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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Kipling und Tolstoi

des Elends noch der heilige Funke des menschlichen Gewissens, doch bedarf
es für diesen Verbrecher aus Schwäche nur eines leisen Aufflackerns des Ge¬
wissens, daß er mit derselben Leichtigkeit, mit der er sein Kind mordete, sich
selbst als Schuldigen der Sühne darbietet. Ohne Schwanken fordert er das
Dorf, die christliche Gemeinde zum Richter, auf den Knieen bekennt er, was
er eben erst als Unthaten erkannt hat, fleht er um Vergebung jeden einzeln
an, den er verletzte, und endlich die Gemeinde selbst, gegen die als seine
Obrigkeit, seine soziale Welt er sich versündigt hat. Das ist erschütternd und
auch versöhnend: aus diesem faulenden Sumpf, wo alle Moral erstickt schien,
steigt plötzlich das reine Licht auf, ein Strahl des Gewissens, der den Ver¬
brecher und die richtende Gemeinde verklärt, und der ohne Besinnen zur That
führt, zur freiwilligen Unterwerfung unter die Strafe. Und hier tritt dann
der Staat herein, der Inhaber der äußern Gewalt. Der Staat hat nichts
gethan, um den moralischen Nebel im Dorf zu zerstreuen, nichts, um der sitt¬
lichen Fäulnis abzuhelfen: aber er ist bei der Hand, sobald sich die Folgen
davon äußerlich zeigen.

Der englische wie der russische Dichter zeigen ziemlich genau die Phy¬
siognomie ihres Staats und Volks; die Verschiedenheit, die Gegensätzlichkeit
der Dichter entsprechen der Verschiedenheit von England und Nußland. Dort
die strotzende Volkskraft, der der Staat nur mit leisem Zügel eine Richtung
andeutet, die mit breiter Hand überall nach materiellem Gut ausgreift, die
sich daheim mit feierlichem Behagen dem Genusse persönlicher Freiheit hingiebt,
die Gott einen guten Manu sein läßt und jederzeit auf das Nächste und ans
das Heute den Blick gerichtet hält, und die mit kühnem Wagemut draußen
sich und ihre Interessen durchzusetzen weiß; diese wohlgenährten Jünglinge,
die sich wenig um die Polizei, um so mehr um die Leute kümmern, die den
Ton in der höhern Gesellschaft angeben; die wenig vom Gesetz, aber stark von
der Sitte, von der Tradition gelenkt werden; die offen, gemütvoll, heiter,
opferbereit unter den Freunden und roh, voll Lust an Kampf und Blut, un¬
empfindlich unter den Feinden sind; dieser Übermut, dieses übergroße Selbst¬
vertrauen, diese Arbeitskraft, diese Beschränktheit, dieses gesättigte Daseins¬
bewußtsein: so haben wir den heutigen Engländer kennen gelernt auch vor
Kipling, und so finden wir ihn bei diesem Soldatcndichter in soldatischer Ver¬
größerung wieder. Ihm gegenüber steht der russische Bauer Tolstois: in einem
elenden Dorf von Hütten elend dahinbrütende Menschen, ohne alle geistige,
auch ohne körperliche Bildung, auf dem tiefsten Stand des menschlich möglichen
Daseins, ohne Selbstvertrauen, ohne Thatkraft, ohne auch nur ein Verständnis
se'r Freiheit, für Selbstachtung, für höheres Streben, als wie es innerhalb der
Dorfgrenze möglich ist; ohne geistige, aber auch ohne materielle Bedürfnisse
außer dem Maß von Nahrung, dessen auch das Tier bedarf, und außer dem
^aß von Branntwein, das alle geistige Erregung weckt, zu der sich dieses
Hirn aufschwingt; zuletzt dieser Vertreter der staatlichen Gewalt, der jahraus
jahrein darüber wacht, daß der sittliche Pfuhl bleibe, wie er war, und der,


Kipling und Tolstoi

des Elends noch der heilige Funke des menschlichen Gewissens, doch bedarf
es für diesen Verbrecher aus Schwäche nur eines leisen Aufflackerns des Ge¬
wissens, daß er mit derselben Leichtigkeit, mit der er sein Kind mordete, sich
selbst als Schuldigen der Sühne darbietet. Ohne Schwanken fordert er das
Dorf, die christliche Gemeinde zum Richter, auf den Knieen bekennt er, was
er eben erst als Unthaten erkannt hat, fleht er um Vergebung jeden einzeln
an, den er verletzte, und endlich die Gemeinde selbst, gegen die als seine
Obrigkeit, seine soziale Welt er sich versündigt hat. Das ist erschütternd und
auch versöhnend: aus diesem faulenden Sumpf, wo alle Moral erstickt schien,
steigt plötzlich das reine Licht auf, ein Strahl des Gewissens, der den Ver¬
brecher und die richtende Gemeinde verklärt, und der ohne Besinnen zur That
führt, zur freiwilligen Unterwerfung unter die Strafe. Und hier tritt dann
der Staat herein, der Inhaber der äußern Gewalt. Der Staat hat nichts
gethan, um den moralischen Nebel im Dorf zu zerstreuen, nichts, um der sitt¬
lichen Fäulnis abzuhelfen: aber er ist bei der Hand, sobald sich die Folgen
davon äußerlich zeigen.

Der englische wie der russische Dichter zeigen ziemlich genau die Phy¬
siognomie ihres Staats und Volks; die Verschiedenheit, die Gegensätzlichkeit
der Dichter entsprechen der Verschiedenheit von England und Nußland. Dort
die strotzende Volkskraft, der der Staat nur mit leisem Zügel eine Richtung
andeutet, die mit breiter Hand überall nach materiellem Gut ausgreift, die
sich daheim mit feierlichem Behagen dem Genusse persönlicher Freiheit hingiebt,
die Gott einen guten Manu sein läßt und jederzeit auf das Nächste und ans
das Heute den Blick gerichtet hält, und die mit kühnem Wagemut draußen
sich und ihre Interessen durchzusetzen weiß; diese wohlgenährten Jünglinge,
die sich wenig um die Polizei, um so mehr um die Leute kümmern, die den
Ton in der höhern Gesellschaft angeben; die wenig vom Gesetz, aber stark von
der Sitte, von der Tradition gelenkt werden; die offen, gemütvoll, heiter,
opferbereit unter den Freunden und roh, voll Lust an Kampf und Blut, un¬
empfindlich unter den Feinden sind; dieser Übermut, dieses übergroße Selbst¬
vertrauen, diese Arbeitskraft, diese Beschränktheit, dieses gesättigte Daseins¬
bewußtsein: so haben wir den heutigen Engländer kennen gelernt auch vor
Kipling, und so finden wir ihn bei diesem Soldatcndichter in soldatischer Ver¬
größerung wieder. Ihm gegenüber steht der russische Bauer Tolstois: in einem
elenden Dorf von Hütten elend dahinbrütende Menschen, ohne alle geistige,
auch ohne körperliche Bildung, auf dem tiefsten Stand des menschlich möglichen
Daseins, ohne Selbstvertrauen, ohne Thatkraft, ohne auch nur ein Verständnis
se'r Freiheit, für Selbstachtung, für höheres Streben, als wie es innerhalb der
Dorfgrenze möglich ist; ohne geistige, aber auch ohne materielle Bedürfnisse
außer dem Maß von Nahrung, dessen auch das Tier bedarf, und außer dem
^aß von Branntwein, das alle geistige Erregung weckt, zu der sich dieses
Hirn aufschwingt; zuletzt dieser Vertreter der staatlichen Gewalt, der jahraus
jahrein darüber wacht, daß der sittliche Pfuhl bleibe, wie er war, und der,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/31>, abgerufen am 01.07.2024.