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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Kindersprache und Sprachgeschichte

eingegangen, sondern nur kurz angedeutet werden, wie man sich die Entstehung
der menschlichen Sprache much ohne Zuhilfenahme solcher angebornen Lunte
denke" kann.

Natürlich hat der Mensch, ehe er daS erworben hat, was wir menschliche
Sprache nennen, eine der Tiersprache ähnliche gehabt. Daß es eine Tier¬
sprache giebt, ist ja bekannt. Viele Tiere benutzen die Laute und Bewegungen,
die ihnen die Natur gegeben hat, "in ihr Begehren auszudrücken. So habe"
die Affe" eine Grimassen- und Gebärdensprache, viele Vögel eine Lautsprache.
Und mit den Warnrufeil, wie sie die Gemse" hören lassen, erheben sich die
Tiere schon über den Standpunkt der Mitteilung des eignen Seelenznstands
und nähern sich der eines äußern Vorgangs. Auf dieser Sose hat auch der
Mensch einst gestanden; er ist aber über sie hinausgeschritten, als er die Ent¬
deckung machte, daß sich durch Nachahmung, zuerst durch malende Gebärden,
da"" durch malende Laute, die Dinge der Außenwelt bezeichnen lassen. Die
Entdeckung mochte, nachdem vielleicht eine längere Zeit spielender Übung, eines
Nachahmers von Bewegungen und Lauten zur Ergötzung und Unterhnltnng,
wie wir solches auch bei unsern Kindern beobachte", vorhergegangen war,
eines Tags rein zufällig gemacht worden sein. Das Bedürfnis nach Mit-
teilung, su wohl geradezu die Not zwang aber bald, sie zu verwerten. So
traten diese Nachahmungen in den Dienst des geistigen Verkehrs. Mit der
ersten Gebärde aber, die einen gewünschten oder gefürchteten Gegenstand oder
vielmehr eine auf deu betreffenden Gegenstand gerichtete Begierde oder Furcht
-- denn zunächst waren auch die neuen Ausdrücke Zeichen ganzer Gedanke",
eines Wunsches, einer Bitte, einer Warnung; Namen für die Gegenstände,
Zeichen von Vorstellungen wurden sie erst später --, mit der ersten Gebärde,
die einen solchen Gedanke" durch Nachahmung, etwa einer Bewegung des
Gegenstands, bezeichnete, war ein Schritt gethan, den das Tier mit seiner
niedrigern Intelligenz nicht nachthun kann. Und mit dem ersten Schrei, der
zu demselben Zwecke einen Laut nachahmte, war die der Gebärdensprache noch
weit überlegne Lnntsprachc gegeben. Das aber, was dem Menschen diese
Schritte über die Äußerungen der Tiersprache hinaus ermöglichte, ist eine
Fähigkeit, die dem Tiere so gut wie ganz versagt ist, das Abstraktionsver¬
mögen; dieses setzt ihn in den Stand, von dem, was in einem Auschauungs-
komplexe, z. B. der Anschauung eines sich bewegenden oder schreienden Tieres,
gegeben ist, einen Teil (die Bewegung oder den Schrei) getrennt vorzustellen,
auch weil" dieser, wie die Bewegung, an und für sich mianschanlich ist.

Vielleicht können wir uns die Verwendung der Onomatvpöie auch noch
mannigfaltiger denken, als wir sie bei unsern Kleinen beobachten. Sie er¬
streckte sich' vermutlich nicht bloß ans Laute, also uicht nur auf Geräusche
(vergl. das nachahmende Kinderwort patsch für Hand), Verstimmen (vergl.
wauwau) und menschliche Interaktionen (vergl. sotto), sondern griff, symbolisch
andeutend, auch auf andre Wahrnehmungsgebietc über, suchte also auch Tast-
und Gesichtsvvrstellilngen, die Weichheit, die langsame Bewegung, die große


Kindersprache und Sprachgeschichte

eingegangen, sondern nur kurz angedeutet werden, wie man sich die Entstehung
der menschlichen Sprache much ohne Zuhilfenahme solcher angebornen Lunte
denke» kann.

Natürlich hat der Mensch, ehe er daS erworben hat, was wir menschliche
Sprache nennen, eine der Tiersprache ähnliche gehabt. Daß es eine Tier¬
sprache giebt, ist ja bekannt. Viele Tiere benutzen die Laute und Bewegungen,
die ihnen die Natur gegeben hat, »in ihr Begehren auszudrücken. So habe»
die Affe» eine Grimassen- und Gebärdensprache, viele Vögel eine Lautsprache.
Und mit den Warnrufeil, wie sie die Gemse» hören lassen, erheben sich die
Tiere schon über den Standpunkt der Mitteilung des eignen Seelenznstands
und nähern sich der eines äußern Vorgangs. Auf dieser Sose hat auch der
Mensch einst gestanden; er ist aber über sie hinausgeschritten, als er die Ent¬
deckung machte, daß sich durch Nachahmung, zuerst durch malende Gebärden,
da»» durch malende Laute, die Dinge der Außenwelt bezeichnen lassen. Die
Entdeckung mochte, nachdem vielleicht eine längere Zeit spielender Übung, eines
Nachahmers von Bewegungen und Lauten zur Ergötzung und Unterhnltnng,
wie wir solches auch bei unsern Kindern beobachte», vorhergegangen war,
eines Tags rein zufällig gemacht worden sein. Das Bedürfnis nach Mit-
teilung, su wohl geradezu die Not zwang aber bald, sie zu verwerten. So
traten diese Nachahmungen in den Dienst des geistigen Verkehrs. Mit der
ersten Gebärde aber, die einen gewünschten oder gefürchteten Gegenstand oder
vielmehr eine auf deu betreffenden Gegenstand gerichtete Begierde oder Furcht
— denn zunächst waren auch die neuen Ausdrücke Zeichen ganzer Gedanke»,
eines Wunsches, einer Bitte, einer Warnung; Namen für die Gegenstände,
Zeichen von Vorstellungen wurden sie erst später —, mit der ersten Gebärde,
die einen solchen Gedanke» durch Nachahmung, etwa einer Bewegung des
Gegenstands, bezeichnete, war ein Schritt gethan, den das Tier mit seiner
niedrigern Intelligenz nicht nachthun kann. Und mit dem ersten Schrei, der
zu demselben Zwecke einen Laut nachahmte, war die der Gebärdensprache noch
weit überlegne Lnntsprachc gegeben. Das aber, was dem Menschen diese
Schritte über die Äußerungen der Tiersprache hinaus ermöglichte, ist eine
Fähigkeit, die dem Tiere so gut wie ganz versagt ist, das Abstraktionsver¬
mögen; dieses setzt ihn in den Stand, von dem, was in einem Auschauungs-
komplexe, z. B. der Anschauung eines sich bewegenden oder schreienden Tieres,
gegeben ist, einen Teil (die Bewegung oder den Schrei) getrennt vorzustellen,
auch weil» dieser, wie die Bewegung, an und für sich mianschanlich ist.

Vielleicht können wir uns die Verwendung der Onomatvpöie auch noch
mannigfaltiger denken, als wir sie bei unsern Kleinen beobachten. Sie er¬
streckte sich' vermutlich nicht bloß ans Laute, also uicht nur auf Geräusche
(vergl. das nachahmende Kinderwort patsch für Hand), Verstimmen (vergl.
wauwau) und menschliche Interaktionen (vergl. sotto), sondern griff, symbolisch
andeutend, auch auf andre Wahrnehmungsgebietc über, suchte also auch Tast-
und Gesichtsvvrstellilngen, die Weichheit, die langsame Bewegung, die große


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[0467] Kindersprache und Sprachgeschichte eingegangen, sondern nur kurz angedeutet werden, wie man sich die Entstehung der menschlichen Sprache much ohne Zuhilfenahme solcher angebornen Lunte denke» kann. Natürlich hat der Mensch, ehe er daS erworben hat, was wir menschliche Sprache nennen, eine der Tiersprache ähnliche gehabt. Daß es eine Tier¬ sprache giebt, ist ja bekannt. Viele Tiere benutzen die Laute und Bewegungen, die ihnen die Natur gegeben hat, »in ihr Begehren auszudrücken. So habe» die Affe» eine Grimassen- und Gebärdensprache, viele Vögel eine Lautsprache. Und mit den Warnrufeil, wie sie die Gemse» hören lassen, erheben sich die Tiere schon über den Standpunkt der Mitteilung des eignen Seelenznstands und nähern sich der eines äußern Vorgangs. Auf dieser Sose hat auch der Mensch einst gestanden; er ist aber über sie hinausgeschritten, als er die Ent¬ deckung machte, daß sich durch Nachahmung, zuerst durch malende Gebärden, da»» durch malende Laute, die Dinge der Außenwelt bezeichnen lassen. Die Entdeckung mochte, nachdem vielleicht eine längere Zeit spielender Übung, eines Nachahmers von Bewegungen und Lauten zur Ergötzung und Unterhnltnng, wie wir solches auch bei unsern Kindern beobachte», vorhergegangen war, eines Tags rein zufällig gemacht worden sein. Das Bedürfnis nach Mit- teilung, su wohl geradezu die Not zwang aber bald, sie zu verwerten. So traten diese Nachahmungen in den Dienst des geistigen Verkehrs. Mit der ersten Gebärde aber, die einen gewünschten oder gefürchteten Gegenstand oder vielmehr eine auf deu betreffenden Gegenstand gerichtete Begierde oder Furcht — denn zunächst waren auch die neuen Ausdrücke Zeichen ganzer Gedanke», eines Wunsches, einer Bitte, einer Warnung; Namen für die Gegenstände, Zeichen von Vorstellungen wurden sie erst später —, mit der ersten Gebärde, die einen solchen Gedanke» durch Nachahmung, etwa einer Bewegung des Gegenstands, bezeichnete, war ein Schritt gethan, den das Tier mit seiner niedrigern Intelligenz nicht nachthun kann. Und mit dem ersten Schrei, der zu demselben Zwecke einen Laut nachahmte, war die der Gebärdensprache noch weit überlegne Lnntsprachc gegeben. Das aber, was dem Menschen diese Schritte über die Äußerungen der Tiersprache hinaus ermöglichte, ist eine Fähigkeit, die dem Tiere so gut wie ganz versagt ist, das Abstraktionsver¬ mögen; dieses setzt ihn in den Stand, von dem, was in einem Auschauungs- komplexe, z. B. der Anschauung eines sich bewegenden oder schreienden Tieres, gegeben ist, einen Teil (die Bewegung oder den Schrei) getrennt vorzustellen, auch weil» dieser, wie die Bewegung, an und für sich mianschanlich ist. Vielleicht können wir uns die Verwendung der Onomatvpöie auch noch mannigfaltiger denken, als wir sie bei unsern Kleinen beobachten. Sie er¬ streckte sich' vermutlich nicht bloß ans Laute, also uicht nur auf Geräusche (vergl. das nachahmende Kinderwort patsch für Hand), Verstimmen (vergl. wauwau) und menschliche Interaktionen (vergl. sotto), sondern griff, symbolisch andeutend, auch auf andre Wahrnehmungsgebietc über, suchte also auch Tast- und Gesichtsvvrstellilngen, die Weichheit, die langsame Bewegung, die große

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/467>, abgerufen am 24.08.2024.