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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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es verstanden, den Umfang ihres Machtbereichs seit der Zeit der Belehnung
abzurunden und auszudehnen. Aber die diesem Machtbesitz ursprünglich an¬
hängenden staatlichen Pflichten sind in Vergessenheit geraten und abgestreift.
Auf diese Weise sind das heutige Belgien und die Niederlande dem deutschen
Reiche allmählich verloren gegangen, ohne daß sich auch nur ein markantes
Datum für diesen Borgang der Ablösung anführen ließe.

Das deutsche Königtum fand sich gegenüber diesen Zustünde" in einer
verzweifelten Lage. Sicherlich giebt es Zeiten, wo eine übergroße Botmäßigkeit
und Gefügigkeit zur politischen Untugend werden kann -- indessen die hervor¬
stechende, dem Mittelalter eigentümliche staatliche Untugend ist zweifellos die
Unbotmüßigkeit gewesen. An glänzenden Königsgestalten hat es nicht gefehlt,
aber im Kampfe mit der Unbotmäszigkeit ihrer Großen haben sie nichts erreicht.
Vernachlässigung gegen die staatlichen Pflichten, Widerspruch und Widersetz¬
lichkeit gegen des Königs Anordnungen, Unruhe, Aufstand, Empörungen waren
so sehr an der Tagesordnung, daß sie -- ein bezeichnender Wandel der sitt¬
lichen Anschauungen -- kaum als Unrecht im moralischen Sinne angesehen
wurden. Man vergleiche die beispiellose Milde und Nachsicht mittelalterlicher
Könige gegen aufrührerische Vasallen mit der furchtbaren Härte Karls des
Großen. Ottos des Großen Sohn Liudolf entfacht gegen den Vater eine ganz
Deutschland entstammende Empörung; wenig Jahre später bekommt er ein
führendes Kommando in Italien. Herzog Ernst büßt seinen ersten Aufstand
nur mit kurzer Gefangenschaft und erhält daun sein Herzogtum wieder. Lothar
versöhnt sich mit den aufrührerischen Staufen. Heinrich dem Löwen werden
von Friedrich Barbarossa zur Strafe für seinen Ungehorsam, der den Zusammen¬
bruch der kaiserlichen Machtstellung in Italien zur Folge hatte, die Herzog¬
tümer entzogen; aber seine beträchtlichen Allode bleiben ihm, sodaß er kurze
Zeit darauf wieder gegen das Stauferkaisertum ins Feld zu ziehn vermag.
Wenn ein halbes Jahrhundert später Friedrich II. seinen ungehorsamen Sohn
Heinrich in strenge Haft nehmen und bis zu seinem Tode gefangen halten
läßt, so handelt er schon nach den neuen Anschauungen des monarchischen
Absolutismus.

Auf welchem Wege hat nun das mittelalterliche Königtum eine Stärkung
seiner Machtstellung erstrebt, da es die Anwendung brutaler Gewaltmittel ver¬
schmähte? Außerordentlich weitschauend und von grundsätzlicher Tragweite ist
ein Versuch Ottos des Großen in dieser Richtung: er unternahm es, die
katholische Kirche Deutschlands staatlichen Interessen dienstbar zu machen.
Auf der Grundlage einer ganz einzigen, trefflich disziplinierten Gemeinsamkeit
geistig-religiöser Anschauungen, die sich auf alle ihre Glieder erstreckte, schuf
die katholische Kirche einen Organismus von imponierender Geschlossenheit und
Konzentration. Diese Organisation stellte sich mit ihren beträchtlichen Macht¬
mitteln unter den Ottonen dem Staate zur Verfügung, und das Königtum
konnte nun für die Durchführung seiner Maßnahmen einen gut wirkenden
Apparat in Bewegung setzen. Freilich wurde damit die ganze Verwaltung
pfäffisch; niemals ist im Verlaufe der deutschen Geschichte katholisch so sehr


es verstanden, den Umfang ihres Machtbereichs seit der Zeit der Belehnung
abzurunden und auszudehnen. Aber die diesem Machtbesitz ursprünglich an¬
hängenden staatlichen Pflichten sind in Vergessenheit geraten und abgestreift.
Auf diese Weise sind das heutige Belgien und die Niederlande dem deutschen
Reiche allmählich verloren gegangen, ohne daß sich auch nur ein markantes
Datum für diesen Borgang der Ablösung anführen ließe.

Das deutsche Königtum fand sich gegenüber diesen Zustünde» in einer
verzweifelten Lage. Sicherlich giebt es Zeiten, wo eine übergroße Botmäßigkeit
und Gefügigkeit zur politischen Untugend werden kann — indessen die hervor¬
stechende, dem Mittelalter eigentümliche staatliche Untugend ist zweifellos die
Unbotmüßigkeit gewesen. An glänzenden Königsgestalten hat es nicht gefehlt,
aber im Kampfe mit der Unbotmäszigkeit ihrer Großen haben sie nichts erreicht.
Vernachlässigung gegen die staatlichen Pflichten, Widerspruch und Widersetz¬
lichkeit gegen des Königs Anordnungen, Unruhe, Aufstand, Empörungen waren
so sehr an der Tagesordnung, daß sie — ein bezeichnender Wandel der sitt¬
lichen Anschauungen — kaum als Unrecht im moralischen Sinne angesehen
wurden. Man vergleiche die beispiellose Milde und Nachsicht mittelalterlicher
Könige gegen aufrührerische Vasallen mit der furchtbaren Härte Karls des
Großen. Ottos des Großen Sohn Liudolf entfacht gegen den Vater eine ganz
Deutschland entstammende Empörung; wenig Jahre später bekommt er ein
führendes Kommando in Italien. Herzog Ernst büßt seinen ersten Aufstand
nur mit kurzer Gefangenschaft und erhält daun sein Herzogtum wieder. Lothar
versöhnt sich mit den aufrührerischen Staufen. Heinrich dem Löwen werden
von Friedrich Barbarossa zur Strafe für seinen Ungehorsam, der den Zusammen¬
bruch der kaiserlichen Machtstellung in Italien zur Folge hatte, die Herzog¬
tümer entzogen; aber seine beträchtlichen Allode bleiben ihm, sodaß er kurze
Zeit darauf wieder gegen das Stauferkaisertum ins Feld zu ziehn vermag.
Wenn ein halbes Jahrhundert später Friedrich II. seinen ungehorsamen Sohn
Heinrich in strenge Haft nehmen und bis zu seinem Tode gefangen halten
läßt, so handelt er schon nach den neuen Anschauungen des monarchischen
Absolutismus.

Auf welchem Wege hat nun das mittelalterliche Königtum eine Stärkung
seiner Machtstellung erstrebt, da es die Anwendung brutaler Gewaltmittel ver¬
schmähte? Außerordentlich weitschauend und von grundsätzlicher Tragweite ist
ein Versuch Ottos des Großen in dieser Richtung: er unternahm es, die
katholische Kirche Deutschlands staatlichen Interessen dienstbar zu machen.
Auf der Grundlage einer ganz einzigen, trefflich disziplinierten Gemeinsamkeit
geistig-religiöser Anschauungen, die sich auf alle ihre Glieder erstreckte, schuf
die katholische Kirche einen Organismus von imponierender Geschlossenheit und
Konzentration. Diese Organisation stellte sich mit ihren beträchtlichen Macht¬
mitteln unter den Ottonen dem Staate zur Verfügung, und das Königtum
konnte nun für die Durchführung seiner Maßnahmen einen gut wirkenden
Apparat in Bewegung setzen. Freilich wurde damit die ganze Verwaltung
pfäffisch; niemals ist im Verlaufe der deutschen Geschichte katholisch so sehr


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[0064] es verstanden, den Umfang ihres Machtbereichs seit der Zeit der Belehnung abzurunden und auszudehnen. Aber die diesem Machtbesitz ursprünglich an¬ hängenden staatlichen Pflichten sind in Vergessenheit geraten und abgestreift. Auf diese Weise sind das heutige Belgien und die Niederlande dem deutschen Reiche allmählich verloren gegangen, ohne daß sich auch nur ein markantes Datum für diesen Borgang der Ablösung anführen ließe. Das deutsche Königtum fand sich gegenüber diesen Zustünde» in einer verzweifelten Lage. Sicherlich giebt es Zeiten, wo eine übergroße Botmäßigkeit und Gefügigkeit zur politischen Untugend werden kann — indessen die hervor¬ stechende, dem Mittelalter eigentümliche staatliche Untugend ist zweifellos die Unbotmüßigkeit gewesen. An glänzenden Königsgestalten hat es nicht gefehlt, aber im Kampfe mit der Unbotmäszigkeit ihrer Großen haben sie nichts erreicht. Vernachlässigung gegen die staatlichen Pflichten, Widerspruch und Widersetz¬ lichkeit gegen des Königs Anordnungen, Unruhe, Aufstand, Empörungen waren so sehr an der Tagesordnung, daß sie — ein bezeichnender Wandel der sitt¬ lichen Anschauungen — kaum als Unrecht im moralischen Sinne angesehen wurden. Man vergleiche die beispiellose Milde und Nachsicht mittelalterlicher Könige gegen aufrührerische Vasallen mit der furchtbaren Härte Karls des Großen. Ottos des Großen Sohn Liudolf entfacht gegen den Vater eine ganz Deutschland entstammende Empörung; wenig Jahre später bekommt er ein führendes Kommando in Italien. Herzog Ernst büßt seinen ersten Aufstand nur mit kurzer Gefangenschaft und erhält daun sein Herzogtum wieder. Lothar versöhnt sich mit den aufrührerischen Staufen. Heinrich dem Löwen werden von Friedrich Barbarossa zur Strafe für seinen Ungehorsam, der den Zusammen¬ bruch der kaiserlichen Machtstellung in Italien zur Folge hatte, die Herzog¬ tümer entzogen; aber seine beträchtlichen Allode bleiben ihm, sodaß er kurze Zeit darauf wieder gegen das Stauferkaisertum ins Feld zu ziehn vermag. Wenn ein halbes Jahrhundert später Friedrich II. seinen ungehorsamen Sohn Heinrich in strenge Haft nehmen und bis zu seinem Tode gefangen halten läßt, so handelt er schon nach den neuen Anschauungen des monarchischen Absolutismus. Auf welchem Wege hat nun das mittelalterliche Königtum eine Stärkung seiner Machtstellung erstrebt, da es die Anwendung brutaler Gewaltmittel ver¬ schmähte? Außerordentlich weitschauend und von grundsätzlicher Tragweite ist ein Versuch Ottos des Großen in dieser Richtung: er unternahm es, die katholische Kirche Deutschlands staatlichen Interessen dienstbar zu machen. Auf der Grundlage einer ganz einzigen, trefflich disziplinierten Gemeinsamkeit geistig-religiöser Anschauungen, die sich auf alle ihre Glieder erstreckte, schuf die katholische Kirche einen Organismus von imponierender Geschlossenheit und Konzentration. Diese Organisation stellte sich mit ihren beträchtlichen Macht¬ mitteln unter den Ottonen dem Staate zur Verfügung, und das Königtum konnte nun für die Durchführung seiner Maßnahmen einen gut wirkenden Apparat in Bewegung setzen. Freilich wurde damit die ganze Verwaltung pfäffisch; niemals ist im Verlaufe der deutschen Geschichte katholisch so sehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/64>, abgerufen am 22.07.2024.