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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Zins der Werkstatt der Schulreform

preußischen Schulreform, an dessen Schluß wir heute stehn, als ein Vorgang
von außergewöhnlicher und, wie wir gleich hinzufügen wollen, von segen-
bringendcr Wirkung erscheinen wird, läßt sich schon jetzt erkennen, wo der
Vorhang eben erst niedergegangen ist. Die verdrossene, aus Verzagen nud
Mißtrauen gemischte Stimmung, die seit einer Reihe von Jahren, mitunter
durch unbestimmte und unkontrollierbare Gerüchte gesteigert, in den Reihen der
Gymnasiallehrer umging, hat angefangen einer hoffnungsfreudigen Zuversicht
zu weichen, ein Erfolg, dessen Bedeutung und Größe nur der verkennen könnte,
der nicht wüßte, wie sehr die beste Wirkung des Unterrichts, seine ethische
Kraft, von der Stimmung des Lehrenden, sogar gegen dessen Wissen und
Wollen, beeinflußt wird. Was hier die Krisis, die Wendung zum Guten, ein¬
geleitet hat, wird deu Lesern der Grenzboten aus Otto Kaemmcls Aufsatz
über deu kaiserlichen Schnlerlaß in Erinnerung sein; das ist, um es noch einmal
zu sagen, das Verdienst der Unterrichtskonfcrenz, die in der vorjährigen Pfingst-
woche in Berlin getagt hat, und deren Beratungen vor einiger Zeit, in einem
ansehnlichen Bande vereinigt, erschienen sind. Diese Veröffentlichung war nicht
allein wegen der angedeuteten schulgeschichtlichen Stellung der Konferenz zu
begrüßen, sondern auch deshalb, weil in ihren Verhandlungen ein reicher Nieder¬
schlag pädagogischer Weisheit und Erfahrung liegt, eine Fundstätte anregender
und fruchtbarer Gedanken.

Im März 1900 hatte das preußische Unterrichtsministerium hervorragenden
Gelehrten, Schulmännern und andern "für das Schulwesen interessierte" Per¬
sönlichkeiten" zu schriftlicher Beantwortung eine Anzahl von Fragen vorgelegt,
die deu Entschluß einer durchgreifenden Ergänzung oder Revision der vor neun
Jahren erfolgten Reform erkennen ließen. Die wichtigsten dieser Fragen
standen auch auf der Tcigesordnuug der am ki. Juni eröffneten Konferenz.
Scheiden wir davon die aus, die ganz oder überwiegend didaktischer Natur
waren, weil sie sich mit dem Unterrichtsbetrieb der einzelnen Fächer beschäf¬
tigten, so bleiben besonders drei Probleme zurück, die auf deu Gesamtorganismus
der höhern Schulen gingen und gewissermaßen als die Signalstangen der wenn
nicht geplanten so doch in Erwägung gezognen Reform betrachtet werde" dürfen:
wie das Berechtigungswesen zu gestalten sei, ob sich für alle höhern Lehr¬
anstalten ein gemeinsamer lateinloser Unterbau empfehle, und ob es ratsam
scheine, den Anfang des griechischen Unterrichts von der Untertertia auf eine
höhere Klasse zu verschieben oder an Stelle des Griechischen ein wahlfreies
Englisch zu erlauben.

In der ersten dieser Fragen lag der Angelpunkt der ganzen Reform.
Seit Jahren hatten einsichtige Männer prophezeit, daß das Gymnasium an
seinen Berechtigungsprivilegicn zu Grunde gehn werde, nicht so sehr wegen
der großen Zahl der Gegner und Neider, die ihm daraus erwachse, als infolge
der unaufhörlichen Verschlechterung seines Lehrplans, gegen die es machtlos
sei, solange das Monopol seiner Berechtigungen bestehn bleibe. An diesem
Punkte war jetzt wirklich Gefahr im Verzug, nur eine rasche und gründliche


Zins der Werkstatt der Schulreform

preußischen Schulreform, an dessen Schluß wir heute stehn, als ein Vorgang
von außergewöhnlicher und, wie wir gleich hinzufügen wollen, von segen-
bringendcr Wirkung erscheinen wird, läßt sich schon jetzt erkennen, wo der
Vorhang eben erst niedergegangen ist. Die verdrossene, aus Verzagen nud
Mißtrauen gemischte Stimmung, die seit einer Reihe von Jahren, mitunter
durch unbestimmte und unkontrollierbare Gerüchte gesteigert, in den Reihen der
Gymnasiallehrer umging, hat angefangen einer hoffnungsfreudigen Zuversicht
zu weichen, ein Erfolg, dessen Bedeutung und Größe nur der verkennen könnte,
der nicht wüßte, wie sehr die beste Wirkung des Unterrichts, seine ethische
Kraft, von der Stimmung des Lehrenden, sogar gegen dessen Wissen und
Wollen, beeinflußt wird. Was hier die Krisis, die Wendung zum Guten, ein¬
geleitet hat, wird deu Lesern der Grenzboten aus Otto Kaemmcls Aufsatz
über deu kaiserlichen Schnlerlaß in Erinnerung sein; das ist, um es noch einmal
zu sagen, das Verdienst der Unterrichtskonfcrenz, die in der vorjährigen Pfingst-
woche in Berlin getagt hat, und deren Beratungen vor einiger Zeit, in einem
ansehnlichen Bande vereinigt, erschienen sind. Diese Veröffentlichung war nicht
allein wegen der angedeuteten schulgeschichtlichen Stellung der Konferenz zu
begrüßen, sondern auch deshalb, weil in ihren Verhandlungen ein reicher Nieder¬
schlag pädagogischer Weisheit und Erfahrung liegt, eine Fundstätte anregender
und fruchtbarer Gedanken.

Im März 1900 hatte das preußische Unterrichtsministerium hervorragenden
Gelehrten, Schulmännern und andern „für das Schulwesen interessierte« Per¬
sönlichkeiten" zu schriftlicher Beantwortung eine Anzahl von Fragen vorgelegt,
die deu Entschluß einer durchgreifenden Ergänzung oder Revision der vor neun
Jahren erfolgten Reform erkennen ließen. Die wichtigsten dieser Fragen
standen auch auf der Tcigesordnuug der am ki. Juni eröffneten Konferenz.
Scheiden wir davon die aus, die ganz oder überwiegend didaktischer Natur
waren, weil sie sich mit dem Unterrichtsbetrieb der einzelnen Fächer beschäf¬
tigten, so bleiben besonders drei Probleme zurück, die auf deu Gesamtorganismus
der höhern Schulen gingen und gewissermaßen als die Signalstangen der wenn
nicht geplanten so doch in Erwägung gezognen Reform betrachtet werde» dürfen:
wie das Berechtigungswesen zu gestalten sei, ob sich für alle höhern Lehr¬
anstalten ein gemeinsamer lateinloser Unterbau empfehle, und ob es ratsam
scheine, den Anfang des griechischen Unterrichts von der Untertertia auf eine
höhere Klasse zu verschieben oder an Stelle des Griechischen ein wahlfreies
Englisch zu erlauben.

In der ersten dieser Fragen lag der Angelpunkt der ganzen Reform.
Seit Jahren hatten einsichtige Männer prophezeit, daß das Gymnasium an
seinen Berechtigungsprivilegicn zu Grunde gehn werde, nicht so sehr wegen
der großen Zahl der Gegner und Neider, die ihm daraus erwachse, als infolge
der unaufhörlichen Verschlechterung seines Lehrplans, gegen die es machtlos
sei, solange das Monopol seiner Berechtigungen bestehn bleibe. An diesem
Punkte war jetzt wirklich Gefahr im Verzug, nur eine rasche und gründliche


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[0614] Zins der Werkstatt der Schulreform preußischen Schulreform, an dessen Schluß wir heute stehn, als ein Vorgang von außergewöhnlicher und, wie wir gleich hinzufügen wollen, von segen- bringendcr Wirkung erscheinen wird, läßt sich schon jetzt erkennen, wo der Vorhang eben erst niedergegangen ist. Die verdrossene, aus Verzagen nud Mißtrauen gemischte Stimmung, die seit einer Reihe von Jahren, mitunter durch unbestimmte und unkontrollierbare Gerüchte gesteigert, in den Reihen der Gymnasiallehrer umging, hat angefangen einer hoffnungsfreudigen Zuversicht zu weichen, ein Erfolg, dessen Bedeutung und Größe nur der verkennen könnte, der nicht wüßte, wie sehr die beste Wirkung des Unterrichts, seine ethische Kraft, von der Stimmung des Lehrenden, sogar gegen dessen Wissen und Wollen, beeinflußt wird. Was hier die Krisis, die Wendung zum Guten, ein¬ geleitet hat, wird deu Lesern der Grenzboten aus Otto Kaemmcls Aufsatz über deu kaiserlichen Schnlerlaß in Erinnerung sein; das ist, um es noch einmal zu sagen, das Verdienst der Unterrichtskonfcrenz, die in der vorjährigen Pfingst- woche in Berlin getagt hat, und deren Beratungen vor einiger Zeit, in einem ansehnlichen Bande vereinigt, erschienen sind. Diese Veröffentlichung war nicht allein wegen der angedeuteten schulgeschichtlichen Stellung der Konferenz zu begrüßen, sondern auch deshalb, weil in ihren Verhandlungen ein reicher Nieder¬ schlag pädagogischer Weisheit und Erfahrung liegt, eine Fundstätte anregender und fruchtbarer Gedanken. Im März 1900 hatte das preußische Unterrichtsministerium hervorragenden Gelehrten, Schulmännern und andern „für das Schulwesen interessierte« Per¬ sönlichkeiten" zu schriftlicher Beantwortung eine Anzahl von Fragen vorgelegt, die deu Entschluß einer durchgreifenden Ergänzung oder Revision der vor neun Jahren erfolgten Reform erkennen ließen. Die wichtigsten dieser Fragen standen auch auf der Tcigesordnuug der am ki. Juni eröffneten Konferenz. Scheiden wir davon die aus, die ganz oder überwiegend didaktischer Natur waren, weil sie sich mit dem Unterrichtsbetrieb der einzelnen Fächer beschäf¬ tigten, so bleiben besonders drei Probleme zurück, die auf deu Gesamtorganismus der höhern Schulen gingen und gewissermaßen als die Signalstangen der wenn nicht geplanten so doch in Erwägung gezognen Reform betrachtet werde» dürfen: wie das Berechtigungswesen zu gestalten sei, ob sich für alle höhern Lehr¬ anstalten ein gemeinsamer lateinloser Unterbau empfehle, und ob es ratsam scheine, den Anfang des griechischen Unterrichts von der Untertertia auf eine höhere Klasse zu verschieben oder an Stelle des Griechischen ein wahlfreies Englisch zu erlauben. In der ersten dieser Fragen lag der Angelpunkt der ganzen Reform. Seit Jahren hatten einsichtige Männer prophezeit, daß das Gymnasium an seinen Berechtigungsprivilegicn zu Grunde gehn werde, nicht so sehr wegen der großen Zahl der Gegner und Neider, die ihm daraus erwachse, als infolge der unaufhörlichen Verschlechterung seines Lehrplans, gegen die es machtlos sei, solange das Monopol seiner Berechtigungen bestehn bleibe. An diesem Punkte war jetzt wirklich Gefahr im Verzug, nur eine rasche und gründliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/614>, abgerufen am 01.07.2024.