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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Rindersprache und Sprachgeschichte

differeuzieruug im Anschluß an Lautwandel ist selten. Die Lautgestalt der
Wörter ist zunächst sehr einfach, Doppelkonsonanz fehlt anfangs ganz. Silben-
Verdoppelung ist häufig. Auch später erleiden die Worte im Munde des Kindes
noch viele Veränderungen dnrch Ausfall, Vertauschung, Angleichung n. a.
Beginnt das Kind sich der Wortlüegnng zu bedienen, so schafft es sich eigne
Formen nach naheliegenden Muster: seine Grammatik wird ganz von der
Analogie beherrscht. Auch beim Schaffen der Bezeichnungen verfährt es weiter
mit Freiheit: unter dein Einfluß der Assoziation des Ähnlicher, des Zusammen¬
hängenden und des Entgegengesetzten bildet es eigentümliche Ausdrücke.
Unterstützt von seiner lebhaften Phantasie schafft es wohl zuweilen hübsche
Metaphern.

Ganz entsprechend ist die Entwicklung ge>vesen, die die Sprache der Mensch¬
heit durchgemacht hat. Wir können das an der Geschichte der Kultursprachen
und ihrer Mundarten, sowie an dein Ban der Sprachen von Naturvölkern
nachweisen, und wo diese uns im Stich lassen, da dürfen wir es auf Grund
der Ähnlichkeit des Kinderverstandes mit dein des Urmenschen schließen. Nur
sind die Fortschritte an vielen Stellen langsamer gewesen, als sie es jetzt bei
den Kindern sind, die bei dem wichtigsten Schritte, dem zur Erwerbung der
menschlichen Lautsprache, geleitet, und denen auch sonst die Wege sehr geebnet
werden. Zum Beispiel hat die Gebärde jedenfalls viel längere Zeit mit aus-
helfen müssen, bis die höher entwickelte Lantsprnche ihrer Dienste entraten
konnte. Die Stufenfolge aber ist genau dieselbe: Vorstufe, der Tiersprache
ähnlich, bezeichnet durch Jnterjektionen und laute Muudgebärden, Entstehung
der Gebärden-, später der Lautsprache durch Nachahmung, Einfachheit der Laut¬
gestalt und Vorwiegen der Reduplikation, Bilden von Gattungsnamen aus
Eigennamen, Scheidung von Wünschen, Fragen, Aussagen einerseits und Namen
andrerseits, Neuschöpfung vou Bezeichnungen durch mannigfaltige Übertragung,
sodaß Vieldeutigkeit und sogar Gegensinn entsteht, daun Wortzusammensetzung
und Begriffsdifferenzicrung, endlich Schöpfung grammatischer Zeichen.

Von der Stufe der Satzbildung an scheiden sich allerdings die Sprachen.
Einige, wie das Chinesische, sind Wurzelsprachen geblieben, andre find zum
Agglntiuieren, dem Anheften der formalen Zeichen an die Stämme, noch andre,
die indogermanischen und semitischen, zum Flektieren, zu einem Verschmelzen von
Stamm- und Formsilben, vorgeschritten, wieder andre, die amerikanischen und
die baskische, haben die eigentümliche Methode des Eiuverleibens ausgebildet.
Die Grenzen zwischen diesen Sprachgruppen sind übrigens fließend. Doch
bei aller Verschiedeicheit in den Ausdrucksmiitelu zeigen die Veränderungen,
die die Sprache" erleiden, überall gewisse gemeinsame Züge. Nirgends fehlen,
um nur das wichtigste zu nennen, Lautwandel, Analogiebildung und Bedeu-
tuugswandel. Und bei diesen Veränderungen zeigt sich wiederum Überein¬
stimmung mit der Sprache der Kinder, nunmehr natürlich der weiterentwickelten,
etwa drei- bis sechsjährigen Kinder.

Also die Sprache der Kleinen, ja überhaupt ihre Äußerungen geistigen


Rindersprache und Sprachgeschichte

differeuzieruug im Anschluß an Lautwandel ist selten. Die Lautgestalt der
Wörter ist zunächst sehr einfach, Doppelkonsonanz fehlt anfangs ganz. Silben-
Verdoppelung ist häufig. Auch später erleiden die Worte im Munde des Kindes
noch viele Veränderungen dnrch Ausfall, Vertauschung, Angleichung n. a.
Beginnt das Kind sich der Wortlüegnng zu bedienen, so schafft es sich eigne
Formen nach naheliegenden Muster: seine Grammatik wird ganz von der
Analogie beherrscht. Auch beim Schaffen der Bezeichnungen verfährt es weiter
mit Freiheit: unter dein Einfluß der Assoziation des Ähnlicher, des Zusammen¬
hängenden und des Entgegengesetzten bildet es eigentümliche Ausdrücke.
Unterstützt von seiner lebhaften Phantasie schafft es wohl zuweilen hübsche
Metaphern.

Ganz entsprechend ist die Entwicklung ge>vesen, die die Sprache der Mensch¬
heit durchgemacht hat. Wir können das an der Geschichte der Kultursprachen
und ihrer Mundarten, sowie an dein Ban der Sprachen von Naturvölkern
nachweisen, und wo diese uns im Stich lassen, da dürfen wir es auf Grund
der Ähnlichkeit des Kinderverstandes mit dein des Urmenschen schließen. Nur
sind die Fortschritte an vielen Stellen langsamer gewesen, als sie es jetzt bei
den Kindern sind, die bei dem wichtigsten Schritte, dem zur Erwerbung der
menschlichen Lautsprache, geleitet, und denen auch sonst die Wege sehr geebnet
werden. Zum Beispiel hat die Gebärde jedenfalls viel längere Zeit mit aus-
helfen müssen, bis die höher entwickelte Lantsprnche ihrer Dienste entraten
konnte. Die Stufenfolge aber ist genau dieselbe: Vorstufe, der Tiersprache
ähnlich, bezeichnet durch Jnterjektionen und laute Muudgebärden, Entstehung
der Gebärden-, später der Lautsprache durch Nachahmung, Einfachheit der Laut¬
gestalt und Vorwiegen der Reduplikation, Bilden von Gattungsnamen aus
Eigennamen, Scheidung von Wünschen, Fragen, Aussagen einerseits und Namen
andrerseits, Neuschöpfung vou Bezeichnungen durch mannigfaltige Übertragung,
sodaß Vieldeutigkeit und sogar Gegensinn entsteht, daun Wortzusammensetzung
und Begriffsdifferenzicrung, endlich Schöpfung grammatischer Zeichen.

Von der Stufe der Satzbildung an scheiden sich allerdings die Sprachen.
Einige, wie das Chinesische, sind Wurzelsprachen geblieben, andre find zum
Agglntiuieren, dem Anheften der formalen Zeichen an die Stämme, noch andre,
die indogermanischen und semitischen, zum Flektieren, zu einem Verschmelzen von
Stamm- und Formsilben, vorgeschritten, wieder andre, die amerikanischen und
die baskische, haben die eigentümliche Methode des Eiuverleibens ausgebildet.
Die Grenzen zwischen diesen Sprachgruppen sind übrigens fließend. Doch
bei aller Verschiedeicheit in den Ausdrucksmiitelu zeigen die Veränderungen,
die die Sprache» erleiden, überall gewisse gemeinsame Züge. Nirgends fehlen,
um nur das wichtigste zu nennen, Lautwandel, Analogiebildung und Bedeu-
tuugswandel. Und bei diesen Veränderungen zeigt sich wiederum Überein¬
stimmung mit der Sprache der Kinder, nunmehr natürlich der weiterentwickelten,
etwa drei- bis sechsjährigen Kinder.

Also die Sprache der Kleinen, ja überhaupt ihre Äußerungen geistigen


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[0471] Rindersprache und Sprachgeschichte differeuzieruug im Anschluß an Lautwandel ist selten. Die Lautgestalt der Wörter ist zunächst sehr einfach, Doppelkonsonanz fehlt anfangs ganz. Silben- Verdoppelung ist häufig. Auch später erleiden die Worte im Munde des Kindes noch viele Veränderungen dnrch Ausfall, Vertauschung, Angleichung n. a. Beginnt das Kind sich der Wortlüegnng zu bedienen, so schafft es sich eigne Formen nach naheliegenden Muster: seine Grammatik wird ganz von der Analogie beherrscht. Auch beim Schaffen der Bezeichnungen verfährt es weiter mit Freiheit: unter dein Einfluß der Assoziation des Ähnlicher, des Zusammen¬ hängenden und des Entgegengesetzten bildet es eigentümliche Ausdrücke. Unterstützt von seiner lebhaften Phantasie schafft es wohl zuweilen hübsche Metaphern. Ganz entsprechend ist die Entwicklung ge>vesen, die die Sprache der Mensch¬ heit durchgemacht hat. Wir können das an der Geschichte der Kultursprachen und ihrer Mundarten, sowie an dein Ban der Sprachen von Naturvölkern nachweisen, und wo diese uns im Stich lassen, da dürfen wir es auf Grund der Ähnlichkeit des Kinderverstandes mit dein des Urmenschen schließen. Nur sind die Fortschritte an vielen Stellen langsamer gewesen, als sie es jetzt bei den Kindern sind, die bei dem wichtigsten Schritte, dem zur Erwerbung der menschlichen Lautsprache, geleitet, und denen auch sonst die Wege sehr geebnet werden. Zum Beispiel hat die Gebärde jedenfalls viel längere Zeit mit aus- helfen müssen, bis die höher entwickelte Lantsprnche ihrer Dienste entraten konnte. Die Stufenfolge aber ist genau dieselbe: Vorstufe, der Tiersprache ähnlich, bezeichnet durch Jnterjektionen und laute Muudgebärden, Entstehung der Gebärden-, später der Lautsprache durch Nachahmung, Einfachheit der Laut¬ gestalt und Vorwiegen der Reduplikation, Bilden von Gattungsnamen aus Eigennamen, Scheidung von Wünschen, Fragen, Aussagen einerseits und Namen andrerseits, Neuschöpfung vou Bezeichnungen durch mannigfaltige Übertragung, sodaß Vieldeutigkeit und sogar Gegensinn entsteht, daun Wortzusammensetzung und Begriffsdifferenzicrung, endlich Schöpfung grammatischer Zeichen. Von der Stufe der Satzbildung an scheiden sich allerdings die Sprachen. Einige, wie das Chinesische, sind Wurzelsprachen geblieben, andre find zum Agglntiuieren, dem Anheften der formalen Zeichen an die Stämme, noch andre, die indogermanischen und semitischen, zum Flektieren, zu einem Verschmelzen von Stamm- und Formsilben, vorgeschritten, wieder andre, die amerikanischen und die baskische, haben die eigentümliche Methode des Eiuverleibens ausgebildet. Die Grenzen zwischen diesen Sprachgruppen sind übrigens fließend. Doch bei aller Verschiedeicheit in den Ausdrucksmiitelu zeigen die Veränderungen, die die Sprache» erleiden, überall gewisse gemeinsame Züge. Nirgends fehlen, um nur das wichtigste zu nennen, Lautwandel, Analogiebildung und Bedeu- tuugswandel. Und bei diesen Veränderungen zeigt sich wiederum Überein¬ stimmung mit der Sprache der Kinder, nunmehr natürlich der weiterentwickelten, etwa drei- bis sechsjährigen Kinder. Also die Sprache der Kleinen, ja überhaupt ihre Äußerungen geistigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/471>, abgerufen am 01.07.2024.