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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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aus der verwirrenden Zahl der strittigen Fragen das hervorzuholen, was den
Zwecken der Schule und zugleich der Wissenschaft gerecht wäre, ist nicht jeder¬
manns Sache, Überdies sind aus dem Altertum nur dürftige litterarische
Quellen erhalten, darunter die meisten so verschüttet und trübe, daß man ver¬
zweifeln muß, aus ihnen ein klares Bild zu schöpfen. Sogar Taeitus, der
mit den übrigen verglichen wie eine Eiche aus niedrigem Gestrüpp hervorragt,
giebt von einem der wichtigsten Abschnitte, der bedeutsamen Regierung des
zweiten Kaisers, nur ein verzerrtes Bild! Ans die Schwierigkeiten des
didaktischen Problems einzugehn, wäre hier nicht der Ort; das Gesagte reicht
aus, die Hauptursachen des in dem allerhöchsten Erlaß vermerkten Mangels
zu erkennen.

Gleichwohl hat die römische Kaiserzeit im Dienste der Aufgabe, die im
Organismus der Schule vornehmlich dem Geschichtsunterricht zugewiesen ist,
einen besondern Wert, Den historischen Sinn wecken -- so nennen es die
Lehrpläne --, heißt doch vor allem die Erkenntnis anbahnen, daß jede Gegen¬
wart in ihrer Vergangenheit wurzelt. Auf diese Erkenntnis geht im Grunde
alle ethische Wirkung des Geschichtsunterrichts zurück; deun sie erzeugt die
fromme Scheu vor dem Bestehenden, diese wahrhaft konservative Gesinnung,
die sich auch dann, wenn am staatlichen Bau Änderungen unvermeidlich werden,
bewußt bleibt, daß das Blut und der Schweiß der Väter daran kleben, Nun
giebt es in der Geschichte der drei Jahrtausende, durch die die Schule ihre
Jünglinge führt, keine Zeit, die so vielseitig und stark, so nachhaltig und
sichtbar auf die Entwicklung der folgenden eingewirkt Hütte, wie die römische
Kaiserzeit, Wie vieles von dem, was der mittelalterliche" Geschichte ihr Gepräge
giebt, geht in seineu letzten Gründen auf sie zurück! Wenn sich im Jahre 800
der große Frankenkönig zum römischen Kaiser krönen läßt, leben mit dem
alten Titel auch die großen Tendenzen wieder auf, die das römische Kaiser¬
tum in sich ausgebildet hatte: der Anspruch auf ^i" Weltregiment und auf die
Schntzherrschaft über die Christenheit; diesen Phantomen nachjagend verspritzen
die Ottonen und die Staufer auf Italiens Boden das deutsche Blut, bis ihre
Macht zerfällt, und das Reich zersplittert. Und vollends die andre Macht,
die unter, neben, zuletzt über dem Kaisertum die mittelalterliche Welt beherrscht,
die römische Kirche, erscheint sie nicht in ihrer Organisation und ihren An¬
sprüchen bis auf den heutigen Tag unter der Wirkung von Impulsen, die sie
von dem weltbeherrschenden römischen Imperium empfangen hat! Wenn sich
so die beiden Zentralgewalten des Mittelalters von Erinnerungen an die
römische Kaiserzeit beherrscht zeigen, wird man sich nicht wundern, auch auf
vielen andern Gebieten ihre tiefen Spuren zu finden. Die Entstehung der
romanischen Sprachen, die Entwicklung der mittelalterlichen Litteratur und
Kultur, die Einführung des römischen Rechts -- an diese nud andre Er¬
scheinungen erinnere man sich, um zu erkennen, wie mächtig und mannigfach
das römische Kaiserreich, diese vielseitigste und imponierendste Kulturgemein¬
schaft, die jemals zu einem Staate verbunden war, ans die Geschichte der


aus der verwirrenden Zahl der strittigen Fragen das hervorzuholen, was den
Zwecken der Schule und zugleich der Wissenschaft gerecht wäre, ist nicht jeder¬
manns Sache, Überdies sind aus dem Altertum nur dürftige litterarische
Quellen erhalten, darunter die meisten so verschüttet und trübe, daß man ver¬
zweifeln muß, aus ihnen ein klares Bild zu schöpfen. Sogar Taeitus, der
mit den übrigen verglichen wie eine Eiche aus niedrigem Gestrüpp hervorragt,
giebt von einem der wichtigsten Abschnitte, der bedeutsamen Regierung des
zweiten Kaisers, nur ein verzerrtes Bild! Ans die Schwierigkeiten des
didaktischen Problems einzugehn, wäre hier nicht der Ort; das Gesagte reicht
aus, die Hauptursachen des in dem allerhöchsten Erlaß vermerkten Mangels
zu erkennen.

Gleichwohl hat die römische Kaiserzeit im Dienste der Aufgabe, die im
Organismus der Schule vornehmlich dem Geschichtsunterricht zugewiesen ist,
einen besondern Wert, Den historischen Sinn wecken — so nennen es die
Lehrpläne —, heißt doch vor allem die Erkenntnis anbahnen, daß jede Gegen¬
wart in ihrer Vergangenheit wurzelt. Auf diese Erkenntnis geht im Grunde
alle ethische Wirkung des Geschichtsunterrichts zurück; deun sie erzeugt die
fromme Scheu vor dem Bestehenden, diese wahrhaft konservative Gesinnung,
die sich auch dann, wenn am staatlichen Bau Änderungen unvermeidlich werden,
bewußt bleibt, daß das Blut und der Schweiß der Väter daran kleben, Nun
giebt es in der Geschichte der drei Jahrtausende, durch die die Schule ihre
Jünglinge führt, keine Zeit, die so vielseitig und stark, so nachhaltig und
sichtbar auf die Entwicklung der folgenden eingewirkt Hütte, wie die römische
Kaiserzeit, Wie vieles von dem, was der mittelalterliche» Geschichte ihr Gepräge
giebt, geht in seineu letzten Gründen auf sie zurück! Wenn sich im Jahre 800
der große Frankenkönig zum römischen Kaiser krönen läßt, leben mit dem
alten Titel auch die großen Tendenzen wieder auf, die das römische Kaiser¬
tum in sich ausgebildet hatte: der Anspruch auf ^i» Weltregiment und auf die
Schntzherrschaft über die Christenheit; diesen Phantomen nachjagend verspritzen
die Ottonen und die Staufer auf Italiens Boden das deutsche Blut, bis ihre
Macht zerfällt, und das Reich zersplittert. Und vollends die andre Macht,
die unter, neben, zuletzt über dem Kaisertum die mittelalterliche Welt beherrscht,
die römische Kirche, erscheint sie nicht in ihrer Organisation und ihren An¬
sprüchen bis auf den heutigen Tag unter der Wirkung von Impulsen, die sie
von dem weltbeherrschenden römischen Imperium empfangen hat! Wenn sich
so die beiden Zentralgewalten des Mittelalters von Erinnerungen an die
römische Kaiserzeit beherrscht zeigen, wird man sich nicht wundern, auch auf
vielen andern Gebieten ihre tiefen Spuren zu finden. Die Entstehung der
romanischen Sprachen, die Entwicklung der mittelalterlichen Litteratur und
Kultur, die Einführung des römischen Rechts — an diese nud andre Er¬
scheinungen erinnere man sich, um zu erkennen, wie mächtig und mannigfach
das römische Kaiserreich, diese vielseitigste und imponierendste Kulturgemein¬
schaft, die jemals zu einem Staate verbunden war, ans die Geschichte der


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[0268] aus der verwirrenden Zahl der strittigen Fragen das hervorzuholen, was den Zwecken der Schule und zugleich der Wissenschaft gerecht wäre, ist nicht jeder¬ manns Sache, Überdies sind aus dem Altertum nur dürftige litterarische Quellen erhalten, darunter die meisten so verschüttet und trübe, daß man ver¬ zweifeln muß, aus ihnen ein klares Bild zu schöpfen. Sogar Taeitus, der mit den übrigen verglichen wie eine Eiche aus niedrigem Gestrüpp hervorragt, giebt von einem der wichtigsten Abschnitte, der bedeutsamen Regierung des zweiten Kaisers, nur ein verzerrtes Bild! Ans die Schwierigkeiten des didaktischen Problems einzugehn, wäre hier nicht der Ort; das Gesagte reicht aus, die Hauptursachen des in dem allerhöchsten Erlaß vermerkten Mangels zu erkennen. Gleichwohl hat die römische Kaiserzeit im Dienste der Aufgabe, die im Organismus der Schule vornehmlich dem Geschichtsunterricht zugewiesen ist, einen besondern Wert, Den historischen Sinn wecken — so nennen es die Lehrpläne —, heißt doch vor allem die Erkenntnis anbahnen, daß jede Gegen¬ wart in ihrer Vergangenheit wurzelt. Auf diese Erkenntnis geht im Grunde alle ethische Wirkung des Geschichtsunterrichts zurück; deun sie erzeugt die fromme Scheu vor dem Bestehenden, diese wahrhaft konservative Gesinnung, die sich auch dann, wenn am staatlichen Bau Änderungen unvermeidlich werden, bewußt bleibt, daß das Blut und der Schweiß der Väter daran kleben, Nun giebt es in der Geschichte der drei Jahrtausende, durch die die Schule ihre Jünglinge führt, keine Zeit, die so vielseitig und stark, so nachhaltig und sichtbar auf die Entwicklung der folgenden eingewirkt Hütte, wie die römische Kaiserzeit, Wie vieles von dem, was der mittelalterliche» Geschichte ihr Gepräge giebt, geht in seineu letzten Gründen auf sie zurück! Wenn sich im Jahre 800 der große Frankenkönig zum römischen Kaiser krönen läßt, leben mit dem alten Titel auch die großen Tendenzen wieder auf, die das römische Kaiser¬ tum in sich ausgebildet hatte: der Anspruch auf ^i» Weltregiment und auf die Schntzherrschaft über die Christenheit; diesen Phantomen nachjagend verspritzen die Ottonen und die Staufer auf Italiens Boden das deutsche Blut, bis ihre Macht zerfällt, und das Reich zersplittert. Und vollends die andre Macht, die unter, neben, zuletzt über dem Kaisertum die mittelalterliche Welt beherrscht, die römische Kirche, erscheint sie nicht in ihrer Organisation und ihren An¬ sprüchen bis auf den heutigen Tag unter der Wirkung von Impulsen, die sie von dem weltbeherrschenden römischen Imperium empfangen hat! Wenn sich so die beiden Zentralgewalten des Mittelalters von Erinnerungen an die römische Kaiserzeit beherrscht zeigen, wird man sich nicht wundern, auch auf vielen andern Gebieten ihre tiefen Spuren zu finden. Die Entstehung der romanischen Sprachen, die Entwicklung der mittelalterlichen Litteratur und Kultur, die Einführung des römischen Rechts — an diese nud andre Er¬ scheinungen erinnere man sich, um zu erkennen, wie mächtig und mannigfach das römische Kaiserreich, diese vielseitigste und imponierendste Kulturgemein¬ schaft, die jemals zu einem Staate verbunden war, ans die Geschichte der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/268>, abgerufen am 22.07.2024.