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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Kipling und Tolstoi

die das Leben bringt, gestärkt, aber sie kann auch durch den künstlichen Reiz
geschwächt werden, mit dem die bloße Phantasie auf sie einwirkt. Wer täglich
auf der Bühne Vorgänge wie in der "Ehre" von Sudermanu beobachtet, wird
leicht dahin gelangen, solche Borgänge im wirklichen Leben gering zu achten.
Die Erregung des sittlichen Empfindens ist wohlthätig wirksam, wenn sie zum
praktischen Handeln hinleitet, aber sie stumpft ab, wenn sie bloßes Empfinden
bleibt, ein Strohfeuer, das aufflammt und erlischt. Solche seelische Rührung
durch die Phantasie, mag sie auch noch so lebenswahr verursacht werden, muß
mit jeder Wiederholung flacher, schwächer werden und kann, wenn dann das
wirkliche Leben einmal ruft, versagen, weil die Reizungen durch die Phantasie
stärker waren, als was sich dem Auge im wirklichen Leben darbietet. Es ist
wie das Romanlesen unsrer Frauen: ein Mädchen, das mit fünfzehn Jahren
damit beginnt, durch Schilderungen die erwachenden Regungen des Herzens
zu reizen, durch die Phantasie immer und immer wieder die Leiden und Freuden
der Liebe in sich zu erfahren, wird, auch wenn diese künstlichen Erfahrungen
noch so keusch bleiben, zuletzt doch nicht ohne Einbuße, sei es an Kraft oder
an Lauterkeit des Empfindens, in die Wirklichkeit des Liebeslebens treten.
Nur zu leicht werden diese zarten Kräfte des Herzens, Liebe, Mitleid, durch
das künstliche Spiel der Phantasie bald zu einer krankhaft ideale" Höhe hinauf¬
getrieben, bald in unsaubre Tiefen hinabgezerrt und finden dann, wenn sie
sich in Thaten umsetzen sollen, nur schwer das gestörte Gleichgewicht, den
natürlichen Boden wieder.

Ich glaube nicht, daß das Theater im allgemeinen die Menschen moralisch
bessert; gewiß nicht unmittelbar, aber auch mittelbar wenig, durch Schärfung
des Empfindens, Klärung des Denkens. Die Leute der obern Klassen, die
täglich auf der Bühne die heftigsten Leidenschaften, die zartesten Empfindungen
miteinander kämpfen sehen, pflegen im dritten Akt zu gähnen und beim Ver¬
lassen des Theaters an das bevorstehende Essen oder allenfalls daran zu
denken, daß der Schauspieler, als er verzweifelnd sich selbst mordete, das mit
weniger Lärm hätte vollführen sollen. Auch dient vielen das Häßliche im
Theater nur als Folie, um nachher ein behagliches Heim, einen wohlbesetzten
Tisch, zufriedne Gesichter um so besser zu genießen. Das niedre Volk wieder
wird zwar von? Schauspiel ergriffen, aber nur selten wird der Dichter richtig
verstanden, weil nur selten für das niedre Volk und in seinem Sinne gedichtet
wird, und eben so selten wird ein erzieherischer Zweck erreicht, soweit ein solcher
vorhanden ist. Wie viele Gretchen haben sich wohl durch den Faust, den sie
auf der Bühne sahen, im Leben warnen lassen? Ich fürchte, nur wenige.
Und wie viele verließen das Theater mit der mehr oder minder klaren Sehn¬
sucht, einem Faust zu begegnen, und alle Lust und alle Qual auf sich zu
nehmen trotz allem! Und wie viel mehr junge Fauste werden erzogen, die
nur den Faust im Garten bewundern, von dem Geist und der Moral des
Stücks aber so gut wie nichts nach Hause tragen!

Tolstois "Macht der Finsternis" ist ein Volksstück, wie ich kaum ein


Kipling und Tolstoi

die das Leben bringt, gestärkt, aber sie kann auch durch den künstlichen Reiz
geschwächt werden, mit dem die bloße Phantasie auf sie einwirkt. Wer täglich
auf der Bühne Vorgänge wie in der „Ehre" von Sudermanu beobachtet, wird
leicht dahin gelangen, solche Borgänge im wirklichen Leben gering zu achten.
Die Erregung des sittlichen Empfindens ist wohlthätig wirksam, wenn sie zum
praktischen Handeln hinleitet, aber sie stumpft ab, wenn sie bloßes Empfinden
bleibt, ein Strohfeuer, das aufflammt und erlischt. Solche seelische Rührung
durch die Phantasie, mag sie auch noch so lebenswahr verursacht werden, muß
mit jeder Wiederholung flacher, schwächer werden und kann, wenn dann das
wirkliche Leben einmal ruft, versagen, weil die Reizungen durch die Phantasie
stärker waren, als was sich dem Auge im wirklichen Leben darbietet. Es ist
wie das Romanlesen unsrer Frauen: ein Mädchen, das mit fünfzehn Jahren
damit beginnt, durch Schilderungen die erwachenden Regungen des Herzens
zu reizen, durch die Phantasie immer und immer wieder die Leiden und Freuden
der Liebe in sich zu erfahren, wird, auch wenn diese künstlichen Erfahrungen
noch so keusch bleiben, zuletzt doch nicht ohne Einbuße, sei es an Kraft oder
an Lauterkeit des Empfindens, in die Wirklichkeit des Liebeslebens treten.
Nur zu leicht werden diese zarten Kräfte des Herzens, Liebe, Mitleid, durch
das künstliche Spiel der Phantasie bald zu einer krankhaft ideale» Höhe hinauf¬
getrieben, bald in unsaubre Tiefen hinabgezerrt und finden dann, wenn sie
sich in Thaten umsetzen sollen, nur schwer das gestörte Gleichgewicht, den
natürlichen Boden wieder.

Ich glaube nicht, daß das Theater im allgemeinen die Menschen moralisch
bessert; gewiß nicht unmittelbar, aber auch mittelbar wenig, durch Schärfung
des Empfindens, Klärung des Denkens. Die Leute der obern Klassen, die
täglich auf der Bühne die heftigsten Leidenschaften, die zartesten Empfindungen
miteinander kämpfen sehen, pflegen im dritten Akt zu gähnen und beim Ver¬
lassen des Theaters an das bevorstehende Essen oder allenfalls daran zu
denken, daß der Schauspieler, als er verzweifelnd sich selbst mordete, das mit
weniger Lärm hätte vollführen sollen. Auch dient vielen das Häßliche im
Theater nur als Folie, um nachher ein behagliches Heim, einen wohlbesetzten
Tisch, zufriedne Gesichter um so besser zu genießen. Das niedre Volk wieder
wird zwar von? Schauspiel ergriffen, aber nur selten wird der Dichter richtig
verstanden, weil nur selten für das niedre Volk und in seinem Sinne gedichtet
wird, und eben so selten wird ein erzieherischer Zweck erreicht, soweit ein solcher
vorhanden ist. Wie viele Gretchen haben sich wohl durch den Faust, den sie
auf der Bühne sahen, im Leben warnen lassen? Ich fürchte, nur wenige.
Und wie viele verließen das Theater mit der mehr oder minder klaren Sehn¬
sucht, einem Faust zu begegnen, und alle Lust und alle Qual auf sich zu
nehmen trotz allem! Und wie viel mehr junge Fauste werden erzogen, die
nur den Faust im Garten bewundern, von dem Geist und der Moral des
Stücks aber so gut wie nichts nach Hause tragen!

Tolstois „Macht der Finsternis" ist ein Volksstück, wie ich kaum ein


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[0034] Kipling und Tolstoi die das Leben bringt, gestärkt, aber sie kann auch durch den künstlichen Reiz geschwächt werden, mit dem die bloße Phantasie auf sie einwirkt. Wer täglich auf der Bühne Vorgänge wie in der „Ehre" von Sudermanu beobachtet, wird leicht dahin gelangen, solche Borgänge im wirklichen Leben gering zu achten. Die Erregung des sittlichen Empfindens ist wohlthätig wirksam, wenn sie zum praktischen Handeln hinleitet, aber sie stumpft ab, wenn sie bloßes Empfinden bleibt, ein Strohfeuer, das aufflammt und erlischt. Solche seelische Rührung durch die Phantasie, mag sie auch noch so lebenswahr verursacht werden, muß mit jeder Wiederholung flacher, schwächer werden und kann, wenn dann das wirkliche Leben einmal ruft, versagen, weil die Reizungen durch die Phantasie stärker waren, als was sich dem Auge im wirklichen Leben darbietet. Es ist wie das Romanlesen unsrer Frauen: ein Mädchen, das mit fünfzehn Jahren damit beginnt, durch Schilderungen die erwachenden Regungen des Herzens zu reizen, durch die Phantasie immer und immer wieder die Leiden und Freuden der Liebe in sich zu erfahren, wird, auch wenn diese künstlichen Erfahrungen noch so keusch bleiben, zuletzt doch nicht ohne Einbuße, sei es an Kraft oder an Lauterkeit des Empfindens, in die Wirklichkeit des Liebeslebens treten. Nur zu leicht werden diese zarten Kräfte des Herzens, Liebe, Mitleid, durch das künstliche Spiel der Phantasie bald zu einer krankhaft ideale» Höhe hinauf¬ getrieben, bald in unsaubre Tiefen hinabgezerrt und finden dann, wenn sie sich in Thaten umsetzen sollen, nur schwer das gestörte Gleichgewicht, den natürlichen Boden wieder. Ich glaube nicht, daß das Theater im allgemeinen die Menschen moralisch bessert; gewiß nicht unmittelbar, aber auch mittelbar wenig, durch Schärfung des Empfindens, Klärung des Denkens. Die Leute der obern Klassen, die täglich auf der Bühne die heftigsten Leidenschaften, die zartesten Empfindungen miteinander kämpfen sehen, pflegen im dritten Akt zu gähnen und beim Ver¬ lassen des Theaters an das bevorstehende Essen oder allenfalls daran zu denken, daß der Schauspieler, als er verzweifelnd sich selbst mordete, das mit weniger Lärm hätte vollführen sollen. Auch dient vielen das Häßliche im Theater nur als Folie, um nachher ein behagliches Heim, einen wohlbesetzten Tisch, zufriedne Gesichter um so besser zu genießen. Das niedre Volk wieder wird zwar von? Schauspiel ergriffen, aber nur selten wird der Dichter richtig verstanden, weil nur selten für das niedre Volk und in seinem Sinne gedichtet wird, und eben so selten wird ein erzieherischer Zweck erreicht, soweit ein solcher vorhanden ist. Wie viele Gretchen haben sich wohl durch den Faust, den sie auf der Bühne sahen, im Leben warnen lassen? Ich fürchte, nur wenige. Und wie viele verließen das Theater mit der mehr oder minder klaren Sehn¬ sucht, einem Faust zu begegnen, und alle Lust und alle Qual auf sich zu nehmen trotz allem! Und wie viel mehr junge Fauste werden erzogen, die nur den Faust im Garten bewundern, von dem Geist und der Moral des Stücks aber so gut wie nichts nach Hause tragen! Tolstois „Macht der Finsternis" ist ein Volksstück, wie ich kaum ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/34>, abgerufen am 01.07.2024.