Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

in das Pe .usum der Obersekunda. Daß freilich trotz dieser deutlichen Weisung
in den Leistungen ein Defizit vorhanden war, konnte nur dem entgehn, der
znfriedei,t ist, wenn die gedruckten Jahresberichte das vorgeschriebne Pensum
als erledigt melden. Aber auch das Papier der Schulprogramme ist Papier
und geduldig, und soweit Wahrnehmung und Umfrage eines Einzelnen den
We,^ einer Stichprobe haben können, erinnert die römische Kaiserzeit im Kopfe
se^r vieler Dnrchschnittsabiturienten an ein finsteres Gewölbe, worin nur hier
in,d da in ungleichen Abständen ein kümmerliches Licht flackert.

Mehrere Ursachen wirkten und wirken zusammen, die Absicht der Lehr-
plüue zu vereiteln, Bor allem der Umstand, daß die alte Geschichte, für die
früher im obern Kursus zwei Jahre, Unter- und Obersekunda, mit zusammen
hundertsechzig Stunden zur Verfügung gestanden hatten, seit 1892 in einem
Jahre mit hundertzwanzig Stunden erledigt werden muß. Natürlich hing der
Erfolg davon ab, ob es gelingen würde, auf neuen Wegen den Zeitverlust zu
einem Teile einzubringen. Am nächsten lag es -- und die Lehrpläne selbst
forderten dazu auf --, den Unterrichtsstoff gründlich zu sichten. Wo man
diesen Wink, sei es aus Unmut über die für verfehlt gehaltne Neuerung oder
in bloßer Anhänglichkeit an eine bequeme Gewohnheit, nicht sofort beachtete,
nicht sehr viel Beiwerk entschlossen ausschied, ergaben sich zwei Möglichkeiten:
entweder die ganze Strecke abzuhasten, um äußerlich ans Ziel zu kommen, oder
irgendwo vorher stecken zu bleiben. Jenes wäre eine pädagogische Sünde der
schlimmsten Art, weil jede Befrachtung mit hastig Angeführten und mir ober¬
flächlich begriffnen Vorstellungen das Gedächtnis schwächt und abstumpft. Je
mehr diese Gefahr dem Lehrer bewußt war, um so wahrscheinlicher verfiel er
der zweiten, das letzte Stück des Pensums, also die Kaisergeschichte, unerledigt
zu lassen. Wirklich trat dies in den erstell Jahren so stark hervor, daß die
Unterrichtsverwaltung den Tod des Augustus als Endziel erlaubte und die
Behandlung der Kaiserzeit der Prima anheimgab, eine Änderung, die den wohl¬
überlegten und klaren Grundriß des Lehrplans verwischt hat, ohne der Sache
selbst viel zu frommen; wir lassen sie deshalb hier ganz außer Betracht.

Ein andrer Grund kommt hinzu, weshalb gerade die Kaisergeschichte die
Kosten der Neuerung zu tragen hatte, die Schwierigkeit des stofflichen und des
didaktischen Problems. Der Lehrer, dem nicht eigne Studien und Interessen die
Zeit vertraut gemacht haben, sieht sich hier von Hilfsmitteln, wie sie ihm für
andre Zeitabschnitte in ausreichender Zahl und Güte zur Hand sind, so ziem¬
lich verlassen. Denn die Kaisergeschichte, die bei souveräner Beherrschung
des Stoffs und der Forschung die Jahrhunderte von Augustus bis Theo-
dosius, ihre hervorragenden Persönlichkeiten, den Stand und die Entwick¬
lung ihres politischen, materiellen und geistigen Lebens in großen, scharfen
Zügen darstellt und mit sicherm Augenmaß in das Gebäude der Universal¬
geschichte einfügt -- mit einem Wort, Theodor Mommsens vierter Band der
römischen Geschichte ist noch nicht geschrieben. Aus der großen, beinahe täglich
durch neue Entdeckungen und Funde anschwellenden Menge des Stoffs und


in das Pe .usum der Obersekunda. Daß freilich trotz dieser deutlichen Weisung
in den Leistungen ein Defizit vorhanden war, konnte nur dem entgehn, der
znfriedei,t ist, wenn die gedruckten Jahresberichte das vorgeschriebne Pensum
als erledigt melden. Aber auch das Papier der Schulprogramme ist Papier
und geduldig, und soweit Wahrnehmung und Umfrage eines Einzelnen den
We,^ einer Stichprobe haben können, erinnert die römische Kaiserzeit im Kopfe
se^r vieler Dnrchschnittsabiturienten an ein finsteres Gewölbe, worin nur hier
in,d da in ungleichen Abständen ein kümmerliches Licht flackert.

Mehrere Ursachen wirkten und wirken zusammen, die Absicht der Lehr-
plüue zu vereiteln, Bor allem der Umstand, daß die alte Geschichte, für die
früher im obern Kursus zwei Jahre, Unter- und Obersekunda, mit zusammen
hundertsechzig Stunden zur Verfügung gestanden hatten, seit 1892 in einem
Jahre mit hundertzwanzig Stunden erledigt werden muß. Natürlich hing der
Erfolg davon ab, ob es gelingen würde, auf neuen Wegen den Zeitverlust zu
einem Teile einzubringen. Am nächsten lag es — und die Lehrpläne selbst
forderten dazu auf —, den Unterrichtsstoff gründlich zu sichten. Wo man
diesen Wink, sei es aus Unmut über die für verfehlt gehaltne Neuerung oder
in bloßer Anhänglichkeit an eine bequeme Gewohnheit, nicht sofort beachtete,
nicht sehr viel Beiwerk entschlossen ausschied, ergaben sich zwei Möglichkeiten:
entweder die ganze Strecke abzuhasten, um äußerlich ans Ziel zu kommen, oder
irgendwo vorher stecken zu bleiben. Jenes wäre eine pädagogische Sünde der
schlimmsten Art, weil jede Befrachtung mit hastig Angeführten und mir ober¬
flächlich begriffnen Vorstellungen das Gedächtnis schwächt und abstumpft. Je
mehr diese Gefahr dem Lehrer bewußt war, um so wahrscheinlicher verfiel er
der zweiten, das letzte Stück des Pensums, also die Kaisergeschichte, unerledigt
zu lassen. Wirklich trat dies in den erstell Jahren so stark hervor, daß die
Unterrichtsverwaltung den Tod des Augustus als Endziel erlaubte und die
Behandlung der Kaiserzeit der Prima anheimgab, eine Änderung, die den wohl¬
überlegten und klaren Grundriß des Lehrplans verwischt hat, ohne der Sache
selbst viel zu frommen; wir lassen sie deshalb hier ganz außer Betracht.

Ein andrer Grund kommt hinzu, weshalb gerade die Kaisergeschichte die
Kosten der Neuerung zu tragen hatte, die Schwierigkeit des stofflichen und des
didaktischen Problems. Der Lehrer, dem nicht eigne Studien und Interessen die
Zeit vertraut gemacht haben, sieht sich hier von Hilfsmitteln, wie sie ihm für
andre Zeitabschnitte in ausreichender Zahl und Güte zur Hand sind, so ziem¬
lich verlassen. Denn die Kaisergeschichte, die bei souveräner Beherrschung
des Stoffs und der Forschung die Jahrhunderte von Augustus bis Theo-
dosius, ihre hervorragenden Persönlichkeiten, den Stand und die Entwick¬
lung ihres politischen, materiellen und geistigen Lebens in großen, scharfen
Zügen darstellt und mit sicherm Augenmaß in das Gebäude der Universal¬
geschichte einfügt — mit einem Wort, Theodor Mommsens vierter Band der
römischen Geschichte ist noch nicht geschrieben. Aus der großen, beinahe täglich
durch neue Entdeckungen und Funde anschwellenden Menge des Stoffs und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0267" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/234797"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_793" prev="#ID_792"> in das Pe .usum der Obersekunda. Daß freilich trotz dieser deutlichen Weisung<lb/>
in den Leistungen ein Defizit vorhanden war, konnte nur dem entgehn, der<lb/>
znfriedei,t ist, wenn die gedruckten Jahresberichte das vorgeschriebne Pensum<lb/>
als erledigt melden. Aber auch das Papier der Schulprogramme ist Papier<lb/>
und geduldig, und soweit Wahrnehmung und Umfrage eines Einzelnen den<lb/>
We,^ einer Stichprobe haben können, erinnert die römische Kaiserzeit im Kopfe<lb/>
se^r vieler Dnrchschnittsabiturienten an ein finsteres Gewölbe, worin nur hier<lb/>
in,d da in ungleichen Abständen ein kümmerliches Licht flackert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_794"> Mehrere Ursachen wirkten und wirken zusammen, die Absicht der Lehr-<lb/>
plüue zu vereiteln, Bor allem der Umstand, daß die alte Geschichte, für die<lb/>
früher im obern Kursus zwei Jahre, Unter- und Obersekunda, mit zusammen<lb/>
hundertsechzig Stunden zur Verfügung gestanden hatten, seit 1892 in einem<lb/>
Jahre mit hundertzwanzig Stunden erledigt werden muß. Natürlich hing der<lb/>
Erfolg davon ab, ob es gelingen würde, auf neuen Wegen den Zeitverlust zu<lb/>
einem Teile einzubringen. Am nächsten lag es &#x2014; und die Lehrpläne selbst<lb/>
forderten dazu auf &#x2014;, den Unterrichtsstoff gründlich zu sichten. Wo man<lb/>
diesen Wink, sei es aus Unmut über die für verfehlt gehaltne Neuerung oder<lb/>
in bloßer Anhänglichkeit an eine bequeme Gewohnheit, nicht sofort beachtete,<lb/>
nicht sehr viel Beiwerk entschlossen ausschied, ergaben sich zwei Möglichkeiten:<lb/>
entweder die ganze Strecke abzuhasten, um äußerlich ans Ziel zu kommen, oder<lb/>
irgendwo vorher stecken zu bleiben. Jenes wäre eine pädagogische Sünde der<lb/>
schlimmsten Art, weil jede Befrachtung mit hastig Angeführten und mir ober¬<lb/>
flächlich begriffnen Vorstellungen das Gedächtnis schwächt und abstumpft. Je<lb/>
mehr diese Gefahr dem Lehrer bewußt war, um so wahrscheinlicher verfiel er<lb/>
der zweiten, das letzte Stück des Pensums, also die Kaisergeschichte, unerledigt<lb/>
zu lassen. Wirklich trat dies in den erstell Jahren so stark hervor, daß die<lb/>
Unterrichtsverwaltung den Tod des Augustus als Endziel erlaubte und die<lb/>
Behandlung der Kaiserzeit der Prima anheimgab, eine Änderung, die den wohl¬<lb/>
überlegten und klaren Grundriß des Lehrplans verwischt hat, ohne der Sache<lb/>
selbst viel zu frommen; wir lassen sie deshalb hier ganz außer Betracht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_795" next="#ID_796"> Ein andrer Grund kommt hinzu, weshalb gerade die Kaisergeschichte die<lb/>
Kosten der Neuerung zu tragen hatte, die Schwierigkeit des stofflichen und des<lb/>
didaktischen Problems. Der Lehrer, dem nicht eigne Studien und Interessen die<lb/>
Zeit vertraut gemacht haben, sieht sich hier von Hilfsmitteln, wie sie ihm für<lb/>
andre Zeitabschnitte in ausreichender Zahl und Güte zur Hand sind, so ziem¬<lb/>
lich verlassen. Denn die Kaisergeschichte, die bei souveräner Beherrschung<lb/>
des Stoffs und der Forschung die Jahrhunderte von Augustus bis Theo-<lb/>
dosius, ihre hervorragenden Persönlichkeiten, den Stand und die Entwick¬<lb/>
lung ihres politischen, materiellen und geistigen Lebens in großen, scharfen<lb/>
Zügen darstellt und mit sicherm Augenmaß in das Gebäude der Universal¬<lb/>
geschichte einfügt &#x2014; mit einem Wort, Theodor Mommsens vierter Band der<lb/>
römischen Geschichte ist noch nicht geschrieben. Aus der großen, beinahe täglich<lb/>
durch neue Entdeckungen und Funde anschwellenden Menge des Stoffs und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0267] in das Pe .usum der Obersekunda. Daß freilich trotz dieser deutlichen Weisung in den Leistungen ein Defizit vorhanden war, konnte nur dem entgehn, der znfriedei,t ist, wenn die gedruckten Jahresberichte das vorgeschriebne Pensum als erledigt melden. Aber auch das Papier der Schulprogramme ist Papier und geduldig, und soweit Wahrnehmung und Umfrage eines Einzelnen den We,^ einer Stichprobe haben können, erinnert die römische Kaiserzeit im Kopfe se^r vieler Dnrchschnittsabiturienten an ein finsteres Gewölbe, worin nur hier in,d da in ungleichen Abständen ein kümmerliches Licht flackert. Mehrere Ursachen wirkten und wirken zusammen, die Absicht der Lehr- plüue zu vereiteln, Bor allem der Umstand, daß die alte Geschichte, für die früher im obern Kursus zwei Jahre, Unter- und Obersekunda, mit zusammen hundertsechzig Stunden zur Verfügung gestanden hatten, seit 1892 in einem Jahre mit hundertzwanzig Stunden erledigt werden muß. Natürlich hing der Erfolg davon ab, ob es gelingen würde, auf neuen Wegen den Zeitverlust zu einem Teile einzubringen. Am nächsten lag es — und die Lehrpläne selbst forderten dazu auf —, den Unterrichtsstoff gründlich zu sichten. Wo man diesen Wink, sei es aus Unmut über die für verfehlt gehaltne Neuerung oder in bloßer Anhänglichkeit an eine bequeme Gewohnheit, nicht sofort beachtete, nicht sehr viel Beiwerk entschlossen ausschied, ergaben sich zwei Möglichkeiten: entweder die ganze Strecke abzuhasten, um äußerlich ans Ziel zu kommen, oder irgendwo vorher stecken zu bleiben. Jenes wäre eine pädagogische Sünde der schlimmsten Art, weil jede Befrachtung mit hastig Angeführten und mir ober¬ flächlich begriffnen Vorstellungen das Gedächtnis schwächt und abstumpft. Je mehr diese Gefahr dem Lehrer bewußt war, um so wahrscheinlicher verfiel er der zweiten, das letzte Stück des Pensums, also die Kaisergeschichte, unerledigt zu lassen. Wirklich trat dies in den erstell Jahren so stark hervor, daß die Unterrichtsverwaltung den Tod des Augustus als Endziel erlaubte und die Behandlung der Kaiserzeit der Prima anheimgab, eine Änderung, die den wohl¬ überlegten und klaren Grundriß des Lehrplans verwischt hat, ohne der Sache selbst viel zu frommen; wir lassen sie deshalb hier ganz außer Betracht. Ein andrer Grund kommt hinzu, weshalb gerade die Kaisergeschichte die Kosten der Neuerung zu tragen hatte, die Schwierigkeit des stofflichen und des didaktischen Problems. Der Lehrer, dem nicht eigne Studien und Interessen die Zeit vertraut gemacht haben, sieht sich hier von Hilfsmitteln, wie sie ihm für andre Zeitabschnitte in ausreichender Zahl und Güte zur Hand sind, so ziem¬ lich verlassen. Denn die Kaisergeschichte, die bei souveräner Beherrschung des Stoffs und der Forschung die Jahrhunderte von Augustus bis Theo- dosius, ihre hervorragenden Persönlichkeiten, den Stand und die Entwick¬ lung ihres politischen, materiellen und geistigen Lebens in großen, scharfen Zügen darstellt und mit sicherm Augenmaß in das Gebäude der Universal¬ geschichte einfügt — mit einem Wort, Theodor Mommsens vierter Band der römischen Geschichte ist noch nicht geschrieben. Aus der großen, beinahe täglich durch neue Entdeckungen und Funde anschwellenden Menge des Stoffs und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/267
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/267>, abgerufen am 22.07.2024.