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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Aus der Werkstatt der Schulreform

Operation bot die Möglichkeit einer Rettung und Gesundung, Der Bericht,
den Geheimrat Matthias, seit Jahren ein entschiedner Vorkämpfer der Gleich¬
berechtigung, der Konferenz vorlegte, schloß mit einer ernsten Mahnung: Wenn
man bedenke, daß am Gymnasium zweiunddreißig, am Realgymnasium achtund¬
zwanzig und an der Oberrealschule neunzehn Berechtigungen hingen, die nicht
nach einem einheitlichen Gedanken oder einem wohldurchdachten Plane auf¬
gestellt wären, sondern gelegentlich und stückweise je nach den nugeublicklicheu
oder dauernden Bedürfnisse" der Zivil- und Militärverwaltung, so müsse mau
zugestehn, daß nicht mehr der Unterrichtsminister allein den Begriff und deu
Weg der Jugendbildung bestimme und überwache, sondern mit ihm einige
Dutzend Gewalten, deren Fordruugen mit dein eigentlichen Zweck einer höher"
Schule nichts zu thun Hütten, Für die höhere Schule müsse vor allein der
Grundsatz maßgebend sein, daß nicht diese oder jene Fachbildung ihr Zweck
sei, sondern die allgemeine Bildung, und daß nicht der Stoff, an dem sich die
Bildung des Geistes vollziehe, sondern das Maß geistiger Energie, geistiger
Empfänglichkeit und Reife, das sich an den verschiednen Stoffen entwickeln und
erweisen könne, für die Reise oder Unreife eines Schülers entscheide. "Stellen
^ so schloß das Gutachten -- die verschiednen Schulen gymnasialer und realer
Art die gleichen Aufordrungen in Bezug auf dieses Maß geistiger Energie und
Kraftentwicklung, und erfüllen sie diese Anforderungen in gleichem Maße, dann
sollte man ihre Wertschätzung und Berechtigungen möglichst ausgleichen und
es den maßgebenden Behörden und Vertretern der einzelnen Ressorts, Studien¬
zweige und Berufsarten überlassen, sich in ihren Prüfungen selbst zu helfen;
die ruhige und ungestörte Entwicklung unsrer deutschen Schule und unsrer
Bildung könnte dabei nur gewinnen."

Für den Gang der Beratungen sowie für die Absichten der Instanz, bei
der am letzten Ende die Entscheidung lag, war es ein günstiges Zeichen, daß
die Berechtigungsfrage, die anfangs den achten Punkt der Tagesordnung
bildete, um die Spitze gestellt wurde. Das Kultusministerium beantragte durch
seinen Berichterstatter, die Realgymnasien und die Oberrealschule" den Gym¬
nasien insofern völlig gleichzustellen, als es sich um ein Studium handle, das
nur die allgemel'ne wissenschaftliche Vorbildung, keine darüber hinausgehenden
Spezialtenntuisse in einzelnen Fächern voraussetze; der Nachweis der etwa er-
forderlichen Spezinlkeuntnisse sei, wenn sie nicht schon auf der Schule erworben
wären, in der Regel dnrch eine Bescheinigung über den erfolgreichen Besuch
von Vorkursen auf der in Betracht kommenden Universität oder Hochschule zu
führen. Die Mehrzahl der Redner, nicht uur Vertreter der realen Bildung
und der technischen Hochschulen, sondern auch Anhänger der gymnasialen Bil-
dllng, namentlich der Kirchenhistoriker Harnack und der Philologe von Wila-
mowitz-Möllendorfs, stellten sich mit rückhaltloser Zustimmung auf die Seite
des Antrags. Nur wenige machten Bedenken geltend, vor allen Theodor
Mommsen, der den Abiturienten des Realgymnasiums die Pforten des juristischen
Studiums nicht öffnen wollte. Einer Befürchtung Kropatschccks, daß die Ein-


Aus der Werkstatt der Schulreform

Operation bot die Möglichkeit einer Rettung und Gesundung, Der Bericht,
den Geheimrat Matthias, seit Jahren ein entschiedner Vorkämpfer der Gleich¬
berechtigung, der Konferenz vorlegte, schloß mit einer ernsten Mahnung: Wenn
man bedenke, daß am Gymnasium zweiunddreißig, am Realgymnasium achtund¬
zwanzig und an der Oberrealschule neunzehn Berechtigungen hingen, die nicht
nach einem einheitlichen Gedanken oder einem wohldurchdachten Plane auf¬
gestellt wären, sondern gelegentlich und stückweise je nach den nugeublicklicheu
oder dauernden Bedürfnisse» der Zivil- und Militärverwaltung, so müsse mau
zugestehn, daß nicht mehr der Unterrichtsminister allein den Begriff und deu
Weg der Jugendbildung bestimme und überwache, sondern mit ihm einige
Dutzend Gewalten, deren Fordruugen mit dein eigentlichen Zweck einer höher»
Schule nichts zu thun Hütten, Für die höhere Schule müsse vor allein der
Grundsatz maßgebend sein, daß nicht diese oder jene Fachbildung ihr Zweck
sei, sondern die allgemeine Bildung, und daß nicht der Stoff, an dem sich die
Bildung des Geistes vollziehe, sondern das Maß geistiger Energie, geistiger
Empfänglichkeit und Reife, das sich an den verschiednen Stoffen entwickeln und
erweisen könne, für die Reise oder Unreife eines Schülers entscheide. „Stellen
^ so schloß das Gutachten — die verschiednen Schulen gymnasialer und realer
Art die gleichen Aufordrungen in Bezug auf dieses Maß geistiger Energie und
Kraftentwicklung, und erfüllen sie diese Anforderungen in gleichem Maße, dann
sollte man ihre Wertschätzung und Berechtigungen möglichst ausgleichen und
es den maßgebenden Behörden und Vertretern der einzelnen Ressorts, Studien¬
zweige und Berufsarten überlassen, sich in ihren Prüfungen selbst zu helfen;
die ruhige und ungestörte Entwicklung unsrer deutschen Schule und unsrer
Bildung könnte dabei nur gewinnen."

Für den Gang der Beratungen sowie für die Absichten der Instanz, bei
der am letzten Ende die Entscheidung lag, war es ein günstiges Zeichen, daß
die Berechtigungsfrage, die anfangs den achten Punkt der Tagesordnung
bildete, um die Spitze gestellt wurde. Das Kultusministerium beantragte durch
seinen Berichterstatter, die Realgymnasien und die Oberrealschule» den Gym¬
nasien insofern völlig gleichzustellen, als es sich um ein Studium handle, das
nur die allgemel'ne wissenschaftliche Vorbildung, keine darüber hinausgehenden
Spezialtenntuisse in einzelnen Fächern voraussetze; der Nachweis der etwa er-
forderlichen Spezinlkeuntnisse sei, wenn sie nicht schon auf der Schule erworben
wären, in der Regel dnrch eine Bescheinigung über den erfolgreichen Besuch
von Vorkursen auf der in Betracht kommenden Universität oder Hochschule zu
führen. Die Mehrzahl der Redner, nicht uur Vertreter der realen Bildung
und der technischen Hochschulen, sondern auch Anhänger der gymnasialen Bil-
dllng, namentlich der Kirchenhistoriker Harnack und der Philologe von Wila-
mowitz-Möllendorfs, stellten sich mit rückhaltloser Zustimmung auf die Seite
des Antrags. Nur wenige machten Bedenken geltend, vor allen Theodor
Mommsen, der den Abiturienten des Realgymnasiums die Pforten des juristischen
Studiums nicht öffnen wollte. Einer Befürchtung Kropatschccks, daß die Ein-


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[0615] Aus der Werkstatt der Schulreform Operation bot die Möglichkeit einer Rettung und Gesundung, Der Bericht, den Geheimrat Matthias, seit Jahren ein entschiedner Vorkämpfer der Gleich¬ berechtigung, der Konferenz vorlegte, schloß mit einer ernsten Mahnung: Wenn man bedenke, daß am Gymnasium zweiunddreißig, am Realgymnasium achtund¬ zwanzig und an der Oberrealschule neunzehn Berechtigungen hingen, die nicht nach einem einheitlichen Gedanken oder einem wohldurchdachten Plane auf¬ gestellt wären, sondern gelegentlich und stückweise je nach den nugeublicklicheu oder dauernden Bedürfnisse» der Zivil- und Militärverwaltung, so müsse mau zugestehn, daß nicht mehr der Unterrichtsminister allein den Begriff und deu Weg der Jugendbildung bestimme und überwache, sondern mit ihm einige Dutzend Gewalten, deren Fordruugen mit dein eigentlichen Zweck einer höher» Schule nichts zu thun Hütten, Für die höhere Schule müsse vor allein der Grundsatz maßgebend sein, daß nicht diese oder jene Fachbildung ihr Zweck sei, sondern die allgemeine Bildung, und daß nicht der Stoff, an dem sich die Bildung des Geistes vollziehe, sondern das Maß geistiger Energie, geistiger Empfänglichkeit und Reife, das sich an den verschiednen Stoffen entwickeln und erweisen könne, für die Reise oder Unreife eines Schülers entscheide. „Stellen ^ so schloß das Gutachten — die verschiednen Schulen gymnasialer und realer Art die gleichen Aufordrungen in Bezug auf dieses Maß geistiger Energie und Kraftentwicklung, und erfüllen sie diese Anforderungen in gleichem Maße, dann sollte man ihre Wertschätzung und Berechtigungen möglichst ausgleichen und es den maßgebenden Behörden und Vertretern der einzelnen Ressorts, Studien¬ zweige und Berufsarten überlassen, sich in ihren Prüfungen selbst zu helfen; die ruhige und ungestörte Entwicklung unsrer deutschen Schule und unsrer Bildung könnte dabei nur gewinnen." Für den Gang der Beratungen sowie für die Absichten der Instanz, bei der am letzten Ende die Entscheidung lag, war es ein günstiges Zeichen, daß die Berechtigungsfrage, die anfangs den achten Punkt der Tagesordnung bildete, um die Spitze gestellt wurde. Das Kultusministerium beantragte durch seinen Berichterstatter, die Realgymnasien und die Oberrealschule» den Gym¬ nasien insofern völlig gleichzustellen, als es sich um ein Studium handle, das nur die allgemel'ne wissenschaftliche Vorbildung, keine darüber hinausgehenden Spezialtenntuisse in einzelnen Fächern voraussetze; der Nachweis der etwa er- forderlichen Spezinlkeuntnisse sei, wenn sie nicht schon auf der Schule erworben wären, in der Regel dnrch eine Bescheinigung über den erfolgreichen Besuch von Vorkursen auf der in Betracht kommenden Universität oder Hochschule zu führen. Die Mehrzahl der Redner, nicht uur Vertreter der realen Bildung und der technischen Hochschulen, sondern auch Anhänger der gymnasialen Bil- dllng, namentlich der Kirchenhistoriker Harnack und der Philologe von Wila- mowitz-Möllendorfs, stellten sich mit rückhaltloser Zustimmung auf die Seite des Antrags. Nur wenige machten Bedenken geltend, vor allen Theodor Mommsen, der den Abiturienten des Realgymnasiums die Pforten des juristischen Studiums nicht öffnen wollte. Einer Befürchtung Kropatschccks, daß die Ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/615>, abgerufen am 28.09.2024.