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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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mit einer für jedes Jahr gebuudnen Marschroute aufwenden muß, als wenn
er sich nach einem zwei- oder mehrjährigen Verwenduugsplnu einrichten darf.

Wir würden alle befreit aufatmen und es froh begrüßen, unsre Aufmerk¬
samkeit den Reichstagsverhaudluugeu wieder zuwenden zu können. Der Reichs¬
tag selbst würde wieder Muße für seine Hauptaufgabe haben, die Gesetze des
Reichs zu beraten und feststellen zu helfen. Doch auch da ist er an gedeihlicher
sowohl wie volksmäßiger Wirksamkeit dadurch behindert, daß er nicht bloß die
leitenden, das Detail beherrschenden Gedanken -- bei jedem Gesetze oder Ge¬
setzesabschnitte sind es immer nur wenige zu beraten und zu genehmigen
hat, sondern auch dieses ganze Detail selbst, das durch die übliche Anwendung
des Amendemcntsrechts noch wächst und ganz unübersehbar wird. Es kommt
infolgedessen leicht dahin, daß die Grundsätze -- hier ist das vielmißbrauchte
Wort am Platze -- verdunkelt werden; für den größten Teil der Abgeordneten
wenigstens, der jn den Sinn für das im öffentlichen Leben wesentliche und
dienliche haben soll, aber den für Interpretation und Ausarbeitung eines Ge¬
setzes gar nicht haben kann und auch nicht zu haben braucht. Das ist eine
technische Fertigkeit, worin man besonders geschult sein muß. Die Juristen
und die Beamten sind es, und sie sind auch meistens redcfertig, weshalb sie
in den Parlamenten unentbehrlich erscheinen und leicht in die vordersten Reihen
gelangen, obgleich ihnen der eigentliche Abgeordnetenverstand, der praktische
Blick für die Verhältnisse und Bedürfnisse des Lebens, recht oft fehlt. So
kommen die Abgeordneten, die die Sache versteh", nicht zur Geltung, und die
Abgeordneten, die die Gesetzestechnik versteh" lind zur Geltung kommen, ver¬
steh" die Sache nicht. Ein unerfreulicher Zustand, dessen Folgen vor allein
bei der Ausführung unsrer vielen neuen Gesetze, aber anch sonst schwer gefühlt
werden, nicht zuletzt darin, daß die Reichstagsverhandlungen sehr oft unver¬
ständlich sind und unser Interesse, geschweige denn unsre thätige Teilnahme
kalt lassen. Die Mitglieder des Reichstags halten sich von den langweiligen
Detailsitzunge" fern, und mit den Leistungen des Reichstags sinkt wieder sein
Ansehen, Kann dem abgeholfen werden?

Jn England ist es bei der letzten Wahlreform vorgekommen, daß dem
Unterhause statt eines in seinen Einzelheiten ausgearbeiteten Gesetzes die für
dessen Inhalt in Aussicht gcnommnen Hauptpunkte, in wenige aber klare und
Zweifel ausschließende Sätze gefaßt, zur Beratung und Abstimmung vorgelegt
wurden, Ju Frankreich war, wie schon nach frühern Verfassungen, auch nach
der des zweiten Kaiserreichs, das Amendiernngsrecht der Kammern beschränkt.
Die parlamentarischen Abänderungsvorschläge gingen an den Staatsrat, der
die Gesetze auch vor ihrer Einbringung formulierte. Dort wurden die Amende-
ments geprüft, und zwar mehr auf ihre zweckmäßige Fassung und ihre formelle
Vereinbarkeit mit dem übrigen Gesetzesinhalt als auf ihre politische Bedeutung,
denn der französische Staatsrat ist keine parlamentarische oder parlaments¬
ähnliche Körperschaft, sondern eine beratende Hilfsbehördc der Regierung, deren
Einfluß mir darauf beruht, daß darin jederzeit die besten Köpfe der Adami-


mit einer für jedes Jahr gebuudnen Marschroute aufwenden muß, als wenn
er sich nach einem zwei- oder mehrjährigen Verwenduugsplnu einrichten darf.

Wir würden alle befreit aufatmen und es froh begrüßen, unsre Aufmerk¬
samkeit den Reichstagsverhaudluugeu wieder zuwenden zu können. Der Reichs¬
tag selbst würde wieder Muße für seine Hauptaufgabe haben, die Gesetze des
Reichs zu beraten und feststellen zu helfen. Doch auch da ist er an gedeihlicher
sowohl wie volksmäßiger Wirksamkeit dadurch behindert, daß er nicht bloß die
leitenden, das Detail beherrschenden Gedanken — bei jedem Gesetze oder Ge¬
setzesabschnitte sind es immer nur wenige zu beraten und zu genehmigen
hat, sondern auch dieses ganze Detail selbst, das durch die übliche Anwendung
des Amendemcntsrechts noch wächst und ganz unübersehbar wird. Es kommt
infolgedessen leicht dahin, daß die Grundsätze — hier ist das vielmißbrauchte
Wort am Platze — verdunkelt werden; für den größten Teil der Abgeordneten
wenigstens, der jn den Sinn für das im öffentlichen Leben wesentliche und
dienliche haben soll, aber den für Interpretation und Ausarbeitung eines Ge¬
setzes gar nicht haben kann und auch nicht zu haben braucht. Das ist eine
technische Fertigkeit, worin man besonders geschult sein muß. Die Juristen
und die Beamten sind es, und sie sind auch meistens redcfertig, weshalb sie
in den Parlamenten unentbehrlich erscheinen und leicht in die vordersten Reihen
gelangen, obgleich ihnen der eigentliche Abgeordnetenverstand, der praktische
Blick für die Verhältnisse und Bedürfnisse des Lebens, recht oft fehlt. So
kommen die Abgeordneten, die die Sache versteh», nicht zur Geltung, und die
Abgeordneten, die die Gesetzestechnik versteh» lind zur Geltung kommen, ver¬
steh» die Sache nicht. Ein unerfreulicher Zustand, dessen Folgen vor allein
bei der Ausführung unsrer vielen neuen Gesetze, aber anch sonst schwer gefühlt
werden, nicht zuletzt darin, daß die Reichstagsverhandlungen sehr oft unver¬
ständlich sind und unser Interesse, geschweige denn unsre thätige Teilnahme
kalt lassen. Die Mitglieder des Reichstags halten sich von den langweiligen
Detailsitzunge» fern, und mit den Leistungen des Reichstags sinkt wieder sein
Ansehen, Kann dem abgeholfen werden?

Jn England ist es bei der letzten Wahlreform vorgekommen, daß dem
Unterhause statt eines in seinen Einzelheiten ausgearbeiteten Gesetzes die für
dessen Inhalt in Aussicht gcnommnen Hauptpunkte, in wenige aber klare und
Zweifel ausschließende Sätze gefaßt, zur Beratung und Abstimmung vorgelegt
wurden, Ju Frankreich war, wie schon nach frühern Verfassungen, auch nach
der des zweiten Kaiserreichs, das Amendiernngsrecht der Kammern beschränkt.
Die parlamentarischen Abänderungsvorschläge gingen an den Staatsrat, der
die Gesetze auch vor ihrer Einbringung formulierte. Dort wurden die Amende-
ments geprüft, und zwar mehr auf ihre zweckmäßige Fassung und ihre formelle
Vereinbarkeit mit dem übrigen Gesetzesinhalt als auf ihre politische Bedeutung,
denn der französische Staatsrat ist keine parlamentarische oder parlaments¬
ähnliche Körperschaft, sondern eine beratende Hilfsbehördc der Regierung, deren
Einfluß mir darauf beruht, daß darin jederzeit die besten Köpfe der Adami-


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[0347] mit einer für jedes Jahr gebuudnen Marschroute aufwenden muß, als wenn er sich nach einem zwei- oder mehrjährigen Verwenduugsplnu einrichten darf. Wir würden alle befreit aufatmen und es froh begrüßen, unsre Aufmerk¬ samkeit den Reichstagsverhaudluugeu wieder zuwenden zu können. Der Reichs¬ tag selbst würde wieder Muße für seine Hauptaufgabe haben, die Gesetze des Reichs zu beraten und feststellen zu helfen. Doch auch da ist er an gedeihlicher sowohl wie volksmäßiger Wirksamkeit dadurch behindert, daß er nicht bloß die leitenden, das Detail beherrschenden Gedanken — bei jedem Gesetze oder Ge¬ setzesabschnitte sind es immer nur wenige zu beraten und zu genehmigen hat, sondern auch dieses ganze Detail selbst, das durch die übliche Anwendung des Amendemcntsrechts noch wächst und ganz unübersehbar wird. Es kommt infolgedessen leicht dahin, daß die Grundsätze — hier ist das vielmißbrauchte Wort am Platze — verdunkelt werden; für den größten Teil der Abgeordneten wenigstens, der jn den Sinn für das im öffentlichen Leben wesentliche und dienliche haben soll, aber den für Interpretation und Ausarbeitung eines Ge¬ setzes gar nicht haben kann und auch nicht zu haben braucht. Das ist eine technische Fertigkeit, worin man besonders geschult sein muß. Die Juristen und die Beamten sind es, und sie sind auch meistens redcfertig, weshalb sie in den Parlamenten unentbehrlich erscheinen und leicht in die vordersten Reihen gelangen, obgleich ihnen der eigentliche Abgeordnetenverstand, der praktische Blick für die Verhältnisse und Bedürfnisse des Lebens, recht oft fehlt. So kommen die Abgeordneten, die die Sache versteh», nicht zur Geltung, und die Abgeordneten, die die Gesetzestechnik versteh» lind zur Geltung kommen, ver¬ steh» die Sache nicht. Ein unerfreulicher Zustand, dessen Folgen vor allein bei der Ausführung unsrer vielen neuen Gesetze, aber anch sonst schwer gefühlt werden, nicht zuletzt darin, daß die Reichstagsverhandlungen sehr oft unver¬ ständlich sind und unser Interesse, geschweige denn unsre thätige Teilnahme kalt lassen. Die Mitglieder des Reichstags halten sich von den langweiligen Detailsitzunge» fern, und mit den Leistungen des Reichstags sinkt wieder sein Ansehen, Kann dem abgeholfen werden? Jn England ist es bei der letzten Wahlreform vorgekommen, daß dem Unterhause statt eines in seinen Einzelheiten ausgearbeiteten Gesetzes die für dessen Inhalt in Aussicht gcnommnen Hauptpunkte, in wenige aber klare und Zweifel ausschließende Sätze gefaßt, zur Beratung und Abstimmung vorgelegt wurden, Ju Frankreich war, wie schon nach frühern Verfassungen, auch nach der des zweiten Kaiserreichs, das Amendiernngsrecht der Kammern beschränkt. Die parlamentarischen Abänderungsvorschläge gingen an den Staatsrat, der die Gesetze auch vor ihrer Einbringung formulierte. Dort wurden die Amende- ments geprüft, und zwar mehr auf ihre zweckmäßige Fassung und ihre formelle Vereinbarkeit mit dem übrigen Gesetzesinhalt als auf ihre politische Bedeutung, denn der französische Staatsrat ist keine parlamentarische oder parlaments¬ ähnliche Körperschaft, sondern eine beratende Hilfsbehördc der Regierung, deren Einfluß mir darauf beruht, daß darin jederzeit die besten Köpfe der Adami-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/347>, abgerufen am 29.06.2024.