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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Aipliug und Tolstoi

Alles zusammengenommen verlangt man für die sich abstumpfenden Sinne
nach immer sinnlichem Reizen. Nicht Schein, sondern Wirklichkeit, und zwar
immer derbere Wirklichkeit will man. Noch ist der Deutsche wohl empört,
wenn er von spanischen Stiergefechten hört. Aber das Stiergefecht ist nach
Frankreich, ja bis Paris vorgedrungen, und von Paris kommt noch heute
das meiste zuletzt auch zu uns, was den Geschmack und die Nerven angeht.
Man kann sich an alles gewöhnen, und als die Römer durch Tierkämpfe und
Gladiatoren verwöhnt waren, mußten ihre Schauspieler im Theater nicht bloß
zum Schein sterben, sondern in Wirklichkeit: es regte den Zuschauer nicht mehr
auf, wenn der tragische Held, falsches Blut vergießend, noch so naturgetreu
starb, und so mußte er wirklich getötet werden, damit das Publikum befriedigt
war. Wir werden vielleicht bis zu dieser sinnlichen Abstumpfung nicht kommen,
aber gewiß ist, daß wir uns, wenn immer geringere Anforderungen an die
Phantasie des Zuschauers gestellt werden, auf den Weg begeben, der zu immer
größern Anforderungen an die Sinnlichkeit in der Darstellung führt.

Hierzu kommt die seelische Überspannung, in die uns die modernen Dichter
der Finsternis zu versetzen bemüht sind. Der einfache Tod als Sühne für
eine Schuld genügt längst nicht mehr; eine Folterkammer wird ersonnen und
darin der Held oder die Heldin und zugleich die Seele des Zuschauers ge¬
peinigt, bis diese erschauert. In die finstersten Höhlen des Menschenlebens
werden wir am liebsten geführt. Wenn das Tolstoi thut, nun, er weiß, warum
ers thut, und wir können es versteh". Warum wir Deutschen aber die kranken
Phantasien eines Ibsen mit ihrer dramatischen Anmaßung so bewundern, das
verstehe ich nicht. Dieser düstere Moralist und seine deutschen Nachahmer er¬
heben nicht, sondern drücken uns in eine dumpfe, schwere Atmosphäre hinunter,
die uns beengt und schwächt, nicht erfrischt und stärkt. Wer soziales Elend,
sittliche Verkrüppelung kennen lernen will, braucht dazu nicht in ein Theater
zu gehn, er findet genug davon auf der Gasse; wenn ihm danach der Sinn
steht, und wer an den Anblick von Elend und Laster durch die Bühne gewöhnt
worden ist, auf den wird Armut und Vergehn im Leben einen oft nur schwachen
Eindruck machen. Statt Menschen Leidenschaften, Thaten, auch verbrecherische
zu schildern, werden Zustünde, soziale Schäden, moralische Gebrechen, über¬
spannte oder bloße Theorien lehrhaft vorgetragen, die den Zuschauer ver¬
wirren, erschüttern, ohne ihm einen Ausgang zu weisen, der zum Licht führt.
Wenn Tolstoi dies thut, schildert er volles gegenwärtiges Leben; aber wenn
wir die "Macht der Finsternis" ans unsern Bühnen sehen, werden die meisten
von dem Häßlichen darin verletzt, nur wenige vou der Kunst in dem Werke
L. von der Brügger ergötzt Werden.




Aipliug und Tolstoi

Alles zusammengenommen verlangt man für die sich abstumpfenden Sinne
nach immer sinnlichem Reizen. Nicht Schein, sondern Wirklichkeit, und zwar
immer derbere Wirklichkeit will man. Noch ist der Deutsche wohl empört,
wenn er von spanischen Stiergefechten hört. Aber das Stiergefecht ist nach
Frankreich, ja bis Paris vorgedrungen, und von Paris kommt noch heute
das meiste zuletzt auch zu uns, was den Geschmack und die Nerven angeht.
Man kann sich an alles gewöhnen, und als die Römer durch Tierkämpfe und
Gladiatoren verwöhnt waren, mußten ihre Schauspieler im Theater nicht bloß
zum Schein sterben, sondern in Wirklichkeit: es regte den Zuschauer nicht mehr
auf, wenn der tragische Held, falsches Blut vergießend, noch so naturgetreu
starb, und so mußte er wirklich getötet werden, damit das Publikum befriedigt
war. Wir werden vielleicht bis zu dieser sinnlichen Abstumpfung nicht kommen,
aber gewiß ist, daß wir uns, wenn immer geringere Anforderungen an die
Phantasie des Zuschauers gestellt werden, auf den Weg begeben, der zu immer
größern Anforderungen an die Sinnlichkeit in der Darstellung führt.

Hierzu kommt die seelische Überspannung, in die uns die modernen Dichter
der Finsternis zu versetzen bemüht sind. Der einfache Tod als Sühne für
eine Schuld genügt längst nicht mehr; eine Folterkammer wird ersonnen und
darin der Held oder die Heldin und zugleich die Seele des Zuschauers ge¬
peinigt, bis diese erschauert. In die finstersten Höhlen des Menschenlebens
werden wir am liebsten geführt. Wenn das Tolstoi thut, nun, er weiß, warum
ers thut, und wir können es versteh». Warum wir Deutschen aber die kranken
Phantasien eines Ibsen mit ihrer dramatischen Anmaßung so bewundern, das
verstehe ich nicht. Dieser düstere Moralist und seine deutschen Nachahmer er¬
heben nicht, sondern drücken uns in eine dumpfe, schwere Atmosphäre hinunter,
die uns beengt und schwächt, nicht erfrischt und stärkt. Wer soziales Elend,
sittliche Verkrüppelung kennen lernen will, braucht dazu nicht in ein Theater
zu gehn, er findet genug davon auf der Gasse; wenn ihm danach der Sinn
steht, und wer an den Anblick von Elend und Laster durch die Bühne gewöhnt
worden ist, auf den wird Armut und Vergehn im Leben einen oft nur schwachen
Eindruck machen. Statt Menschen Leidenschaften, Thaten, auch verbrecherische
zu schildern, werden Zustünde, soziale Schäden, moralische Gebrechen, über¬
spannte oder bloße Theorien lehrhaft vorgetragen, die den Zuschauer ver¬
wirren, erschüttern, ohne ihm einen Ausgang zu weisen, der zum Licht führt.
Wenn Tolstoi dies thut, schildert er volles gegenwärtiges Leben; aber wenn
wir die „Macht der Finsternis" ans unsern Bühnen sehen, werden die meisten
von dem Häßlichen darin verletzt, nur wenige vou der Kunst in dem Werke
L. von der Brügger ergötzt Werden.




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[0036] Aipliug und Tolstoi Alles zusammengenommen verlangt man für die sich abstumpfenden Sinne nach immer sinnlichem Reizen. Nicht Schein, sondern Wirklichkeit, und zwar immer derbere Wirklichkeit will man. Noch ist der Deutsche wohl empört, wenn er von spanischen Stiergefechten hört. Aber das Stiergefecht ist nach Frankreich, ja bis Paris vorgedrungen, und von Paris kommt noch heute das meiste zuletzt auch zu uns, was den Geschmack und die Nerven angeht. Man kann sich an alles gewöhnen, und als die Römer durch Tierkämpfe und Gladiatoren verwöhnt waren, mußten ihre Schauspieler im Theater nicht bloß zum Schein sterben, sondern in Wirklichkeit: es regte den Zuschauer nicht mehr auf, wenn der tragische Held, falsches Blut vergießend, noch so naturgetreu starb, und so mußte er wirklich getötet werden, damit das Publikum befriedigt war. Wir werden vielleicht bis zu dieser sinnlichen Abstumpfung nicht kommen, aber gewiß ist, daß wir uns, wenn immer geringere Anforderungen an die Phantasie des Zuschauers gestellt werden, auf den Weg begeben, der zu immer größern Anforderungen an die Sinnlichkeit in der Darstellung führt. Hierzu kommt die seelische Überspannung, in die uns die modernen Dichter der Finsternis zu versetzen bemüht sind. Der einfache Tod als Sühne für eine Schuld genügt längst nicht mehr; eine Folterkammer wird ersonnen und darin der Held oder die Heldin und zugleich die Seele des Zuschauers ge¬ peinigt, bis diese erschauert. In die finstersten Höhlen des Menschenlebens werden wir am liebsten geführt. Wenn das Tolstoi thut, nun, er weiß, warum ers thut, und wir können es versteh». Warum wir Deutschen aber die kranken Phantasien eines Ibsen mit ihrer dramatischen Anmaßung so bewundern, das verstehe ich nicht. Dieser düstere Moralist und seine deutschen Nachahmer er¬ heben nicht, sondern drücken uns in eine dumpfe, schwere Atmosphäre hinunter, die uns beengt und schwächt, nicht erfrischt und stärkt. Wer soziales Elend, sittliche Verkrüppelung kennen lernen will, braucht dazu nicht in ein Theater zu gehn, er findet genug davon auf der Gasse; wenn ihm danach der Sinn steht, und wer an den Anblick von Elend und Laster durch die Bühne gewöhnt worden ist, auf den wird Armut und Vergehn im Leben einen oft nur schwachen Eindruck machen. Statt Menschen Leidenschaften, Thaten, auch verbrecherische zu schildern, werden Zustünde, soziale Schäden, moralische Gebrechen, über¬ spannte oder bloße Theorien lehrhaft vorgetragen, die den Zuschauer ver¬ wirren, erschüttern, ohne ihm einen Ausgang zu weisen, der zum Licht führt. Wenn Tolstoi dies thut, schildert er volles gegenwärtiges Leben; aber wenn wir die „Macht der Finsternis" ans unsern Bühnen sehen, werden die meisten von dem Häßlichen darin verletzt, nur wenige vou der Kunst in dem Werke L. von der Brügger ergötzt Werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/36>, abgerufen am 01.07.2024.