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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich List

Nassentheoretiker.) Dieses Element sei aber immer schwächer geworden und
jetzt ans einige kleine Provinzen des Nordostens beschränkt, sie brauchten des¬
halb, um zu der ihrer Ruhmsucht entsprechenden nationalen Größe zu gelangen,
eine starke Zufuhr von Gerinanenblnt und Germanenkrnft. Diesem Gelüst
nuisse selbstverständlich jede Möglichkeit der Befriedigung abgeschnitten werden
dnrch die Einigung und Kräftigung Dentschlands, das an England einen nütz¬
lichen Bundesgenossen finden werde, wenn sich die Politik beider Staaten einer
vernünftigen Leitung erfreue. Ein Bundesgenosse, der wenigstens zur See
Hilfe leiste (obwohl Deutschland auch seine eigne Kriegsflotte, wie auch zunächst
seine eigne Flagge, haben müsse), werde um so willkommner sein, als Frank¬
reich an Rußland seinen natürlichen Bundesgenossen habe. Denn einmal fühle
sich Rußland durch deu gemeinsamen Antagonismus gegen England zu Frank¬
reich hingezogen, dann branche es gleich diesem deutsches Gebiet um der dieses
Gebiet bewohnenden Menschen willen, weil ihm die geistigen Kräfte fehlen,
die nötig sein würden, wenn ans diesem ungeheuern Materialienhauseu eine
Wohl organisierte Knltnrnation werden sollte. Vorläufig sei Rußland nichts
als eine stets hungrige wilde Bestie, die sich getrieben fühle, jedes Nachbar¬
gebiet zu verschlingen, das sich überwältigen lasse, und es sei um so gefähr¬
licher, als es im Jahre 1900 hundert Millionen Einwohner habe" werde.
Hoffentlich werde sich Rußland darein fügen, daß der Widerstand, den es im
Westen finden müsse, seine Eroberungssucht nach Osten ablenke. Hier könne
es Großartiges für die Zivilisation wirken und sich zugleich unerschöpfliche
Quellen der Bereicherung erschließen. Es sei seine providentielle Aufgabe, die
Staaten Ost- und Mittelasiens der Barbarei und der Abschließung zu entreißen
und dort einen Handelsverkehr in Bewegung zu setzen, der ihm mehr bringen
werde, als die Einmischung in die europäische Politik, und der sür alle euro¬
päischen Staaten eine Wohlthat sein werde. (Man vergleiche damit die An¬
sichten über das Verhältnis Rußlands zu Dentschland und zu Asien, die
Anfang April dieses Jahres "ein hervorragender deutscher Staatsmann" den,
Berliner Berichterstatter der viril/ Um! ausgesprochen haben soll.) Bei der
schon, unbehilflichen Große des russischen Reichs würde die Regierung des
Zaren gut thun, auf unmittelbare Gelnetserwerbnngen z" verzichten und sich
mit der Einrichtung von Vasallenstaaten zu begnügen. Wolle es aber durchaus
erobern, so stehe ihm das unkriegerische und darum wehrlose China offen, in
dessen allmählicher Verspeisung es vou keiner europäischen Macht gestört werden
werde; denn eben die gewaltige Größe des Bissens, mit dessen Verdauung es
lange zu thun haben werde, sichere die Engländer vor einem russischen Angriff
ans Indien. In China finde Rußland unerschöpfliche Naturschätze und ein
ebenso unerschöpfliches Material zu geduldiger Arbeit abgerichteter Menschen,
die ihm Bergwerke lind Fabriken betreiben würde". Truppen an die chinesische
Grenze zu schaffen, werde für Rußland nicht schwer sein, da es Holz, Eisen
und Meuschen genug habe zum Bau von sibirischen Bahnen an den Stillen
Ozean. Um so große Dinge vollbringen zu können, müsse Nußland freilich


Friedrich List

Nassentheoretiker.) Dieses Element sei aber immer schwächer geworden und
jetzt ans einige kleine Provinzen des Nordostens beschränkt, sie brauchten des¬
halb, um zu der ihrer Ruhmsucht entsprechenden nationalen Größe zu gelangen,
eine starke Zufuhr von Gerinanenblnt und Germanenkrnft. Diesem Gelüst
nuisse selbstverständlich jede Möglichkeit der Befriedigung abgeschnitten werden
dnrch die Einigung und Kräftigung Dentschlands, das an England einen nütz¬
lichen Bundesgenossen finden werde, wenn sich die Politik beider Staaten einer
vernünftigen Leitung erfreue. Ein Bundesgenosse, der wenigstens zur See
Hilfe leiste (obwohl Deutschland auch seine eigne Kriegsflotte, wie auch zunächst
seine eigne Flagge, haben müsse), werde um so willkommner sein, als Frank¬
reich an Rußland seinen natürlichen Bundesgenossen habe. Denn einmal fühle
sich Rußland durch deu gemeinsamen Antagonismus gegen England zu Frank¬
reich hingezogen, dann branche es gleich diesem deutsches Gebiet um der dieses
Gebiet bewohnenden Menschen willen, weil ihm die geistigen Kräfte fehlen,
die nötig sein würden, wenn ans diesem ungeheuern Materialienhauseu eine
Wohl organisierte Knltnrnation werden sollte. Vorläufig sei Rußland nichts
als eine stets hungrige wilde Bestie, die sich getrieben fühle, jedes Nachbar¬
gebiet zu verschlingen, das sich überwältigen lasse, und es sei um so gefähr¬
licher, als es im Jahre 1900 hundert Millionen Einwohner habe» werde.
Hoffentlich werde sich Rußland darein fügen, daß der Widerstand, den es im
Westen finden müsse, seine Eroberungssucht nach Osten ablenke. Hier könne
es Großartiges für die Zivilisation wirken und sich zugleich unerschöpfliche
Quellen der Bereicherung erschließen. Es sei seine providentielle Aufgabe, die
Staaten Ost- und Mittelasiens der Barbarei und der Abschließung zu entreißen
und dort einen Handelsverkehr in Bewegung zu setzen, der ihm mehr bringen
werde, als die Einmischung in die europäische Politik, und der sür alle euro¬
päischen Staaten eine Wohlthat sein werde. (Man vergleiche damit die An¬
sichten über das Verhältnis Rußlands zu Dentschland und zu Asien, die
Anfang April dieses Jahres „ein hervorragender deutscher Staatsmann" den,
Berliner Berichterstatter der viril/ Um! ausgesprochen haben soll.) Bei der
schon, unbehilflichen Große des russischen Reichs würde die Regierung des
Zaren gut thun, auf unmittelbare Gelnetserwerbnngen z» verzichten und sich
mit der Einrichtung von Vasallenstaaten zu begnügen. Wolle es aber durchaus
erobern, so stehe ihm das unkriegerische und darum wehrlose China offen, in
dessen allmählicher Verspeisung es vou keiner europäischen Macht gestört werden
werde; denn eben die gewaltige Größe des Bissens, mit dessen Verdauung es
lange zu thun haben werde, sichere die Engländer vor einem russischen Angriff
ans Indien. In China finde Rußland unerschöpfliche Naturschätze und ein
ebenso unerschöpfliches Material zu geduldiger Arbeit abgerichteter Menschen,
die ihm Bergwerke lind Fabriken betreiben würde». Truppen an die chinesische
Grenze zu schaffen, werde für Rußland nicht schwer sein, da es Holz, Eisen
und Meuschen genug habe zum Bau von sibirischen Bahnen an den Stillen
Ozean. Um so große Dinge vollbringen zu können, müsse Nußland freilich


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[0501] Friedrich List Nassentheoretiker.) Dieses Element sei aber immer schwächer geworden und jetzt ans einige kleine Provinzen des Nordostens beschränkt, sie brauchten des¬ halb, um zu der ihrer Ruhmsucht entsprechenden nationalen Größe zu gelangen, eine starke Zufuhr von Gerinanenblnt und Germanenkrnft. Diesem Gelüst nuisse selbstverständlich jede Möglichkeit der Befriedigung abgeschnitten werden dnrch die Einigung und Kräftigung Dentschlands, das an England einen nütz¬ lichen Bundesgenossen finden werde, wenn sich die Politik beider Staaten einer vernünftigen Leitung erfreue. Ein Bundesgenosse, der wenigstens zur See Hilfe leiste (obwohl Deutschland auch seine eigne Kriegsflotte, wie auch zunächst seine eigne Flagge, haben müsse), werde um so willkommner sein, als Frank¬ reich an Rußland seinen natürlichen Bundesgenossen habe. Denn einmal fühle sich Rußland durch deu gemeinsamen Antagonismus gegen England zu Frank¬ reich hingezogen, dann branche es gleich diesem deutsches Gebiet um der dieses Gebiet bewohnenden Menschen willen, weil ihm die geistigen Kräfte fehlen, die nötig sein würden, wenn ans diesem ungeheuern Materialienhauseu eine Wohl organisierte Knltnrnation werden sollte. Vorläufig sei Rußland nichts als eine stets hungrige wilde Bestie, die sich getrieben fühle, jedes Nachbar¬ gebiet zu verschlingen, das sich überwältigen lasse, und es sei um so gefähr¬ licher, als es im Jahre 1900 hundert Millionen Einwohner habe» werde. Hoffentlich werde sich Rußland darein fügen, daß der Widerstand, den es im Westen finden müsse, seine Eroberungssucht nach Osten ablenke. Hier könne es Großartiges für die Zivilisation wirken und sich zugleich unerschöpfliche Quellen der Bereicherung erschließen. Es sei seine providentielle Aufgabe, die Staaten Ost- und Mittelasiens der Barbarei und der Abschließung zu entreißen und dort einen Handelsverkehr in Bewegung zu setzen, der ihm mehr bringen werde, als die Einmischung in die europäische Politik, und der sür alle euro¬ päischen Staaten eine Wohlthat sein werde. (Man vergleiche damit die An¬ sichten über das Verhältnis Rußlands zu Dentschland und zu Asien, die Anfang April dieses Jahres „ein hervorragender deutscher Staatsmann" den, Berliner Berichterstatter der viril/ Um! ausgesprochen haben soll.) Bei der schon, unbehilflichen Große des russischen Reichs würde die Regierung des Zaren gut thun, auf unmittelbare Gelnetserwerbnngen z» verzichten und sich mit der Einrichtung von Vasallenstaaten zu begnügen. Wolle es aber durchaus erobern, so stehe ihm das unkriegerische und darum wehrlose China offen, in dessen allmählicher Verspeisung es vou keiner europäischen Macht gestört werden werde; denn eben die gewaltige Größe des Bissens, mit dessen Verdauung es lange zu thun haben werde, sichere die Engländer vor einem russischen Angriff ans Indien. In China finde Rußland unerschöpfliche Naturschätze und ein ebenso unerschöpfliches Material zu geduldiger Arbeit abgerichteter Menschen, die ihm Bergwerke lind Fabriken betreiben würde». Truppen an die chinesische Grenze zu schaffen, werde für Rußland nicht schwer sein, da es Holz, Eisen und Meuschen genug habe zum Bau von sibirischen Bahnen an den Stillen Ozean. Um so große Dinge vollbringen zu können, müsse Nußland freilich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/501>, abgerufen am 03.07.2024.