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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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ivohnungs- und Bodenpolitik

dreißig Jahren namentlich in den rekrutenreichen polnischen Lmidwirtschafts-
bezirken meiner Heimat bei Vater und Mutter tagtäglich seine auch äußerlich
erkennbare Wirkung übt und dnrch die Muttermilch dem Säugling beigebracht
als das probateste Schlafmittel beliebt ist. Wie das alles eine besonders
kriegstüchtige Nachkommenschaft zustande bringt, weiß ich freilich nicht. Wohl
aber weiß ich ans der andern Seite "nieder, daß die Berliner und die Kölner
Jungen 1866 und 1870/71 an wirklicher Kriegstüchtigkeit den Bauernjungen
von der ober" und mittlern Oder nicht nnr gleich, sondern in sehr vielen Be¬
ziehungen, auch ni Ausdauer in körperlichen Strapazen, überlegen waren. Die
Rekrutenzüchtungsprobleme unsrer Sozial- und Bodenreformer lassen mich des¬
halb vorläufig noch ziemlich kalt. Auch Herr I)r. Bonne hätte die von ihm
kürzlich so gründlich und unwiderleglich nachgewiesene "Notwendigkeit der
Reinhaltung der deutschen Gewässer"*) durch einen doktrinären Exkurs in
dieses Gebiet zu unterstützen gar nicht nötig gehabt. Die schlesischen Leine¬
weber, deren Wohnverhnltmsse dem sozialreformerischeil Ideal recht nahe kamen,
waren und sind ein noch viel jämmerlicherer Schlag, als die Hamburger
Schauerleute waren, die noch in den alten Twieten und Wohnhöfen hausten.

Noch einmal: die Notwendigkeit durchgreifender Maßregeln mit großen
Mitteln gegen die Nberfülluug der Großstädte mit ihren Vororten und gegen
die sich daraus ergebenden schlechten Wohnverhältnisse namentlich der Arbeiter¬
klasse steht mir außer allem Zweifel. Ebenso aber auch, daß die von der
Regierung wohl ernstlich geplante große Hilfsaktion zum Schiffbruch führe"
muß, wenn ihr Kurs sich nicht mehr, als das vorläufig den Anschein hat, von
der doktrinären sozialistischen und bodenreformsnchtigen Zeitströmung unab¬
hängig zu halten weiß.

Daß nach 1800 die Großstädte in Preußen gar so sehr ins Kraut ge¬
schossen sind, ist in gewissem Sinne auffallend. Der Merkantilismus hatte
den "Flor der Städte" und Handel und Manufaktur in ihnen gerade in
Preußen und besonders in Berlin mit bewundernswcrtem konsequenten und
intelligentem Hochdruck fast anderthalb Jahrhunderte lang zu poussieren gewußt,
auf des Königs Kosten viel Tausende tüchtiger Gewerbsleute aus dem Ju-
und dem Ausland immer "en herbeizuholen verstanden, sie mit Wohnung und
Grundbesitz beschenkt, durch reichliche Gelder lind Aufträge geschäftlich unter¬
stützt und gegen jede Konkurrenz des platten Landes "nie des Allslands nach¬
drücklichst geschützt. Berlins Bevölkerung war denn mich von 1700 bis 1800
von 28500 ans 172000, also um 143500 Köpfe oder 500 Prozent gestiegen.
Die Stein-Hardenbergischen Reformen brachen mit dieser künstlichen Grvßstadt-
züchtung grundsätzlich. Die gewaltige Vervollkommnung der Verkehrsmittel,
die später folgte, begünstigte an sich die Dezentralisation der gewerblichen
Produktion ebenso sehr wie die Konzentration, und der Sieg der Maschinen¬
arbeit im großstädtischen Gewerbe mußte, sollte man meinen, die Wasserkopf-



Leipzig, F. Leineweber, 1901.
Grenzboten II 190174
ivohnungs- und Bodenpolitik

dreißig Jahren namentlich in den rekrutenreichen polnischen Lmidwirtschafts-
bezirken meiner Heimat bei Vater und Mutter tagtäglich seine auch äußerlich
erkennbare Wirkung übt und dnrch die Muttermilch dem Säugling beigebracht
als das probateste Schlafmittel beliebt ist. Wie das alles eine besonders
kriegstüchtige Nachkommenschaft zustande bringt, weiß ich freilich nicht. Wohl
aber weiß ich ans der andern Seite »nieder, daß die Berliner und die Kölner
Jungen 1866 und 1870/71 an wirklicher Kriegstüchtigkeit den Bauernjungen
von der ober» und mittlern Oder nicht nnr gleich, sondern in sehr vielen Be¬
ziehungen, auch ni Ausdauer in körperlichen Strapazen, überlegen waren. Die
Rekrutenzüchtungsprobleme unsrer Sozial- und Bodenreformer lassen mich des¬
halb vorläufig noch ziemlich kalt. Auch Herr I)r. Bonne hätte die von ihm
kürzlich so gründlich und unwiderleglich nachgewiesene „Notwendigkeit der
Reinhaltung der deutschen Gewässer"*) durch einen doktrinären Exkurs in
dieses Gebiet zu unterstützen gar nicht nötig gehabt. Die schlesischen Leine¬
weber, deren Wohnverhnltmsse dem sozialreformerischeil Ideal recht nahe kamen,
waren und sind ein noch viel jämmerlicherer Schlag, als die Hamburger
Schauerleute waren, die noch in den alten Twieten und Wohnhöfen hausten.

Noch einmal: die Notwendigkeit durchgreifender Maßregeln mit großen
Mitteln gegen die Nberfülluug der Großstädte mit ihren Vororten und gegen
die sich daraus ergebenden schlechten Wohnverhältnisse namentlich der Arbeiter¬
klasse steht mir außer allem Zweifel. Ebenso aber auch, daß die von der
Regierung wohl ernstlich geplante große Hilfsaktion zum Schiffbruch führe»
muß, wenn ihr Kurs sich nicht mehr, als das vorläufig den Anschein hat, von
der doktrinären sozialistischen und bodenreformsnchtigen Zeitströmung unab¬
hängig zu halten weiß.

Daß nach 1800 die Großstädte in Preußen gar so sehr ins Kraut ge¬
schossen sind, ist in gewissem Sinne auffallend. Der Merkantilismus hatte
den „Flor der Städte" und Handel und Manufaktur in ihnen gerade in
Preußen und besonders in Berlin mit bewundernswcrtem konsequenten und
intelligentem Hochdruck fast anderthalb Jahrhunderte lang zu poussieren gewußt,
auf des Königs Kosten viel Tausende tüchtiger Gewerbsleute aus dem Ju-
und dem Ausland immer »en herbeizuholen verstanden, sie mit Wohnung und
Grundbesitz beschenkt, durch reichliche Gelder lind Aufträge geschäftlich unter¬
stützt und gegen jede Konkurrenz des platten Landes »nie des Allslands nach¬
drücklichst geschützt. Berlins Bevölkerung war denn mich von 1700 bis 1800
von 28500 ans 172000, also um 143500 Köpfe oder 500 Prozent gestiegen.
Die Stein-Hardenbergischen Reformen brachen mit dieser künstlichen Grvßstadt-
züchtung grundsätzlich. Die gewaltige Vervollkommnung der Verkehrsmittel,
die später folgte, begünstigte an sich die Dezentralisation der gewerblichen
Produktion ebenso sehr wie die Konzentration, und der Sieg der Maschinen¬
arbeit im großstädtischen Gewerbe mußte, sollte man meinen, die Wasserkopf-



Leipzig, F. Leineweber, 1901.
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[0593] ivohnungs- und Bodenpolitik dreißig Jahren namentlich in den rekrutenreichen polnischen Lmidwirtschafts- bezirken meiner Heimat bei Vater und Mutter tagtäglich seine auch äußerlich erkennbare Wirkung übt und dnrch die Muttermilch dem Säugling beigebracht als das probateste Schlafmittel beliebt ist. Wie das alles eine besonders kriegstüchtige Nachkommenschaft zustande bringt, weiß ich freilich nicht. Wohl aber weiß ich ans der andern Seite »nieder, daß die Berliner und die Kölner Jungen 1866 und 1870/71 an wirklicher Kriegstüchtigkeit den Bauernjungen von der ober» und mittlern Oder nicht nnr gleich, sondern in sehr vielen Be¬ ziehungen, auch ni Ausdauer in körperlichen Strapazen, überlegen waren. Die Rekrutenzüchtungsprobleme unsrer Sozial- und Bodenreformer lassen mich des¬ halb vorläufig noch ziemlich kalt. Auch Herr I)r. Bonne hätte die von ihm kürzlich so gründlich und unwiderleglich nachgewiesene „Notwendigkeit der Reinhaltung der deutschen Gewässer"*) durch einen doktrinären Exkurs in dieses Gebiet zu unterstützen gar nicht nötig gehabt. Die schlesischen Leine¬ weber, deren Wohnverhnltmsse dem sozialreformerischeil Ideal recht nahe kamen, waren und sind ein noch viel jämmerlicherer Schlag, als die Hamburger Schauerleute waren, die noch in den alten Twieten und Wohnhöfen hausten. Noch einmal: die Notwendigkeit durchgreifender Maßregeln mit großen Mitteln gegen die Nberfülluug der Großstädte mit ihren Vororten und gegen die sich daraus ergebenden schlechten Wohnverhältnisse namentlich der Arbeiter¬ klasse steht mir außer allem Zweifel. Ebenso aber auch, daß die von der Regierung wohl ernstlich geplante große Hilfsaktion zum Schiffbruch führe» muß, wenn ihr Kurs sich nicht mehr, als das vorläufig den Anschein hat, von der doktrinären sozialistischen und bodenreformsnchtigen Zeitströmung unab¬ hängig zu halten weiß. Daß nach 1800 die Großstädte in Preußen gar so sehr ins Kraut ge¬ schossen sind, ist in gewissem Sinne auffallend. Der Merkantilismus hatte den „Flor der Städte" und Handel und Manufaktur in ihnen gerade in Preußen und besonders in Berlin mit bewundernswcrtem konsequenten und intelligentem Hochdruck fast anderthalb Jahrhunderte lang zu poussieren gewußt, auf des Königs Kosten viel Tausende tüchtiger Gewerbsleute aus dem Ju- und dem Ausland immer »en herbeizuholen verstanden, sie mit Wohnung und Grundbesitz beschenkt, durch reichliche Gelder lind Aufträge geschäftlich unter¬ stützt und gegen jede Konkurrenz des platten Landes »nie des Allslands nach¬ drücklichst geschützt. Berlins Bevölkerung war denn mich von 1700 bis 1800 von 28500 ans 172000, also um 143500 Köpfe oder 500 Prozent gestiegen. Die Stein-Hardenbergischen Reformen brachen mit dieser künstlichen Grvßstadt- züchtung grundsätzlich. Die gewaltige Vervollkommnung der Verkehrsmittel, die später folgte, begünstigte an sich die Dezentralisation der gewerblichen Produktion ebenso sehr wie die Konzentration, und der Sieg der Maschinen¬ arbeit im großstädtischen Gewerbe mußte, sollte man meinen, die Wasserkopf- Leipzig, F. Leineweber, 1901. Grenzboten II 190174

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/593>, abgerufen am 03.07.2024.