deutschen Monarchie

in Deutschland ausstarb, war die Ohnmacht des Königtums größer als je
vorher. Nicht einmal die militärischen Aufgaben der Abwehr äußerer Feinde
hatte es zu erfüllen vermacht. Die Stammesherzogtümer, deren staatliche
Selbständigkeit Karl für immer gebrochen zu haben schien, waren um die Wende
des neunten und zehnten Jahrhunderts zu neuem kraftvollem Dasein entstanden.
Aber von den Tagen Karls des Großen her hatte sich doch auch das Be¬
dürfnis im Volke erhalten, einen König an der Spitze des Staats zu sehen:
so traten unmittelbar uach dem Tode Ludwigs des Kindes die Stämme zu¬
sammen, sich einen neuen Herrscher zu küren.

Mit Konrad I. (911 bis 918) oder besser noch mit seinem Nachfolger
Heinrich I. (918 bis 936) setzt eine neue Periode in der Entwicklung der
vaterländischen Monarchie ein, die Periode des deutschen Lehnkönigtums.
Das neue Reich war in nationaler Beziehung eine Einheit: zum Unterschied
vom alten Frankenrciche war seine Bevölkerung fast rein germanisch. Doch
war darum das neue Staatswesen keineswegs in sich geschlossener als das
frühere. Im Gegenteil: hatte Karl der Große noch mit Glück den Versuch
unternommen, die Adelsaristokratie dein Königtum gefügig zu machen und sie
zu einem abhängigen Beamtenstande zu stempeln, so mußten jetzt die Könige
ihre selbständige Stellung sehr bald anerkennen. Die Großen und das Königtum,
das ihre Mithilfe braucht, stehn zu einander in einem Vertragsverhültnis, das
sich in genauen Grenzen hält. Auch für deutsche Verhältnisse trifft die An¬
schauung zu, die die normannischen Barone bei ihrem Lehnseide in den Worten
auszusprechen pflegten: „Ich werde euer Mann von wegen des Lehrs, das
ich von euch empfangen habe." Auf einen unbedingten Gehorsam darf der
König bei seinen Vasallen nicht mehr rechnen. Als Heinrich der Löwe im
Jahre 1176 Friedrich Barbarossa die Heerespflicht verweigerte, konnte ihm vom
streng rechtlichen Standpunkt aus kein Vorwurf gemacht werden: verpflichtet
war der Herzog nur dazu, den Kaiser auf seinem ersten Zuge nach Italien zu
begleiten.

Und wie hätte auch der König auf die Dauer zu einer durchgreifenden
Verwaltungsorganisation, zu einem unbedingt zuverlässigen Beamtentum ge¬
langen sollen? Vom zehnten Jahrhundert ab durchdringt das Lehnswesen,
dessen Anfänge schon in die Zeiten Pippins zurückreichen, das gesamte staat¬
liche Leben Deutschlands. Die Form, in der die königlichen Beamten ent¬
schädigt wurden, war gemäß den naturalwirtschaftlichen Zuständen die der Be¬
lehnung mit Grund und Boden. Bei den mangelnden Verkehrsverhältnissen
war es min unmöglich, die Nutzung des Grund und Bodens in einer von
diesem losgelösten Form dem Beamten zuzuwenden; vielmehr wurde der Be¬
amte durch die Belehrung zugleich der Besitzer und Herr des ihm zugewiesenen
Grundstücks. Er erhielt nicht nur Sold, er erhielt Macht. Es war immer
dasselbe Schauspiel: wo der König Getreuen die Durchführung seiner Gebote
und die Verteidigung seiner Machtinteressen anvertraute, da finden wir wenig
später eigenherrliche, von der Krone fast unabhängige Gewalten. Sie haben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/63>, abgerufen am 02.07.2024.