Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zurück zu Rand!

des Sehens. Darin scheinen mir freilich einige Ausführungen von unter¬
geordneter Bedeutung einer kleinen Korrektur oder bessern Begründung zu be¬
dürfen. So z. B. wird die Relativität aller Bewegung zwar überzeugend
nachgewiesen (nur den doch nicht unwichtigen Umstand erwähnt Liebmann nicht,
daß wir, wenn nur ohne die geringste Erschütterung unsers Leibes bewegt
werden, z. B. im Lift, uus völlig unbewegt fühlen und die stillstehende Um¬
gebung sich bewegen sehen), dagegen die Antithese, das; absolute Bewegung
dennoch denkbar sei, mit seiner Annahme eines im leeren Raum rotierenden
Körpers keineswegs dargethan. Er meint, wenn man sich eine Kugel im
leeren Raum denke, so könne bei ihr weder von einer fortschreitenden noch von
einer rotierenden Bewegung die Rede sein. Das erste ist richtig, da es keinen
Gegenstand giebt, in Beziehung auf den sie fortschreiten könnte, das zweite
offenbar falsch, weil die rotierende Bewegung eine Relation herstellt: nicht
bloß die Punkte des Äquators, sondern alle Punkte der Kugel, die außerhalb
der Achse liegen, bewegen sich um diese, also in Beziehung auf diese. Wenn
nun Liebmann fortfährt, man dürfe sich die Kugel nur materiell denken, in
welchem Falle sie sich durch Abplattung der Pole in ein Ellipsoid verwandelt,
um sich zu überzeugen, daß dennoch absolute Bewegung denkbar sei, so ist
erstens diese Annahme überflüssig, da wie gesagt, anch wenn die Kugel Kugel
bleibt, ihre rotierendeil Punkte sich bewegen, und zweitens ist die Bewegung
eben eine relative; absolute Bewegung bleibt demnach undenkbar. Dann: daß
wir die Gegenstände nicht, wie einige behauptet haben, verkehrt sehen, hat
Liebmann durch die einfache Reproduktion der bekannten schematischen Dar¬
stellung des Schalls bewiesen. Da sich die vom gesehenen Gegenstande aus¬
gehenden Lichtstrahlen im Innern des Auges in einem vor der Netzhaut
liegenden Punkte kreuzen, so wird beim Sehen eines Baumes z. V. der
unterste Punkt des Netzhautbildchens in der Richtung des Lichtstrahls auf den
Wipfel und der oberste an den Fuß des Baumes projiziert, man sieht diesen
also stehn, wie er in Wirklichkeit steht. Aber nach Lotze ist gar kein Beweis
nötig, weil ja das Sehen nicht in der Netzhaut, sondern im Gehirn stattfindet,
bis wohin sich das Netzhautbild nicht fortbewegt. Dieses ist für die betreffende
Gehirngegend nur der Anstoß, die Seele zu veranlassen, daß sie das natur¬
wahre Bild des Baums schafft. Sodann: Überweg soll die Prvjektionstheorie
verworfen haben, weil er die Möglichkeit jeder -uztio in cüswQs geleugnet habe,
und Liebmann selbst scheint hier eine aotio in eust!in8 anzunehmen. Kann
man denn eine optische Projektion eine actio in clistzms nennen? Sie ist ja
eine Operation, die sich innerhalb der Seele vollzieht und deu Baum gar
nicht berührt; weder packt noch erschüttert sie den Baumwipfel. Daß es eine
ÄLtio in 6i8tÄN8 giebt, aber daß sie freilich unerklärlich bleibt, darin stimme
ich natürlich mit Liebmann überein. Daß die Sonne unsre Erde anzieht, ist
Thatsache, wie sie es anfangt, weiß niemand.

Dem Darwinismus steht Liebmann, wie die naturphilosophischen Abhand¬
lungen beweisen, genau so gegenüber wie ich; er läßt ihn als Hypothese gelten,


Zurück zu Rand!

des Sehens. Darin scheinen mir freilich einige Ausführungen von unter¬
geordneter Bedeutung einer kleinen Korrektur oder bessern Begründung zu be¬
dürfen. So z. B. wird die Relativität aller Bewegung zwar überzeugend
nachgewiesen (nur den doch nicht unwichtigen Umstand erwähnt Liebmann nicht,
daß wir, wenn nur ohne die geringste Erschütterung unsers Leibes bewegt
werden, z. B. im Lift, uus völlig unbewegt fühlen und die stillstehende Um¬
gebung sich bewegen sehen), dagegen die Antithese, das; absolute Bewegung
dennoch denkbar sei, mit seiner Annahme eines im leeren Raum rotierenden
Körpers keineswegs dargethan. Er meint, wenn man sich eine Kugel im
leeren Raum denke, so könne bei ihr weder von einer fortschreitenden noch von
einer rotierenden Bewegung die Rede sein. Das erste ist richtig, da es keinen
Gegenstand giebt, in Beziehung auf den sie fortschreiten könnte, das zweite
offenbar falsch, weil die rotierende Bewegung eine Relation herstellt: nicht
bloß die Punkte des Äquators, sondern alle Punkte der Kugel, die außerhalb
der Achse liegen, bewegen sich um diese, also in Beziehung auf diese. Wenn
nun Liebmann fortfährt, man dürfe sich die Kugel nur materiell denken, in
welchem Falle sie sich durch Abplattung der Pole in ein Ellipsoid verwandelt,
um sich zu überzeugen, daß dennoch absolute Bewegung denkbar sei, so ist
erstens diese Annahme überflüssig, da wie gesagt, anch wenn die Kugel Kugel
bleibt, ihre rotierendeil Punkte sich bewegen, und zweitens ist die Bewegung
eben eine relative; absolute Bewegung bleibt demnach undenkbar. Dann: daß
wir die Gegenstände nicht, wie einige behauptet haben, verkehrt sehen, hat
Liebmann durch die einfache Reproduktion der bekannten schematischen Dar¬
stellung des Schalls bewiesen. Da sich die vom gesehenen Gegenstande aus¬
gehenden Lichtstrahlen im Innern des Auges in einem vor der Netzhaut
liegenden Punkte kreuzen, so wird beim Sehen eines Baumes z. V. der
unterste Punkt des Netzhautbildchens in der Richtung des Lichtstrahls auf den
Wipfel und der oberste an den Fuß des Baumes projiziert, man sieht diesen
also stehn, wie er in Wirklichkeit steht. Aber nach Lotze ist gar kein Beweis
nötig, weil ja das Sehen nicht in der Netzhaut, sondern im Gehirn stattfindet,
bis wohin sich das Netzhautbild nicht fortbewegt. Dieses ist für die betreffende
Gehirngegend nur der Anstoß, die Seele zu veranlassen, daß sie das natur¬
wahre Bild des Baums schafft. Sodann: Überweg soll die Prvjektionstheorie
verworfen haben, weil er die Möglichkeit jeder -uztio in cüswQs geleugnet habe,
und Liebmann selbst scheint hier eine aotio in eust!in8 anzunehmen. Kann
man denn eine optische Projektion eine actio in clistzms nennen? Sie ist ja
eine Operation, die sich innerhalb der Seele vollzieht und deu Baum gar
nicht berührt; weder packt noch erschüttert sie den Baumwipfel. Daß es eine
ÄLtio in 6i8tÄN8 giebt, aber daß sie freilich unerklärlich bleibt, darin stimme
ich natürlich mit Liebmann überein. Daß die Sonne unsre Erde anzieht, ist
Thatsache, wie sie es anfangt, weiß niemand.

Dem Darwinismus steht Liebmann, wie die naturphilosophischen Abhand¬
lungen beweisen, genau so gegenüber wie ich; er läßt ihn als Hypothese gelten,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0024" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/234554"/>
          <fw type="header" place="top"> Zurück zu Rand!</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_40" prev="#ID_39"> des Sehens. Darin scheinen mir freilich einige Ausführungen von unter¬<lb/>
geordneter Bedeutung einer kleinen Korrektur oder bessern Begründung zu be¬<lb/>
dürfen. So z. B. wird die Relativität aller Bewegung zwar überzeugend<lb/>
nachgewiesen (nur den doch nicht unwichtigen Umstand erwähnt Liebmann nicht,<lb/>
daß wir, wenn nur ohne die geringste Erschütterung unsers Leibes bewegt<lb/>
werden, z. B. im Lift, uus völlig unbewegt fühlen und die stillstehende Um¬<lb/>
gebung sich bewegen sehen), dagegen die Antithese, das; absolute Bewegung<lb/>
dennoch denkbar sei, mit seiner Annahme eines im leeren Raum rotierenden<lb/>
Körpers keineswegs dargethan. Er meint, wenn man sich eine Kugel im<lb/>
leeren Raum denke, so könne bei ihr weder von einer fortschreitenden noch von<lb/>
einer rotierenden Bewegung die Rede sein. Das erste ist richtig, da es keinen<lb/>
Gegenstand giebt, in Beziehung auf den sie fortschreiten könnte, das zweite<lb/>
offenbar falsch, weil die rotierende Bewegung eine Relation herstellt: nicht<lb/>
bloß die Punkte des Äquators, sondern alle Punkte der Kugel, die außerhalb<lb/>
der Achse liegen, bewegen sich um diese, also in Beziehung auf diese. Wenn<lb/>
nun Liebmann fortfährt, man dürfe sich die Kugel nur materiell denken, in<lb/>
welchem Falle sie sich durch Abplattung der Pole in ein Ellipsoid verwandelt,<lb/>
um sich zu überzeugen, daß dennoch absolute Bewegung denkbar sei, so ist<lb/>
erstens diese Annahme überflüssig, da wie gesagt, anch wenn die Kugel Kugel<lb/>
bleibt, ihre rotierendeil Punkte sich bewegen, und zweitens ist die Bewegung<lb/>
eben eine relative; absolute Bewegung bleibt demnach undenkbar. Dann: daß<lb/>
wir die Gegenstände nicht, wie einige behauptet haben, verkehrt sehen, hat<lb/>
Liebmann durch die einfache Reproduktion der bekannten schematischen Dar¬<lb/>
stellung des Schalls bewiesen. Da sich die vom gesehenen Gegenstande aus¬<lb/>
gehenden Lichtstrahlen im Innern des Auges in einem vor der Netzhaut<lb/>
liegenden Punkte kreuzen, so wird beim Sehen eines Baumes z. V. der<lb/>
unterste Punkt des Netzhautbildchens in der Richtung des Lichtstrahls auf den<lb/>
Wipfel und der oberste an den Fuß des Baumes projiziert, man sieht diesen<lb/>
also stehn, wie er in Wirklichkeit steht. Aber nach Lotze ist gar kein Beweis<lb/>
nötig, weil ja das Sehen nicht in der Netzhaut, sondern im Gehirn stattfindet,<lb/>
bis wohin sich das Netzhautbild nicht fortbewegt. Dieses ist für die betreffende<lb/>
Gehirngegend nur der Anstoß, die Seele zu veranlassen, daß sie das natur¬<lb/>
wahre Bild des Baums schafft. Sodann: Überweg soll die Prvjektionstheorie<lb/>
verworfen haben, weil er die Möglichkeit jeder -uztio in cüswQs geleugnet habe,<lb/>
und Liebmann selbst scheint hier eine aotio in eust!in8 anzunehmen. Kann<lb/>
man denn eine optische Projektion eine actio in clistzms nennen? Sie ist ja<lb/>
eine Operation, die sich innerhalb der Seele vollzieht und deu Baum gar<lb/>
nicht berührt; weder packt noch erschüttert sie den Baumwipfel. Daß es eine<lb/>
ÄLtio in 6i8tÄN8 giebt, aber daß sie freilich unerklärlich bleibt, darin stimme<lb/>
ich natürlich mit Liebmann überein. Daß die Sonne unsre Erde anzieht, ist<lb/>
Thatsache, wie sie es anfangt, weiß niemand.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_41" next="#ID_42"> Dem Darwinismus steht Liebmann, wie die naturphilosophischen Abhand¬<lb/>
lungen beweisen, genau so gegenüber wie ich; er läßt ihn als Hypothese gelten,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0024] Zurück zu Rand! des Sehens. Darin scheinen mir freilich einige Ausführungen von unter¬ geordneter Bedeutung einer kleinen Korrektur oder bessern Begründung zu be¬ dürfen. So z. B. wird die Relativität aller Bewegung zwar überzeugend nachgewiesen (nur den doch nicht unwichtigen Umstand erwähnt Liebmann nicht, daß wir, wenn nur ohne die geringste Erschütterung unsers Leibes bewegt werden, z. B. im Lift, uus völlig unbewegt fühlen und die stillstehende Um¬ gebung sich bewegen sehen), dagegen die Antithese, das; absolute Bewegung dennoch denkbar sei, mit seiner Annahme eines im leeren Raum rotierenden Körpers keineswegs dargethan. Er meint, wenn man sich eine Kugel im leeren Raum denke, so könne bei ihr weder von einer fortschreitenden noch von einer rotierenden Bewegung die Rede sein. Das erste ist richtig, da es keinen Gegenstand giebt, in Beziehung auf den sie fortschreiten könnte, das zweite offenbar falsch, weil die rotierende Bewegung eine Relation herstellt: nicht bloß die Punkte des Äquators, sondern alle Punkte der Kugel, die außerhalb der Achse liegen, bewegen sich um diese, also in Beziehung auf diese. Wenn nun Liebmann fortfährt, man dürfe sich die Kugel nur materiell denken, in welchem Falle sie sich durch Abplattung der Pole in ein Ellipsoid verwandelt, um sich zu überzeugen, daß dennoch absolute Bewegung denkbar sei, so ist erstens diese Annahme überflüssig, da wie gesagt, anch wenn die Kugel Kugel bleibt, ihre rotierendeil Punkte sich bewegen, und zweitens ist die Bewegung eben eine relative; absolute Bewegung bleibt demnach undenkbar. Dann: daß wir die Gegenstände nicht, wie einige behauptet haben, verkehrt sehen, hat Liebmann durch die einfache Reproduktion der bekannten schematischen Dar¬ stellung des Schalls bewiesen. Da sich die vom gesehenen Gegenstande aus¬ gehenden Lichtstrahlen im Innern des Auges in einem vor der Netzhaut liegenden Punkte kreuzen, so wird beim Sehen eines Baumes z. V. der unterste Punkt des Netzhautbildchens in der Richtung des Lichtstrahls auf den Wipfel und der oberste an den Fuß des Baumes projiziert, man sieht diesen also stehn, wie er in Wirklichkeit steht. Aber nach Lotze ist gar kein Beweis nötig, weil ja das Sehen nicht in der Netzhaut, sondern im Gehirn stattfindet, bis wohin sich das Netzhautbild nicht fortbewegt. Dieses ist für die betreffende Gehirngegend nur der Anstoß, die Seele zu veranlassen, daß sie das natur¬ wahre Bild des Baums schafft. Sodann: Überweg soll die Prvjektionstheorie verworfen haben, weil er die Möglichkeit jeder -uztio in cüswQs geleugnet habe, und Liebmann selbst scheint hier eine aotio in eust!in8 anzunehmen. Kann man denn eine optische Projektion eine actio in clistzms nennen? Sie ist ja eine Operation, die sich innerhalb der Seele vollzieht und deu Baum gar nicht berührt; weder packt noch erschüttert sie den Baumwipfel. Daß es eine ÄLtio in 6i8tÄN8 giebt, aber daß sie freilich unerklärlich bleibt, darin stimme ich natürlich mit Liebmann überein. Daß die Sonne unsre Erde anzieht, ist Thatsache, wie sie es anfangt, weiß niemand. Dem Darwinismus steht Liebmann, wie die naturphilosophischen Abhand¬ lungen beweisen, genau so gegenüber wie ich; er läßt ihn als Hypothese gelten,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/24
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/24>, abgerufen am 01.07.2024.