Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aipling und Tolstoi

der Gewalt auch in der rohesten Körperkraft, hier die Verdammung der Gewalt,
auch in der Kraft des Staats. Die Gewalt, verherrlicht von einem Sänger
des zivilisiertesten Volks Europas, und verdammt von dem Sänger des am
wenigsten zivilisierten unter den großen Völkern dieses Erdteils. Dort ein
Engländer, der in den Greueln unmenschlicher Kämpfe schwelgt, hier ein Russe,
der mit religiösem Ernst seine Stimme gegen die Greuel einer rohen Volks¬
moral und mehr noch gegen jeglichen Krieg, jegliche Kriegsmacht der Völker
oder der Staaten erhebt.

Wer "Die Macht der Finsternis" gesehen oder gelesen hat, wird sich
sagen: Das ist volle und nackte Wahrheit, das ist ganz Natur, vom Dichter
erlebte und empfundne Natur, so naturalistisch, wie unsre heutigen Nerven es
sich nur wünschen können. Erstaunlich ist für uns, daß ein Mann von euro¬
päischer Bildung, ein philosophischer Denker, ein Mann aus den obersten
sozialen Reihen so durchaus in den Geist, das Fühlen, die Form und den
Inhalt des Lebens einer Menschenklasse aufgehn kann, die so unendlich weit
von der Höhe seines Geistes, seiner Bildung, seiner Moral entfernt scheint.
In diese Tiefen des rohen Volksleben sind nur wenige vor ihm und nur auf
Augenblicke hinabgestiegen, ohne über kurz oder lang aus ihrer Rolle zu fallen.
In keiner der Figuren dieses Stücks und keinen Augenblick verrät sich der
Dichter als der über diesem Volksleben stehende kritische Geist; kein Gedanke,
kein Wort fällt heraus aus der Sphäre dieser kulturlosen, aber in ihrer natür¬
lichen Nackheit naiv auftretenden Wilden. Wir schaudern zurück vor den ge¬
häuftem Verbrechen, vor Gattenmord und Kindermord, vor Lüge und Habsucht,
vor elender Schwäche und teuflischer Verführung; aber es ist mehr der Schauder,
wie wenn wir Bestien einander zerfleischen sehen, als der Abscheu vor dem Ver¬
brechen, das aus der sittlichen Verderbtheit des seiner That bewußten Schurken
fließt. Dieselbe That, vollführt vom Wilden und vom Schurken, hat für uns
einen sehr verschiednen moralischen Wert und wirkt deshalb verschieden ans unser
Empfinden. In der Atmosphäre dieser russischen Bauern liegt ein moralischer
Nebel ausgebreitet, der uus die Verantwortlichkeit des Einzelnen weniger
deutlich macht. In diesem Bauernhause wissen alle, bis auf das zehnjährige
Kind hinab, um die Mordplüne und Morde, die vor sich gehn, aber der Ab¬
scheu treibt nirgend zum thätigen Widerstande, man duldet, man erduldet das
Übel wie einen Naturvorgnng, und nur im Kinde bricht die Teilnahme, das
Mitleid unwillkürlich mit sittlicher Thatkraft hervor. Sogar der Greis Ma,
der wie der Vertreter einer vergangne,? bessern Generation und Zeit erscheint,
findet nicht den Willen zur Gegenwehr in sich, auch in ihm ist die persönliche
Moral nicht stark genug, die Unmoral der Umgebung, den Nebel, der auf dem
ganzen Dorfleben des Bauern lastet, zu durchbrechen. Wo sich das Gewissen
dennoch regt, da hilft der Branntwein es wieder in den Schlupfwinkel zurück¬
drängen, in den Not, Furcht und völlige geistige Öde es eingeschlossen haben.
Dieses russische Dorf gleicht einem Verließ, in dessen finstern Mauern alles
fault, lichtlos, lustlos, blutlos, kraftlos. Und doch lebt auch in diesen Tiefen


Aipling und Tolstoi

der Gewalt auch in der rohesten Körperkraft, hier die Verdammung der Gewalt,
auch in der Kraft des Staats. Die Gewalt, verherrlicht von einem Sänger
des zivilisiertesten Volks Europas, und verdammt von dem Sänger des am
wenigsten zivilisierten unter den großen Völkern dieses Erdteils. Dort ein
Engländer, der in den Greueln unmenschlicher Kämpfe schwelgt, hier ein Russe,
der mit religiösem Ernst seine Stimme gegen die Greuel einer rohen Volks¬
moral und mehr noch gegen jeglichen Krieg, jegliche Kriegsmacht der Völker
oder der Staaten erhebt.

Wer „Die Macht der Finsternis" gesehen oder gelesen hat, wird sich
sagen: Das ist volle und nackte Wahrheit, das ist ganz Natur, vom Dichter
erlebte und empfundne Natur, so naturalistisch, wie unsre heutigen Nerven es
sich nur wünschen können. Erstaunlich ist für uns, daß ein Mann von euro¬
päischer Bildung, ein philosophischer Denker, ein Mann aus den obersten
sozialen Reihen so durchaus in den Geist, das Fühlen, die Form und den
Inhalt des Lebens einer Menschenklasse aufgehn kann, die so unendlich weit
von der Höhe seines Geistes, seiner Bildung, seiner Moral entfernt scheint.
In diese Tiefen des rohen Volksleben sind nur wenige vor ihm und nur auf
Augenblicke hinabgestiegen, ohne über kurz oder lang aus ihrer Rolle zu fallen.
In keiner der Figuren dieses Stücks und keinen Augenblick verrät sich der
Dichter als der über diesem Volksleben stehende kritische Geist; kein Gedanke,
kein Wort fällt heraus aus der Sphäre dieser kulturlosen, aber in ihrer natür¬
lichen Nackheit naiv auftretenden Wilden. Wir schaudern zurück vor den ge¬
häuftem Verbrechen, vor Gattenmord und Kindermord, vor Lüge und Habsucht,
vor elender Schwäche und teuflischer Verführung; aber es ist mehr der Schauder,
wie wenn wir Bestien einander zerfleischen sehen, als der Abscheu vor dem Ver¬
brechen, das aus der sittlichen Verderbtheit des seiner That bewußten Schurken
fließt. Dieselbe That, vollführt vom Wilden und vom Schurken, hat für uns
einen sehr verschiednen moralischen Wert und wirkt deshalb verschieden ans unser
Empfinden. In der Atmosphäre dieser russischen Bauern liegt ein moralischer
Nebel ausgebreitet, der uus die Verantwortlichkeit des Einzelnen weniger
deutlich macht. In diesem Bauernhause wissen alle, bis auf das zehnjährige
Kind hinab, um die Mordplüne und Morde, die vor sich gehn, aber der Ab¬
scheu treibt nirgend zum thätigen Widerstande, man duldet, man erduldet das
Übel wie einen Naturvorgnng, und nur im Kinde bricht die Teilnahme, das
Mitleid unwillkürlich mit sittlicher Thatkraft hervor. Sogar der Greis Ma,
der wie der Vertreter einer vergangne,? bessern Generation und Zeit erscheint,
findet nicht den Willen zur Gegenwehr in sich, auch in ihm ist die persönliche
Moral nicht stark genug, die Unmoral der Umgebung, den Nebel, der auf dem
ganzen Dorfleben des Bauern lastet, zu durchbrechen. Wo sich das Gewissen
dennoch regt, da hilft der Branntwein es wieder in den Schlupfwinkel zurück¬
drängen, in den Not, Furcht und völlige geistige Öde es eingeschlossen haben.
Dieses russische Dorf gleicht einem Verließ, in dessen finstern Mauern alles
fault, lichtlos, lustlos, blutlos, kraftlos. Und doch lebt auch in diesen Tiefen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/234560"/>
          <fw type="header" place="top"> Aipling und Tolstoi</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_54" prev="#ID_53"> der Gewalt auch in der rohesten Körperkraft, hier die Verdammung der Gewalt,<lb/>
auch in der Kraft des Staats. Die Gewalt, verherrlicht von einem Sänger<lb/>
des zivilisiertesten Volks Europas, und verdammt von dem Sänger des am<lb/>
wenigsten zivilisierten unter den großen Völkern dieses Erdteils. Dort ein<lb/>
Engländer, der in den Greueln unmenschlicher Kämpfe schwelgt, hier ein Russe,<lb/>
der mit religiösem Ernst seine Stimme gegen die Greuel einer rohen Volks¬<lb/>
moral und mehr noch gegen jeglichen Krieg, jegliche Kriegsmacht der Völker<lb/>
oder der Staaten erhebt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_55" next="#ID_56"> Wer &#x201E;Die Macht der Finsternis" gesehen oder gelesen hat, wird sich<lb/>
sagen: Das ist volle und nackte Wahrheit, das ist ganz Natur, vom Dichter<lb/>
erlebte und empfundne Natur, so naturalistisch, wie unsre heutigen Nerven es<lb/>
sich nur wünschen können. Erstaunlich ist für uns, daß ein Mann von euro¬<lb/>
päischer Bildung, ein philosophischer Denker, ein Mann aus den obersten<lb/>
sozialen Reihen so durchaus in den Geist, das Fühlen, die Form und den<lb/>
Inhalt des Lebens einer Menschenklasse aufgehn kann, die so unendlich weit<lb/>
von der Höhe seines Geistes, seiner Bildung, seiner Moral entfernt scheint.<lb/>
In diese Tiefen des rohen Volksleben sind nur wenige vor ihm und nur auf<lb/>
Augenblicke hinabgestiegen, ohne über kurz oder lang aus ihrer Rolle zu fallen.<lb/>
In keiner der Figuren dieses Stücks und keinen Augenblick verrät sich der<lb/>
Dichter als der über diesem Volksleben stehende kritische Geist; kein Gedanke,<lb/>
kein Wort fällt heraus aus der Sphäre dieser kulturlosen, aber in ihrer natür¬<lb/>
lichen Nackheit naiv auftretenden Wilden. Wir schaudern zurück vor den ge¬<lb/>
häuftem Verbrechen, vor Gattenmord und Kindermord, vor Lüge und Habsucht,<lb/>
vor elender Schwäche und teuflischer Verführung; aber es ist mehr der Schauder,<lb/>
wie wenn wir Bestien einander zerfleischen sehen, als der Abscheu vor dem Ver¬<lb/>
brechen, das aus der sittlichen Verderbtheit des seiner That bewußten Schurken<lb/>
fließt. Dieselbe That, vollführt vom Wilden und vom Schurken, hat für uns<lb/>
einen sehr verschiednen moralischen Wert und wirkt deshalb verschieden ans unser<lb/>
Empfinden. In der Atmosphäre dieser russischen Bauern liegt ein moralischer<lb/>
Nebel ausgebreitet, der uus die Verantwortlichkeit des Einzelnen weniger<lb/>
deutlich macht. In diesem Bauernhause wissen alle, bis auf das zehnjährige<lb/>
Kind hinab, um die Mordplüne und Morde, die vor sich gehn, aber der Ab¬<lb/>
scheu treibt nirgend zum thätigen Widerstande, man duldet, man erduldet das<lb/>
Übel wie einen Naturvorgnng, und nur im Kinde bricht die Teilnahme, das<lb/>
Mitleid unwillkürlich mit sittlicher Thatkraft hervor. Sogar der Greis Ma,<lb/>
der wie der Vertreter einer vergangne,? bessern Generation und Zeit erscheint,<lb/>
findet nicht den Willen zur Gegenwehr in sich, auch in ihm ist die persönliche<lb/>
Moral nicht stark genug, die Unmoral der Umgebung, den Nebel, der auf dem<lb/>
ganzen Dorfleben des Bauern lastet, zu durchbrechen. Wo sich das Gewissen<lb/>
dennoch regt, da hilft der Branntwein es wieder in den Schlupfwinkel zurück¬<lb/>
drängen, in den Not, Furcht und völlige geistige Öde es eingeschlossen haben.<lb/>
Dieses russische Dorf gleicht einem Verließ, in dessen finstern Mauern alles<lb/>
fault, lichtlos, lustlos, blutlos, kraftlos. Und doch lebt auch in diesen Tiefen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0030] Aipling und Tolstoi der Gewalt auch in der rohesten Körperkraft, hier die Verdammung der Gewalt, auch in der Kraft des Staats. Die Gewalt, verherrlicht von einem Sänger des zivilisiertesten Volks Europas, und verdammt von dem Sänger des am wenigsten zivilisierten unter den großen Völkern dieses Erdteils. Dort ein Engländer, der in den Greueln unmenschlicher Kämpfe schwelgt, hier ein Russe, der mit religiösem Ernst seine Stimme gegen die Greuel einer rohen Volks¬ moral und mehr noch gegen jeglichen Krieg, jegliche Kriegsmacht der Völker oder der Staaten erhebt. Wer „Die Macht der Finsternis" gesehen oder gelesen hat, wird sich sagen: Das ist volle und nackte Wahrheit, das ist ganz Natur, vom Dichter erlebte und empfundne Natur, so naturalistisch, wie unsre heutigen Nerven es sich nur wünschen können. Erstaunlich ist für uns, daß ein Mann von euro¬ päischer Bildung, ein philosophischer Denker, ein Mann aus den obersten sozialen Reihen so durchaus in den Geist, das Fühlen, die Form und den Inhalt des Lebens einer Menschenklasse aufgehn kann, die so unendlich weit von der Höhe seines Geistes, seiner Bildung, seiner Moral entfernt scheint. In diese Tiefen des rohen Volksleben sind nur wenige vor ihm und nur auf Augenblicke hinabgestiegen, ohne über kurz oder lang aus ihrer Rolle zu fallen. In keiner der Figuren dieses Stücks und keinen Augenblick verrät sich der Dichter als der über diesem Volksleben stehende kritische Geist; kein Gedanke, kein Wort fällt heraus aus der Sphäre dieser kulturlosen, aber in ihrer natür¬ lichen Nackheit naiv auftretenden Wilden. Wir schaudern zurück vor den ge¬ häuftem Verbrechen, vor Gattenmord und Kindermord, vor Lüge und Habsucht, vor elender Schwäche und teuflischer Verführung; aber es ist mehr der Schauder, wie wenn wir Bestien einander zerfleischen sehen, als der Abscheu vor dem Ver¬ brechen, das aus der sittlichen Verderbtheit des seiner That bewußten Schurken fließt. Dieselbe That, vollführt vom Wilden und vom Schurken, hat für uns einen sehr verschiednen moralischen Wert und wirkt deshalb verschieden ans unser Empfinden. In der Atmosphäre dieser russischen Bauern liegt ein moralischer Nebel ausgebreitet, der uus die Verantwortlichkeit des Einzelnen weniger deutlich macht. In diesem Bauernhause wissen alle, bis auf das zehnjährige Kind hinab, um die Mordplüne und Morde, die vor sich gehn, aber der Ab¬ scheu treibt nirgend zum thätigen Widerstande, man duldet, man erduldet das Übel wie einen Naturvorgnng, und nur im Kinde bricht die Teilnahme, das Mitleid unwillkürlich mit sittlicher Thatkraft hervor. Sogar der Greis Ma, der wie der Vertreter einer vergangne,? bessern Generation und Zeit erscheint, findet nicht den Willen zur Gegenwehr in sich, auch in ihm ist die persönliche Moral nicht stark genug, die Unmoral der Umgebung, den Nebel, der auf dem ganzen Dorfleben des Bauern lastet, zu durchbrechen. Wo sich das Gewissen dennoch regt, da hilft der Branntwein es wieder in den Schlupfwinkel zurück¬ drängen, in den Not, Furcht und völlige geistige Öde es eingeschlossen haben. Dieses russische Dorf gleicht einem Verließ, in dessen finstern Mauern alles fault, lichtlos, lustlos, blutlos, kraftlos. Und doch lebt auch in diesen Tiefen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/30
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/30>, abgerufen am 01.07.2024.