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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Kipling und Tolstoi

echteres anzuführen wüßte. Paßt es deshalb auf unsre vornehmen Bühnen?
Ich bezweifle das. So ernst seine Moral ist, so werden wir doch moralisch
zu sehr verletzt von diesem fast völligen sittlichen Jndifferentismus und ästhe¬
tisch verletzt durch die nackte Roheit dieser Greuelszencn. Nicht alles, was zum
Leben gehört, gehört auch auf die Bühne. Die Kunst soll das Leben so wahr
schildern, als sie es vermag; aber sie soll es künstlerisch in den Grenzen von
Moral und Geschmack schildern, sie darf nicht das Leben selbst auf die Bühne
übertragen wollen. Wir sind auch in Deutschland schon weit auf diesem Wege
gekommen und beginnen erst ganz leise wieder in andre Richtung einzulenken.
Was sieht man nicht alles auf der Bühne an krasser, ja roher Natürlichkeit!
An halb- oder dreiviertel nackte Weiber siud wir längst gewöhnt, und ich hätte
nichts gegen sie einzuwenden, außer daß sie oft nicht bloß nackt, sondern obszön
sind. Aber gebärende Frauen, in allen Formen und an den interessantesten
Krankheiten sterbende Leute. mit größter Ausführlichkeit und Akkuratesse sterbende
Leute -- das sind schon Seitenstücke zu dem Kindesmorde in der "Macht der
Finsternis." Dazu kommt die Sucht nach Pracht, nach Vollständigkeit in der
Ausstattung. Wie weit entfernt haben wir uns von der Zeit, wo Shakespeare
seinen Szenenwechsel durch eine Aufschrift auf einer Tafel dem Zuschauer an¬
zeigte, dessen Phantasie das übrige leisten mußte! Die prunkvollste Ausstattung
genügt heute nicht mehr: sie muß der Phantasie möglichst wenig überlassen,
sie muß möglichst wirklich sein. Die Meininger haben das gefördert. Für
einen Sickingen muß die Rüstung, die der historische Mann trug, jetzt auf die
Bühne kommen, für Kaiser Maximilian wird ein Jngdrock aus den Reliquien¬
kammern in Wien herbeigeschafft, genau muß Kostümkunde, Zeremoniell, kurz
alles mitspielen, was den Schein zurückdrängen, den: Sein näher bringen kann.
Zuletzt sind die Waffenstücke, Zelte, Geschmeide, Gewänder so echt und so
interessant, daß man sich in einen Antiquarladcu versetzt fühlt, und das Stück
selbst von dem Kram erdrückt wird. Das Auge, die Sinne werden gereizt,
und werden sie befriedigt, so sagt man, das Stück ist gut, ohne ans die Dichtung
viel geachtet zu haben.

Aber die Schaubühne ist nicht für das Sein da, sondern gerade für den
Schein. Wir sind seit Jahrzehnten darauf aus, im wirklichen Leben alle
"konventionellen Lügen" von uns abzuschütteln, uns so natürlich gehn zu lassen
wie möglich; und auch hierin nehmen wir uns den Engländer zum Muster,
den reisenden Engländer, meine ich, ans den mittlern Klassen, der dem Vor-
nehmen nachäfft, ohne eine vornehme Erziehung genossen zu haben. Wir wollen
jederzeit wahr, natürlich sein -- oder scheinen, und werden dabei oft unge¬
schliffen. Diese Art von Natürlichkeit verlangen wir potenziert auf der Bühne
zu sehen und gelangen dazu, der Bühne ihren wesentlichen Charakter, den
Schein, zu rauben. Die Mühe, die Phantasie spielen zu lassen, durch die
Phantasie den Schein der Bühne mit dem Sein des Lebens in Verbindung
zu setzen, wünschen wir uns zu sparen. Phantasielos, sinnlich wollen wir
unterhalten sein.


Kipling und Tolstoi

echteres anzuführen wüßte. Paßt es deshalb auf unsre vornehmen Bühnen?
Ich bezweifle das. So ernst seine Moral ist, so werden wir doch moralisch
zu sehr verletzt von diesem fast völligen sittlichen Jndifferentismus und ästhe¬
tisch verletzt durch die nackte Roheit dieser Greuelszencn. Nicht alles, was zum
Leben gehört, gehört auch auf die Bühne. Die Kunst soll das Leben so wahr
schildern, als sie es vermag; aber sie soll es künstlerisch in den Grenzen von
Moral und Geschmack schildern, sie darf nicht das Leben selbst auf die Bühne
übertragen wollen. Wir sind auch in Deutschland schon weit auf diesem Wege
gekommen und beginnen erst ganz leise wieder in andre Richtung einzulenken.
Was sieht man nicht alles auf der Bühne an krasser, ja roher Natürlichkeit!
An halb- oder dreiviertel nackte Weiber siud wir längst gewöhnt, und ich hätte
nichts gegen sie einzuwenden, außer daß sie oft nicht bloß nackt, sondern obszön
sind. Aber gebärende Frauen, in allen Formen und an den interessantesten
Krankheiten sterbende Leute. mit größter Ausführlichkeit und Akkuratesse sterbende
Leute — das sind schon Seitenstücke zu dem Kindesmorde in der „Macht der
Finsternis." Dazu kommt die Sucht nach Pracht, nach Vollständigkeit in der
Ausstattung. Wie weit entfernt haben wir uns von der Zeit, wo Shakespeare
seinen Szenenwechsel durch eine Aufschrift auf einer Tafel dem Zuschauer an¬
zeigte, dessen Phantasie das übrige leisten mußte! Die prunkvollste Ausstattung
genügt heute nicht mehr: sie muß der Phantasie möglichst wenig überlassen,
sie muß möglichst wirklich sein. Die Meininger haben das gefördert. Für
einen Sickingen muß die Rüstung, die der historische Mann trug, jetzt auf die
Bühne kommen, für Kaiser Maximilian wird ein Jngdrock aus den Reliquien¬
kammern in Wien herbeigeschafft, genau muß Kostümkunde, Zeremoniell, kurz
alles mitspielen, was den Schein zurückdrängen, den: Sein näher bringen kann.
Zuletzt sind die Waffenstücke, Zelte, Geschmeide, Gewänder so echt und so
interessant, daß man sich in einen Antiquarladcu versetzt fühlt, und das Stück
selbst von dem Kram erdrückt wird. Das Auge, die Sinne werden gereizt,
und werden sie befriedigt, so sagt man, das Stück ist gut, ohne ans die Dichtung
viel geachtet zu haben.

Aber die Schaubühne ist nicht für das Sein da, sondern gerade für den
Schein. Wir sind seit Jahrzehnten darauf aus, im wirklichen Leben alle
„konventionellen Lügen" von uns abzuschütteln, uns so natürlich gehn zu lassen
wie möglich; und auch hierin nehmen wir uns den Engländer zum Muster,
den reisenden Engländer, meine ich, ans den mittlern Klassen, der dem Vor-
nehmen nachäfft, ohne eine vornehme Erziehung genossen zu haben. Wir wollen
jederzeit wahr, natürlich sein — oder scheinen, und werden dabei oft unge¬
schliffen. Diese Art von Natürlichkeit verlangen wir potenziert auf der Bühne
zu sehen und gelangen dazu, der Bühne ihren wesentlichen Charakter, den
Schein, zu rauben. Die Mühe, die Phantasie spielen zu lassen, durch die
Phantasie den Schein der Bühne mit dem Sein des Lebens in Verbindung
zu setzen, wünschen wir uns zu sparen. Phantasielos, sinnlich wollen wir
unterhalten sein.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/35>, abgerufen am 01.07.2024.