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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Kipling und Tolstoi

wenn ein der Oberfläche erscheint, was sich unter ihr barg, sein Protokoll ver¬
faßt und ein Opfer mehr auf den Altar des Staats liefert. Es ist staatliche
Kerkerluft schlimmster Art, die aus diesem Dorfe aufsteigt, in der diese Bauern
verkamen und erstickten, und Kerkermeister ist die öffentliche Gewalt, die Tolstoi,
der wahrste, reinste und edelste aller Anarchisten, in jeder Form bekämpft.
Ein Volk mit gebrochnem Rückgrat, mit hoffnungsloser Ergebung in sein
Schicksal, und doch im tiefsten Grunde mit dem heiligen Funken sittlicher
Kraft und Verantwortlichkeit ausgestattet, der hie und da einmal aufflammend
den allgemeinen Nebel durchleuchtet, nur daß er erstickt wird von der Hand
der staatlichen Macht. Tolstoi lebt als Bauer unter Bauern -- Kipling
findet seine Lust im blutigen Raufen mit Indern oder Buren; Tolstoi will
nicht nur die oberste Staatsmacht, sondern die Staatsmacht bis auf die Rechts¬
pflege und die Polizei abschaffen; Kipling jauchzt dem Throne zu und fordert
ihn heraus, seine Gewalt über den Erdball zu spannen. Im freisten Staate
Europas huldigt der Dichter der Staatsmacht; im unfreisten Staate will der
Dichter ein Volk von Bauern von aller staatlichen Gewalt befreit zum ein¬
fachsten Dorfleben zurückführen. Kipling der Sänger der Macht, Tolstoi der
Sänger des Duldens; dort lebensvoller Realismus, hier tief ernster, schwer¬
mütiger Idealismus; dort England, wie es ist, hier Nußland, wie es ist.
Zwar nicht das ganze England noch das ganze Rußland, denn hier wie dort
fehlen so mancher Strich und manche Farbe an dem Bilde, sofern es vollkommen
die nationale und staatliche Eigenart darstellen soll. Typisch sind auf beiden
Seiten noch mehr die Dichter als die gedichteten Gestalten.

In dem ganzen Stück Tolstois ist nichts von Heldentum, vielmehr überall
kraftloses, blutarmes Siechtum. Wie sich Kipling in der Bewundrung bestialischer
Tapferkeit ergeht, so scheint sich Tolstois Interesse dem sittlichen Schwäch¬
ling zu widmen. Und wenn wir den schriftlichen Äußerungen Tolstois folgen,
die seit dem Entsteh" des Dramas veröffentlicht sind, so finden wir, daß dieser
volkstümlichste der heutigen russischen Dichter in der That nicht das Heldentum
verherrlichen, sondern vielmehr alle Gewalt, allen äußern Zwang bekämpfen
will. Nicht Heldenverehrung begeistert ihn, sondern Abscheu vor Heldentum,
nicht Macht, sondern Duldung, nicht mutvollcs Herrschen, sondern mutiges
Leiden. Und doch werden wir von dem tiefen sittlichen Ernst, ja von der
schwermütigen Liebe zu den Armen und Schwachen in Tolstoi mehr ergriffen,
als von der Freude Kiplings an den starken Körpern und Seelen, die heute
Gut und Blut in zartester Freundschaft oder Liebe opfern und morgen sich
mit der Wollust des Bluthunds in den Kampf stürzen. Nicht, daß wir hofften,
von Tolstois abschreckenden Schilderungen gebessert, geläutert zu werdeu, so
wenig wie Kiplings Kriegsjournalisten uns zum Soldatentum erheben können.
Vielleicht kann eine von russischen Schauspielern -- und die sind meist vor¬
trefflich in einem russischen Volkstheater veranstaltete Darstellung des
Tolstoischen Dramas im russischen Publikum das schlaffe Gewissen wecken,
wohlthätig auf die Moral der Bauern wirken; auf einer deutschen Bühne


Kipling und Tolstoi

wenn ein der Oberfläche erscheint, was sich unter ihr barg, sein Protokoll ver¬
faßt und ein Opfer mehr auf den Altar des Staats liefert. Es ist staatliche
Kerkerluft schlimmster Art, die aus diesem Dorfe aufsteigt, in der diese Bauern
verkamen und erstickten, und Kerkermeister ist die öffentliche Gewalt, die Tolstoi,
der wahrste, reinste und edelste aller Anarchisten, in jeder Form bekämpft.
Ein Volk mit gebrochnem Rückgrat, mit hoffnungsloser Ergebung in sein
Schicksal, und doch im tiefsten Grunde mit dem heiligen Funken sittlicher
Kraft und Verantwortlichkeit ausgestattet, der hie und da einmal aufflammend
den allgemeinen Nebel durchleuchtet, nur daß er erstickt wird von der Hand
der staatlichen Macht. Tolstoi lebt als Bauer unter Bauern — Kipling
findet seine Lust im blutigen Raufen mit Indern oder Buren; Tolstoi will
nicht nur die oberste Staatsmacht, sondern die Staatsmacht bis auf die Rechts¬
pflege und die Polizei abschaffen; Kipling jauchzt dem Throne zu und fordert
ihn heraus, seine Gewalt über den Erdball zu spannen. Im freisten Staate
Europas huldigt der Dichter der Staatsmacht; im unfreisten Staate will der
Dichter ein Volk von Bauern von aller staatlichen Gewalt befreit zum ein¬
fachsten Dorfleben zurückführen. Kipling der Sänger der Macht, Tolstoi der
Sänger des Duldens; dort lebensvoller Realismus, hier tief ernster, schwer¬
mütiger Idealismus; dort England, wie es ist, hier Nußland, wie es ist.
Zwar nicht das ganze England noch das ganze Rußland, denn hier wie dort
fehlen so mancher Strich und manche Farbe an dem Bilde, sofern es vollkommen
die nationale und staatliche Eigenart darstellen soll. Typisch sind auf beiden
Seiten noch mehr die Dichter als die gedichteten Gestalten.

In dem ganzen Stück Tolstois ist nichts von Heldentum, vielmehr überall
kraftloses, blutarmes Siechtum. Wie sich Kipling in der Bewundrung bestialischer
Tapferkeit ergeht, so scheint sich Tolstois Interesse dem sittlichen Schwäch¬
ling zu widmen. Und wenn wir den schriftlichen Äußerungen Tolstois folgen,
die seit dem Entsteh» des Dramas veröffentlicht sind, so finden wir, daß dieser
volkstümlichste der heutigen russischen Dichter in der That nicht das Heldentum
verherrlichen, sondern vielmehr alle Gewalt, allen äußern Zwang bekämpfen
will. Nicht Heldenverehrung begeistert ihn, sondern Abscheu vor Heldentum,
nicht Macht, sondern Duldung, nicht mutvollcs Herrschen, sondern mutiges
Leiden. Und doch werden wir von dem tiefen sittlichen Ernst, ja von der
schwermütigen Liebe zu den Armen und Schwachen in Tolstoi mehr ergriffen,
als von der Freude Kiplings an den starken Körpern und Seelen, die heute
Gut und Blut in zartester Freundschaft oder Liebe opfern und morgen sich
mit der Wollust des Bluthunds in den Kampf stürzen. Nicht, daß wir hofften,
von Tolstois abschreckenden Schilderungen gebessert, geläutert zu werdeu, so
wenig wie Kiplings Kriegsjournalisten uns zum Soldatentum erheben können.
Vielleicht kann eine von russischen Schauspielern — und die sind meist vor¬
trefflich in einem russischen Volkstheater veranstaltete Darstellung des
Tolstoischen Dramas im russischen Publikum das schlaffe Gewissen wecken,
wohlthätig auf die Moral der Bauern wirken; auf einer deutschen Bühne


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[0032] Kipling und Tolstoi wenn ein der Oberfläche erscheint, was sich unter ihr barg, sein Protokoll ver¬ faßt und ein Opfer mehr auf den Altar des Staats liefert. Es ist staatliche Kerkerluft schlimmster Art, die aus diesem Dorfe aufsteigt, in der diese Bauern verkamen und erstickten, und Kerkermeister ist die öffentliche Gewalt, die Tolstoi, der wahrste, reinste und edelste aller Anarchisten, in jeder Form bekämpft. Ein Volk mit gebrochnem Rückgrat, mit hoffnungsloser Ergebung in sein Schicksal, und doch im tiefsten Grunde mit dem heiligen Funken sittlicher Kraft und Verantwortlichkeit ausgestattet, der hie und da einmal aufflammend den allgemeinen Nebel durchleuchtet, nur daß er erstickt wird von der Hand der staatlichen Macht. Tolstoi lebt als Bauer unter Bauern — Kipling findet seine Lust im blutigen Raufen mit Indern oder Buren; Tolstoi will nicht nur die oberste Staatsmacht, sondern die Staatsmacht bis auf die Rechts¬ pflege und die Polizei abschaffen; Kipling jauchzt dem Throne zu und fordert ihn heraus, seine Gewalt über den Erdball zu spannen. Im freisten Staate Europas huldigt der Dichter der Staatsmacht; im unfreisten Staate will der Dichter ein Volk von Bauern von aller staatlichen Gewalt befreit zum ein¬ fachsten Dorfleben zurückführen. Kipling der Sänger der Macht, Tolstoi der Sänger des Duldens; dort lebensvoller Realismus, hier tief ernster, schwer¬ mütiger Idealismus; dort England, wie es ist, hier Nußland, wie es ist. Zwar nicht das ganze England noch das ganze Rußland, denn hier wie dort fehlen so mancher Strich und manche Farbe an dem Bilde, sofern es vollkommen die nationale und staatliche Eigenart darstellen soll. Typisch sind auf beiden Seiten noch mehr die Dichter als die gedichteten Gestalten. In dem ganzen Stück Tolstois ist nichts von Heldentum, vielmehr überall kraftloses, blutarmes Siechtum. Wie sich Kipling in der Bewundrung bestialischer Tapferkeit ergeht, so scheint sich Tolstois Interesse dem sittlichen Schwäch¬ ling zu widmen. Und wenn wir den schriftlichen Äußerungen Tolstois folgen, die seit dem Entsteh» des Dramas veröffentlicht sind, so finden wir, daß dieser volkstümlichste der heutigen russischen Dichter in der That nicht das Heldentum verherrlichen, sondern vielmehr alle Gewalt, allen äußern Zwang bekämpfen will. Nicht Heldenverehrung begeistert ihn, sondern Abscheu vor Heldentum, nicht Macht, sondern Duldung, nicht mutvollcs Herrschen, sondern mutiges Leiden. Und doch werden wir von dem tiefen sittlichen Ernst, ja von der schwermütigen Liebe zu den Armen und Schwachen in Tolstoi mehr ergriffen, als von der Freude Kiplings an den starken Körpern und Seelen, die heute Gut und Blut in zartester Freundschaft oder Liebe opfern und morgen sich mit der Wollust des Bluthunds in den Kampf stürzen. Nicht, daß wir hofften, von Tolstois abschreckenden Schilderungen gebessert, geläutert zu werdeu, so wenig wie Kiplings Kriegsjournalisten uns zum Soldatentum erheben können. Vielleicht kann eine von russischen Schauspielern — und die sind meist vor¬ trefflich in einem russischen Volkstheater veranstaltete Darstellung des Tolstoischen Dramas im russischen Publikum das schlaffe Gewissen wecken, wohlthätig auf die Moral der Bauern wirken; auf einer deutschen Bühne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/32>, abgerufen am 01.07.2024.