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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Ivohnungs- und Lodenpolitik

Jahrhundert wäre mit der Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit meist der ganze
seit Jahrhunderten bestehende Vorzug der Städte für Gewerbe und Handel
gefallen. Stadt und Land seien sich überall rechtlich gleich gestellt wurden;
die städtischen Mauern seien, mit Ausnahme einzelner Festungen, überall ge-
fallen, in Preußen schon uuter Friedrich Wilhelm I. Noch weniger hätte"
die Dörfer weiter solchen Schutzes bedurft: "immer reiner und unbedingter
konnten die natürlichen und die volkswirtschaftlichen Ursachen die ganze Be¬
völkerungsverteilung im Raum beherrschen, zumal wo eine ante moderne Ge-
mcindegesetzgebung und eine gute Bau- und Gesundheits- und Niederlassungs¬
polizei jeder gesunden lokalen WirtschaftseutUncklung gleichmäßig Licht lind Luft
zum Gedeihen sicherte, während im achtzehnten Jahrhundert zwar die von
fürstlicher Politik besonders begünstigten Residenzen, Handels- und Manufaktur-
städte sich vergrößert hatten, aber in allen andern Städten und auf dem platte"
Lande das starre Herkommen kaum eine Änderung gestattet hatte."

Freilich ohne Bedenken und Schattenseiten sei die Wandrung auch heute
uicht. Bücher sagte mit Recht, der Zug nach der Stadt versetze zahlreiche
Menschen fast plötzlich ans einer natural- in eine geld- und kreditwirtschaft¬
liche Lebenssphüre, und die sozialen Gewohnheiten seien dadurch in einer Weise
bedroht, die den Menschenfreund mit schweren Sorgen erfülle. Aber er fügte
hinzu, man überschätze oft die Mobilisierung der Gesellschaft sehr. Der heutige
Arbeiter "wandre" weniger als früher der Geselle -- was doch aber nur
in recht beschränktem Sinne richtig ist --, und die Mehrzahl der Wcm-
druugen suche ihr Ziel in der Nähe, oft nnr im nächsten Dorf -- was für
das ostdeutsche Landfluchtgebiet sicher nicht mehr richtig ist. Und im ganzen
entspreche die Wandrung eben der durch den neuen Verkehr nötig gewordnen
Verlegung aller Standorte der Industrie und der Landwirtschaft, der Um¬
bildung aus den Zuständen der Stadt- und Territorial- in die der Natioual-
und Weltwirtschaft.

Die Sorgen, die sich Bücher wegen der veränderten Lebensweise der in
die Großstadt gewanderter Landleute macht, sind nur zu sehr gerechtfertigt,
wie ich schon bei der Besprechung der Nanchbergschen Akklimatisatioustheorie
anerkannt habe, und woran ja auch niemand zweifelt. Auch was Schmoller
sonst über die physisch und die sittlich nachteiligen Einflüsse des Stadtlebens
im Vergleich mit dem Landleben sagt, ist sehr gut und hundertmal maßvoller
als die Behauptungen mancher seiner Schüler, nach denen in den Großstädten
bei der jetzigen Bauart der Wohnhäuser überhaupt nur noch ein geistig und
körperlich ganz verkommnes Gesindel heranwachsen könnte. Es ist hier nicht
Raum, ans diese teils agitatorischen, teils ultradoktrinären Übertreibungen der
Erdgeruchfanatiker näher einzugehn. Aus Erfahrung weiß ich, wie ideal die
"kleinen Leute" in den Dörfern an der Oder und anch in Teilen der Eifel
und des Hunsrücks leben, wo die Kohlnahrung eigentlich erst durch die
Kartoffeltost ersetzt ist, Brot und Mehl aber weniger mitspricht als an der
Unterelbe Fleisch. Ich weiß auch, wie der Kartofselschuaps heute wie vor


Ivohnungs- und Lodenpolitik

Jahrhundert wäre mit der Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit meist der ganze
seit Jahrhunderten bestehende Vorzug der Städte für Gewerbe und Handel
gefallen. Stadt und Land seien sich überall rechtlich gleich gestellt wurden;
die städtischen Mauern seien, mit Ausnahme einzelner Festungen, überall ge-
fallen, in Preußen schon uuter Friedrich Wilhelm I. Noch weniger hätte»
die Dörfer weiter solchen Schutzes bedurft: „immer reiner und unbedingter
konnten die natürlichen und die volkswirtschaftlichen Ursachen die ganze Be¬
völkerungsverteilung im Raum beherrschen, zumal wo eine ante moderne Ge-
mcindegesetzgebung und eine gute Bau- und Gesundheits- und Niederlassungs¬
polizei jeder gesunden lokalen WirtschaftseutUncklung gleichmäßig Licht lind Luft
zum Gedeihen sicherte, während im achtzehnten Jahrhundert zwar die von
fürstlicher Politik besonders begünstigten Residenzen, Handels- und Manufaktur-
städte sich vergrößert hatten, aber in allen andern Städten und auf dem platte»
Lande das starre Herkommen kaum eine Änderung gestattet hatte."

Freilich ohne Bedenken und Schattenseiten sei die Wandrung auch heute
uicht. Bücher sagte mit Recht, der Zug nach der Stadt versetze zahlreiche
Menschen fast plötzlich ans einer natural- in eine geld- und kreditwirtschaft¬
liche Lebenssphüre, und die sozialen Gewohnheiten seien dadurch in einer Weise
bedroht, die den Menschenfreund mit schweren Sorgen erfülle. Aber er fügte
hinzu, man überschätze oft die Mobilisierung der Gesellschaft sehr. Der heutige
Arbeiter „wandre" weniger als früher der Geselle — was doch aber nur
in recht beschränktem Sinne richtig ist —, und die Mehrzahl der Wcm-
druugen suche ihr Ziel in der Nähe, oft nnr im nächsten Dorf — was für
das ostdeutsche Landfluchtgebiet sicher nicht mehr richtig ist. Und im ganzen
entspreche die Wandrung eben der durch den neuen Verkehr nötig gewordnen
Verlegung aller Standorte der Industrie und der Landwirtschaft, der Um¬
bildung aus den Zuständen der Stadt- und Territorial- in die der Natioual-
und Weltwirtschaft.

Die Sorgen, die sich Bücher wegen der veränderten Lebensweise der in
die Großstadt gewanderter Landleute macht, sind nur zu sehr gerechtfertigt,
wie ich schon bei der Besprechung der Nanchbergschen Akklimatisatioustheorie
anerkannt habe, und woran ja auch niemand zweifelt. Auch was Schmoller
sonst über die physisch und die sittlich nachteiligen Einflüsse des Stadtlebens
im Vergleich mit dem Landleben sagt, ist sehr gut und hundertmal maßvoller
als die Behauptungen mancher seiner Schüler, nach denen in den Großstädten
bei der jetzigen Bauart der Wohnhäuser überhaupt nur noch ein geistig und
körperlich ganz verkommnes Gesindel heranwachsen könnte. Es ist hier nicht
Raum, ans diese teils agitatorischen, teils ultradoktrinären Übertreibungen der
Erdgeruchfanatiker näher einzugehn. Aus Erfahrung weiß ich, wie ideal die
„kleinen Leute" in den Dörfern an der Oder und anch in Teilen der Eifel
und des Hunsrücks leben, wo die Kohlnahrung eigentlich erst durch die
Kartoffeltost ersetzt ist, Brot und Mehl aber weniger mitspricht als an der
Unterelbe Fleisch. Ich weiß auch, wie der Kartofselschuaps heute wie vor


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[0592] Ivohnungs- und Lodenpolitik Jahrhundert wäre mit der Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit meist der ganze seit Jahrhunderten bestehende Vorzug der Städte für Gewerbe und Handel gefallen. Stadt und Land seien sich überall rechtlich gleich gestellt wurden; die städtischen Mauern seien, mit Ausnahme einzelner Festungen, überall ge- fallen, in Preußen schon uuter Friedrich Wilhelm I. Noch weniger hätte» die Dörfer weiter solchen Schutzes bedurft: „immer reiner und unbedingter konnten die natürlichen und die volkswirtschaftlichen Ursachen die ganze Be¬ völkerungsverteilung im Raum beherrschen, zumal wo eine ante moderne Ge- mcindegesetzgebung und eine gute Bau- und Gesundheits- und Niederlassungs¬ polizei jeder gesunden lokalen WirtschaftseutUncklung gleichmäßig Licht lind Luft zum Gedeihen sicherte, während im achtzehnten Jahrhundert zwar die von fürstlicher Politik besonders begünstigten Residenzen, Handels- und Manufaktur- städte sich vergrößert hatten, aber in allen andern Städten und auf dem platte» Lande das starre Herkommen kaum eine Änderung gestattet hatte." Freilich ohne Bedenken und Schattenseiten sei die Wandrung auch heute uicht. Bücher sagte mit Recht, der Zug nach der Stadt versetze zahlreiche Menschen fast plötzlich ans einer natural- in eine geld- und kreditwirtschaft¬ liche Lebenssphüre, und die sozialen Gewohnheiten seien dadurch in einer Weise bedroht, die den Menschenfreund mit schweren Sorgen erfülle. Aber er fügte hinzu, man überschätze oft die Mobilisierung der Gesellschaft sehr. Der heutige Arbeiter „wandre" weniger als früher der Geselle — was doch aber nur in recht beschränktem Sinne richtig ist —, und die Mehrzahl der Wcm- druugen suche ihr Ziel in der Nähe, oft nnr im nächsten Dorf — was für das ostdeutsche Landfluchtgebiet sicher nicht mehr richtig ist. Und im ganzen entspreche die Wandrung eben der durch den neuen Verkehr nötig gewordnen Verlegung aller Standorte der Industrie und der Landwirtschaft, der Um¬ bildung aus den Zuständen der Stadt- und Territorial- in die der Natioual- und Weltwirtschaft. Die Sorgen, die sich Bücher wegen der veränderten Lebensweise der in die Großstadt gewanderter Landleute macht, sind nur zu sehr gerechtfertigt, wie ich schon bei der Besprechung der Nanchbergschen Akklimatisatioustheorie anerkannt habe, und woran ja auch niemand zweifelt. Auch was Schmoller sonst über die physisch und die sittlich nachteiligen Einflüsse des Stadtlebens im Vergleich mit dem Landleben sagt, ist sehr gut und hundertmal maßvoller als die Behauptungen mancher seiner Schüler, nach denen in den Großstädten bei der jetzigen Bauart der Wohnhäuser überhaupt nur noch ein geistig und körperlich ganz verkommnes Gesindel heranwachsen könnte. Es ist hier nicht Raum, ans diese teils agitatorischen, teils ultradoktrinären Übertreibungen der Erdgeruchfanatiker näher einzugehn. Aus Erfahrung weiß ich, wie ideal die „kleinen Leute" in den Dörfern an der Oder und anch in Teilen der Eifel und des Hunsrücks leben, wo die Kohlnahrung eigentlich erst durch die Kartoffeltost ersetzt ist, Brot und Mehl aber weniger mitspricht als an der Unterelbe Fleisch. Ich weiß auch, wie der Kartofselschuaps heute wie vor

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/592>, abgerufen am 22.07.2024.