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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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stration vereinigt sind. Der im Stnatsrat festgestellte Text war es, über den
die Kammern endgiltig abstimmten. Wer die französischen Gesetze vor 1870
kennt, weiß, daß sie allgemein ebenso vortrefflich redigiert als in den Einzel¬
heiten praktisch ausgedacht und mit dem bestehenden Recht gut verbunden waren.
Kann dies much der wärmste Anhänger des Inhalts unsrer neuen Gesetze von
ihrer formellen Seite behaupten? Man denke beispielsweise an den gesetz¬
geberischen Bandwurm, zu demi sich unsre Gewerbeordnung nnsgewachsen hat.

Eine ebenso große formelle Gewähr bietet der englische Präzedenzfall nicht,
aber er hat den Vorzug, daß er den Teil des künftigen Gesetzesinhalts, auf
den es wesentlich ankommt, in anschaulicher, jedermann verständlicher, für jeder¬
mann übersehbarer Gestalt als Gegenstand der parlamentarischen Verhandlung
heraushebt und zusammenfaßt. Jeder Abgeordnete weiß dann, wozu er ja
oder nein sagt, und der Leser der Neichstagsberichte wird es anch wissen. Das
ist ein Sporn zu allgemeiner politischer Arbeit, diesem wichtigen Kennzeichen
und Prüfstein der echten Freiheit. Und dieser Modus ist auch für den, der
den Gesetzesantrag einbringt, ein Antrieb, das, was er in die Hand nimmt,
sorgfältig zu überlegen. Er ist gezwungen, sich vorher klar zu machen, was
an der betreffenden Materie Hauptsache und Grundsatz ist, also ins Gesetz
gehört, und was als Konsequenz und Ausführung dem Verordnuugswege und
der Verwaltung überlassen werden kann. Und muß nicht auch derlei diesen
Instanzen verständigerweise überlassen bleiben, weil es etwas Technisches ist
oder je nach der Lage des einzelnen Falles zu wechseln hat? Nach diesen
Merkmalen hat einst die staatsrechtliche Theorie die Gebiete von Gesetz, Ver¬
ordnung und Verwaltung abgegrenzt.

So vereinigen sich die Natur der Sache und die Autorität der Wissen¬
schaft mit politischem Bedürfnis und dein, was uns die Erfahrung lehrt, um
eine neue Art parlamentarischer Gesetzesarbeit zu empfehlen. Und wiederum
müßte gerade dem Reichstag eine solche Änderung wünschenswert erscheinen,
weil seine qnnntitative Selbstbeschränkung die Qualität seiner Leistungen steigern
und seinen Einfluß auf die Gemüter wieder verstärken würde. Daran sind
alle Parteien gleich beteiligt, nur die Vernfsparlamentarier, die Herren von
der parlamentarischen Bureaukratie, würden schlechter fahren.

Um diese neue Beratungsart einzuführen, bedarf es keiner Änderung der
Reichsverfassung, denn das Amendierungsrecht bleibt dabei nicht bloß gewahrt,
sondern wird sogar aufhören, ein Privilegium der "Schriftgelehrten" zu sein
und weit mehr als bisher ein Gemeingut aller Abgeordneten werden; nur seine
mißbräuchliche Anwendung wird sich selbst korrigieren. Auch die Gesetzes¬
initiative des Reichstags bliebe unberührt. Nichts würde einen Abgeordneten
hindern, nach dem Muster des englischen Präzedenzfalles einen Antrag aus¬
zuarbeiten und einzureichen, mit der Schlnßklausel, daß das Gesetz nach den
endgiltigen Beschlüssen zu redigieren und zu verkünden sei. Die Verordnuugs-
gewalt des Bundesrath für Detail- und Ausführungsbestimmnngen steht rechtlich
fest, und dafür, daß bei diesen wie bei der Redaktion die in den Anträgen


stration vereinigt sind. Der im Stnatsrat festgestellte Text war es, über den
die Kammern endgiltig abstimmten. Wer die französischen Gesetze vor 1870
kennt, weiß, daß sie allgemein ebenso vortrefflich redigiert als in den Einzel¬
heiten praktisch ausgedacht und mit dem bestehenden Recht gut verbunden waren.
Kann dies much der wärmste Anhänger des Inhalts unsrer neuen Gesetze von
ihrer formellen Seite behaupten? Man denke beispielsweise an den gesetz¬
geberischen Bandwurm, zu demi sich unsre Gewerbeordnung nnsgewachsen hat.

Eine ebenso große formelle Gewähr bietet der englische Präzedenzfall nicht,
aber er hat den Vorzug, daß er den Teil des künftigen Gesetzesinhalts, auf
den es wesentlich ankommt, in anschaulicher, jedermann verständlicher, für jeder¬
mann übersehbarer Gestalt als Gegenstand der parlamentarischen Verhandlung
heraushebt und zusammenfaßt. Jeder Abgeordnete weiß dann, wozu er ja
oder nein sagt, und der Leser der Neichstagsberichte wird es anch wissen. Das
ist ein Sporn zu allgemeiner politischer Arbeit, diesem wichtigen Kennzeichen
und Prüfstein der echten Freiheit. Und dieser Modus ist auch für den, der
den Gesetzesantrag einbringt, ein Antrieb, das, was er in die Hand nimmt,
sorgfältig zu überlegen. Er ist gezwungen, sich vorher klar zu machen, was
an der betreffenden Materie Hauptsache und Grundsatz ist, also ins Gesetz
gehört, und was als Konsequenz und Ausführung dem Verordnuugswege und
der Verwaltung überlassen werden kann. Und muß nicht auch derlei diesen
Instanzen verständigerweise überlassen bleiben, weil es etwas Technisches ist
oder je nach der Lage des einzelnen Falles zu wechseln hat? Nach diesen
Merkmalen hat einst die staatsrechtliche Theorie die Gebiete von Gesetz, Ver¬
ordnung und Verwaltung abgegrenzt.

So vereinigen sich die Natur der Sache und die Autorität der Wissen¬
schaft mit politischem Bedürfnis und dein, was uns die Erfahrung lehrt, um
eine neue Art parlamentarischer Gesetzesarbeit zu empfehlen. Und wiederum
müßte gerade dem Reichstag eine solche Änderung wünschenswert erscheinen,
weil seine qnnntitative Selbstbeschränkung die Qualität seiner Leistungen steigern
und seinen Einfluß auf die Gemüter wieder verstärken würde. Daran sind
alle Parteien gleich beteiligt, nur die Vernfsparlamentarier, die Herren von
der parlamentarischen Bureaukratie, würden schlechter fahren.

Um diese neue Beratungsart einzuführen, bedarf es keiner Änderung der
Reichsverfassung, denn das Amendierungsrecht bleibt dabei nicht bloß gewahrt,
sondern wird sogar aufhören, ein Privilegium der „Schriftgelehrten" zu sein
und weit mehr als bisher ein Gemeingut aller Abgeordneten werden; nur seine
mißbräuchliche Anwendung wird sich selbst korrigieren. Auch die Gesetzes¬
initiative des Reichstags bliebe unberührt. Nichts würde einen Abgeordneten
hindern, nach dem Muster des englischen Präzedenzfalles einen Antrag aus¬
zuarbeiten und einzureichen, mit der Schlnßklausel, daß das Gesetz nach den
endgiltigen Beschlüssen zu redigieren und zu verkünden sei. Die Verordnuugs-
gewalt des Bundesrath für Detail- und Ausführungsbestimmnngen steht rechtlich
fest, und dafür, daß bei diesen wie bei der Redaktion die in den Anträgen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/348>, abgerufen am 26.06.2024.