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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Geschmack an der Landwirtschaft zu sehr verloren haben, vom Westen und von
den Städten zu kräftig angezogen werden. Vor fünfzig, vor vierzig, noch vor
dreißig Jahren herrschte der Zug nach Osten vor. Damals hatten die Leute
noch Freude an der Landwirtschaft, zogen aus Mitteldeutschland nach Schlesien,
aus Schlesien nach Posen, Russisch-Polen, Galizien, um dort deutsche Muster¬
wirtschaften zu begründen. Damals hätte die Politik die wirtschaftliche Ent¬
wicklung in die oben angedeutete Bahn lenken können. Sie hatte zunächst
andre Aufgaben zu lösen, und jetzt mag es zu spät sein. Was nun werden
soll, das ist schwer zu sagen. Hoffen wir, daß uns die Vorsehung einen zweiten
ökonomischen Bismarck schicke, einen zweiten List, einen großen Praktikus, der
mit genialen Scharfblick erkennt, was not thut, und unser Volk in die richtige
Bahn hineinstößt. Über das Ziel besteht ja wohl kein Zweifel: ein Zustand,
der die Anwendung der vollkommensten Technik und die Entfaltung der höchsten
Kultur ermöglicht, ohne den Wurzelboden der Volkskraft und Volksgesundheit,
das Bauernleben, zu zerstören. Denn um dieses handelt es sich, nicht um
die Landwirtschaft. Möchten der Plnntagenbau mit Wanderarbeitern auf Lati¬
fundien und der von verstädterten Gärtnern betriebne Gemüsebau uoch so
glänzend rentieren, in sozialer und politischer Beziehung würde das für den
L. I- zu Grunde gegcmgnen Bauernstand nicht entschädigen.




Wenn man verliebt ist
Timm Uröger von

! cum man verliebt ist. -- Hans Stieper war es und war als Schneider-
! gesell kaum vier Wochen bei Meister Eggert in Arbeit, und acht
Tage schon war er verlobt.

Sie war des Kätners Harder Rickers Tochter und hieß Katrien
oder Tine und wohnte gleich an Meister Eggerts Garten unter einem
! niedrigen Dach, die Thür hinter stark verholzten Johaimisbeerbüschen.
Als dreizehnjähriger Junge hatte er sie gesehen (sie war damals ein sehr kleines
und sehr lustiges Mädchen gewesen), als eben freigesprochner junger Geselle hatte
er sie wiedergetroffen und die Bekanntschaft erneuert. Frau Meister hatte einen
Topf mit Honig zu Harders hiuüberschicken Wollen, und er hatte den Topf hinüber¬
getragen. Den Topf und sein Herz hatte er in der Rauchkate zurückgelassen, aber
Times Liebe hatte er mitgenommen. Vor dem nltsachsischeu Schwibbogenherd und
vor der dampfenden Waschbütte (Tiue war gerade beim Telleraufwaschen gewesen)
war es zur Aussprache nud dem, was dann zu folgen pflegt, gekommen, und Harder
hatte gern eingewilligt. Als Verlobter Bräutigam war er an ihrer Seite durch
die Johannisbeerbüsche nach seines Meisters Hause zurückgekehrt, seine Braut vor¬
zustellen.

Heft ver Moru ok all en Brüdigmn sehn? hatte er seine" Mitgesellen gefragt.

Er hatte auf ein verwundertes Gesicht und auf ein rundes Nein gehofft,
und dann hatte er sich aufrichten und auf die lachende Tine zeigen und sagen
wollen:

Denn sügst um een, un een hübsche Brut dorto!


Geschmack an der Landwirtschaft zu sehr verloren haben, vom Westen und von
den Städten zu kräftig angezogen werden. Vor fünfzig, vor vierzig, noch vor
dreißig Jahren herrschte der Zug nach Osten vor. Damals hatten die Leute
noch Freude an der Landwirtschaft, zogen aus Mitteldeutschland nach Schlesien,
aus Schlesien nach Posen, Russisch-Polen, Galizien, um dort deutsche Muster¬
wirtschaften zu begründen. Damals hätte die Politik die wirtschaftliche Ent¬
wicklung in die oben angedeutete Bahn lenken können. Sie hatte zunächst
andre Aufgaben zu lösen, und jetzt mag es zu spät sein. Was nun werden
soll, das ist schwer zu sagen. Hoffen wir, daß uns die Vorsehung einen zweiten
ökonomischen Bismarck schicke, einen zweiten List, einen großen Praktikus, der
mit genialen Scharfblick erkennt, was not thut, und unser Volk in die richtige
Bahn hineinstößt. Über das Ziel besteht ja wohl kein Zweifel: ein Zustand,
der die Anwendung der vollkommensten Technik und die Entfaltung der höchsten
Kultur ermöglicht, ohne den Wurzelboden der Volkskraft und Volksgesundheit,
das Bauernleben, zu zerstören. Denn um dieses handelt es sich, nicht um
die Landwirtschaft. Möchten der Plnntagenbau mit Wanderarbeitern auf Lati¬
fundien und der von verstädterten Gärtnern betriebne Gemüsebau uoch so
glänzend rentieren, in sozialer und politischer Beziehung würde das für den
L. I- zu Grunde gegcmgnen Bauernstand nicht entschädigen.




Wenn man verliebt ist
Timm Uröger von

! cum man verliebt ist. — Hans Stieper war es und war als Schneider-
! gesell kaum vier Wochen bei Meister Eggert in Arbeit, und acht
Tage schon war er verlobt.

Sie war des Kätners Harder Rickers Tochter und hieß Katrien
oder Tine und wohnte gleich an Meister Eggerts Garten unter einem
! niedrigen Dach, die Thür hinter stark verholzten Johaimisbeerbüschen.
Als dreizehnjähriger Junge hatte er sie gesehen (sie war damals ein sehr kleines
und sehr lustiges Mädchen gewesen), als eben freigesprochner junger Geselle hatte
er sie wiedergetroffen und die Bekanntschaft erneuert. Frau Meister hatte einen
Topf mit Honig zu Harders hiuüberschicken Wollen, und er hatte den Topf hinüber¬
getragen. Den Topf und sein Herz hatte er in der Rauchkate zurückgelassen, aber
Times Liebe hatte er mitgenommen. Vor dem nltsachsischeu Schwibbogenherd und
vor der dampfenden Waschbütte (Tiue war gerade beim Telleraufwaschen gewesen)
war es zur Aussprache nud dem, was dann zu folgen pflegt, gekommen, und Harder
hatte gern eingewilligt. Als Verlobter Bräutigam war er an ihrer Seite durch
die Johannisbeerbüsche nach seines Meisters Hause zurückgekehrt, seine Braut vor¬
zustellen.

Heft ver Moru ok all en Brüdigmn sehn? hatte er seine» Mitgesellen gefragt.

Er hatte auf ein verwundertes Gesicht und auf ein rundes Nein gehofft,
und dann hatte er sich aufrichten und auf die lachende Tine zeigen und sagen
wollen:

Denn sügst um een, un een hübsche Brut dorto!


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[0629] Geschmack an der Landwirtschaft zu sehr verloren haben, vom Westen und von den Städten zu kräftig angezogen werden. Vor fünfzig, vor vierzig, noch vor dreißig Jahren herrschte der Zug nach Osten vor. Damals hatten die Leute noch Freude an der Landwirtschaft, zogen aus Mitteldeutschland nach Schlesien, aus Schlesien nach Posen, Russisch-Polen, Galizien, um dort deutsche Muster¬ wirtschaften zu begründen. Damals hätte die Politik die wirtschaftliche Ent¬ wicklung in die oben angedeutete Bahn lenken können. Sie hatte zunächst andre Aufgaben zu lösen, und jetzt mag es zu spät sein. Was nun werden soll, das ist schwer zu sagen. Hoffen wir, daß uns die Vorsehung einen zweiten ökonomischen Bismarck schicke, einen zweiten List, einen großen Praktikus, der mit genialen Scharfblick erkennt, was not thut, und unser Volk in die richtige Bahn hineinstößt. Über das Ziel besteht ja wohl kein Zweifel: ein Zustand, der die Anwendung der vollkommensten Technik und die Entfaltung der höchsten Kultur ermöglicht, ohne den Wurzelboden der Volkskraft und Volksgesundheit, das Bauernleben, zu zerstören. Denn um dieses handelt es sich, nicht um die Landwirtschaft. Möchten der Plnntagenbau mit Wanderarbeitern auf Lati¬ fundien und der von verstädterten Gärtnern betriebne Gemüsebau uoch so glänzend rentieren, in sozialer und politischer Beziehung würde das für den L. I- zu Grunde gegcmgnen Bauernstand nicht entschädigen. Wenn man verliebt ist Timm Uröger von ! cum man verliebt ist. — Hans Stieper war es und war als Schneider- ! gesell kaum vier Wochen bei Meister Eggert in Arbeit, und acht Tage schon war er verlobt. Sie war des Kätners Harder Rickers Tochter und hieß Katrien oder Tine und wohnte gleich an Meister Eggerts Garten unter einem ! niedrigen Dach, die Thür hinter stark verholzten Johaimisbeerbüschen. Als dreizehnjähriger Junge hatte er sie gesehen (sie war damals ein sehr kleines und sehr lustiges Mädchen gewesen), als eben freigesprochner junger Geselle hatte er sie wiedergetroffen und die Bekanntschaft erneuert. Frau Meister hatte einen Topf mit Honig zu Harders hiuüberschicken Wollen, und er hatte den Topf hinüber¬ getragen. Den Topf und sein Herz hatte er in der Rauchkate zurückgelassen, aber Times Liebe hatte er mitgenommen. Vor dem nltsachsischeu Schwibbogenherd und vor der dampfenden Waschbütte (Tiue war gerade beim Telleraufwaschen gewesen) war es zur Aussprache nud dem, was dann zu folgen pflegt, gekommen, und Harder hatte gern eingewilligt. Als Verlobter Bräutigam war er an ihrer Seite durch die Johannisbeerbüsche nach seines Meisters Hause zurückgekehrt, seine Braut vor¬ zustellen. Heft ver Moru ok all en Brüdigmn sehn? hatte er seine» Mitgesellen gefragt. Er hatte auf ein verwundertes Gesicht und auf ein rundes Nein gehofft, und dann hatte er sich aufrichten und auf die lachende Tine zeigen und sagen wollen: Denn sügst um een, un een hübsche Brut dorto!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/629>, abgerufen am 03.07.2024.