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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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bekämpft aber die Anmaßung, mit der seine Vertreter die Hypothese als Dogma
lehren und für eine zureichende Naturerklärung, ja für die Lösung des Welt¬
rätsels ausgeben. Einiges von dem, was Liebmann in ausführlichen Be¬
trachtungen klar macht, mag hier wenigstens kurz verzeichnet werden. Davon,
daß jemand die Entstehung der Organismen und ihrer Arten erklärt Hütte,
kann gar keine Rede sein. "Will man nach Art gewisser Leute unter Wunder
alles das verstehn, was sich nicht auf rein mechanische Prozesse zurückführen
läßt, dann, in der That, hieße es angesichts der organischen Naturerscheinungen:
ein Wunder wärs, wenn hier kein Wunder im Spiele wäre." Der auffälligste
Unterschied des Organischen vom Unorganischen besteht darin, daß jenem die
Form das Wesentliche ist. Dem Unorganischen, auch dem krystallisierten
Mineral, ist die Form nicht wesentlich; Schwefel bleibt Schwefel, mag er
krystallinisch, amorph oder geschmolzen sein; aber ein geschmolznes Pferd ist
kein Pferd mehr. Beim unorganischen Wesen bleibt der Stoff immer derselbe,
und ist die sich wandelnde Form gleichgiltig; beim organischen wechselt die
Materie unaufhörlich, sodaß nach einer gewissen Zeit alle Stvffteile durch
neue ersetzt sind, während die Form, durch die allein der Gegenstand ist, was
er ist: eine Rose, ein Pferd, beharrt; mit der Form verschwindet auch das
organische Wesen. Man hat wohl den organischen Körper eine lebendige
Maschine genannt. "Aber! Aber! Die Maschine ist ein äußerlich und will¬
kürlich gemachtes Artefakt, der Organismus nach immanenten, verborgnen
Gesetz ex ovo gewachsen. Das Hsssörrioirioon der Maschine gehört nicht zu
ihr, residiert uicht in ihr; Heizer und Lokomotivführer sitzen auf ihr und lenken
sie wie der Reiter sein Roß. Das Ho^öruonivou des lebendigen Organismus,
Intelligenz und Wille, gehört zu ihm, ist mit ihm entstanden, bildet seinen
integrierender Bestandteil. Und -- ganz abgesehen von den psychischen Funk¬
tionen -- die Teile der Maschine sind ein für allemal da, bleiben ihren mate¬
riellen Bestandteilen nach mit sich identisch, solange bis die Maschine äußerlich
repariert wird; die Organe des Organismus bleiben nur der Form uach
identisch, während ihr Stoff fortwährend wechselt, sie erneuern oder reparieren
sich selbst. Der Organismus wäre daher eine Maschine zu nennen, die uicht
allein vou selbst uach Naturgesetzen entstanden, nach keinem äußern, sondern
nach immanenten Plane gewachsen wäre, sondern die auch außer der äußern
Arbeitsleistung die innere plastische Arbeit unaufhörlicher Selbsterzeugung aller
ihrer Teile in der durch den innewohnenden Plan vorgezeichneten Form aus¬
zuführen imstande ist. Eine merkwürdige Maschine das!" Was würde uns
denn, fragt Liebmann, der Darwinismus im günstigen Falle, nämlich seine
empirische Bestätigung vorausgesetzt, liefern? (Die Behauptung, daß der Er¬
fahrungsbeweis für die Darwinischen Hypothesen und Theorien schon erbracht
sei, gehört zu den unbegründeten Anmaßungen seiner Vertreter.) Antwort:
"Ebenso wie die Embryologie eine Entwicklungsgeschichte, Kenntnis der histo¬
rischen Aufeinanderfolge der Stufen eines langwierigen Entwicklungsprozesses,
der für uns im Schoße grauer Urzeiten verborgen liegt, wie die Entwicklung


Grenzboten II 1901 N
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bekämpft aber die Anmaßung, mit der seine Vertreter die Hypothese als Dogma
lehren und für eine zureichende Naturerklärung, ja für die Lösung des Welt¬
rätsels ausgeben. Einiges von dem, was Liebmann in ausführlichen Be¬
trachtungen klar macht, mag hier wenigstens kurz verzeichnet werden. Davon,
daß jemand die Entstehung der Organismen und ihrer Arten erklärt Hütte,
kann gar keine Rede sein. „Will man nach Art gewisser Leute unter Wunder
alles das verstehn, was sich nicht auf rein mechanische Prozesse zurückführen
läßt, dann, in der That, hieße es angesichts der organischen Naturerscheinungen:
ein Wunder wärs, wenn hier kein Wunder im Spiele wäre." Der auffälligste
Unterschied des Organischen vom Unorganischen besteht darin, daß jenem die
Form das Wesentliche ist. Dem Unorganischen, auch dem krystallisierten
Mineral, ist die Form nicht wesentlich; Schwefel bleibt Schwefel, mag er
krystallinisch, amorph oder geschmolzen sein; aber ein geschmolznes Pferd ist
kein Pferd mehr. Beim unorganischen Wesen bleibt der Stoff immer derselbe,
und ist die sich wandelnde Form gleichgiltig; beim organischen wechselt die
Materie unaufhörlich, sodaß nach einer gewissen Zeit alle Stvffteile durch
neue ersetzt sind, während die Form, durch die allein der Gegenstand ist, was
er ist: eine Rose, ein Pferd, beharrt; mit der Form verschwindet auch das
organische Wesen. Man hat wohl den organischen Körper eine lebendige
Maschine genannt. „Aber! Aber! Die Maschine ist ein äußerlich und will¬
kürlich gemachtes Artefakt, der Organismus nach immanenten, verborgnen
Gesetz ex ovo gewachsen. Das Hsssörrioirioon der Maschine gehört nicht zu
ihr, residiert uicht in ihr; Heizer und Lokomotivführer sitzen auf ihr und lenken
sie wie der Reiter sein Roß. Das Ho^öruonivou des lebendigen Organismus,
Intelligenz und Wille, gehört zu ihm, ist mit ihm entstanden, bildet seinen
integrierender Bestandteil. Und — ganz abgesehen von den psychischen Funk¬
tionen — die Teile der Maschine sind ein für allemal da, bleiben ihren mate¬
riellen Bestandteilen nach mit sich identisch, solange bis die Maschine äußerlich
repariert wird; die Organe des Organismus bleiben nur der Form uach
identisch, während ihr Stoff fortwährend wechselt, sie erneuern oder reparieren
sich selbst. Der Organismus wäre daher eine Maschine zu nennen, die uicht
allein vou selbst uach Naturgesetzen entstanden, nach keinem äußern, sondern
nach immanenten Plane gewachsen wäre, sondern die auch außer der äußern
Arbeitsleistung die innere plastische Arbeit unaufhörlicher Selbsterzeugung aller
ihrer Teile in der durch den innewohnenden Plan vorgezeichneten Form aus¬
zuführen imstande ist. Eine merkwürdige Maschine das!" Was würde uns
denn, fragt Liebmann, der Darwinismus im günstigen Falle, nämlich seine
empirische Bestätigung vorausgesetzt, liefern? (Die Behauptung, daß der Er¬
fahrungsbeweis für die Darwinischen Hypothesen und Theorien schon erbracht
sei, gehört zu den unbegründeten Anmaßungen seiner Vertreter.) Antwort:
„Ebenso wie die Embryologie eine Entwicklungsgeschichte, Kenntnis der histo¬
rischen Aufeinanderfolge der Stufen eines langwierigen Entwicklungsprozesses,
der für uns im Schoße grauer Urzeiten verborgen liegt, wie die Entwicklung


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[0025] Zurück zu Aare! bekämpft aber die Anmaßung, mit der seine Vertreter die Hypothese als Dogma lehren und für eine zureichende Naturerklärung, ja für die Lösung des Welt¬ rätsels ausgeben. Einiges von dem, was Liebmann in ausführlichen Be¬ trachtungen klar macht, mag hier wenigstens kurz verzeichnet werden. Davon, daß jemand die Entstehung der Organismen und ihrer Arten erklärt Hütte, kann gar keine Rede sein. „Will man nach Art gewisser Leute unter Wunder alles das verstehn, was sich nicht auf rein mechanische Prozesse zurückführen läßt, dann, in der That, hieße es angesichts der organischen Naturerscheinungen: ein Wunder wärs, wenn hier kein Wunder im Spiele wäre." Der auffälligste Unterschied des Organischen vom Unorganischen besteht darin, daß jenem die Form das Wesentliche ist. Dem Unorganischen, auch dem krystallisierten Mineral, ist die Form nicht wesentlich; Schwefel bleibt Schwefel, mag er krystallinisch, amorph oder geschmolzen sein; aber ein geschmolznes Pferd ist kein Pferd mehr. Beim unorganischen Wesen bleibt der Stoff immer derselbe, und ist die sich wandelnde Form gleichgiltig; beim organischen wechselt die Materie unaufhörlich, sodaß nach einer gewissen Zeit alle Stvffteile durch neue ersetzt sind, während die Form, durch die allein der Gegenstand ist, was er ist: eine Rose, ein Pferd, beharrt; mit der Form verschwindet auch das organische Wesen. Man hat wohl den organischen Körper eine lebendige Maschine genannt. „Aber! Aber! Die Maschine ist ein äußerlich und will¬ kürlich gemachtes Artefakt, der Organismus nach immanenten, verborgnen Gesetz ex ovo gewachsen. Das Hsssörrioirioon der Maschine gehört nicht zu ihr, residiert uicht in ihr; Heizer und Lokomotivführer sitzen auf ihr und lenken sie wie der Reiter sein Roß. Das Ho^öruonivou des lebendigen Organismus, Intelligenz und Wille, gehört zu ihm, ist mit ihm entstanden, bildet seinen integrierender Bestandteil. Und — ganz abgesehen von den psychischen Funk¬ tionen — die Teile der Maschine sind ein für allemal da, bleiben ihren mate¬ riellen Bestandteilen nach mit sich identisch, solange bis die Maschine äußerlich repariert wird; die Organe des Organismus bleiben nur der Form uach identisch, während ihr Stoff fortwährend wechselt, sie erneuern oder reparieren sich selbst. Der Organismus wäre daher eine Maschine zu nennen, die uicht allein vou selbst uach Naturgesetzen entstanden, nach keinem äußern, sondern nach immanenten Plane gewachsen wäre, sondern die auch außer der äußern Arbeitsleistung die innere plastische Arbeit unaufhörlicher Selbsterzeugung aller ihrer Teile in der durch den innewohnenden Plan vorgezeichneten Form aus¬ zuführen imstande ist. Eine merkwürdige Maschine das!" Was würde uns denn, fragt Liebmann, der Darwinismus im günstigen Falle, nämlich seine empirische Bestätigung vorausgesetzt, liefern? (Die Behauptung, daß der Er¬ fahrungsbeweis für die Darwinischen Hypothesen und Theorien schon erbracht sei, gehört zu den unbegründeten Anmaßungen seiner Vertreter.) Antwort: „Ebenso wie die Embryologie eine Entwicklungsgeschichte, Kenntnis der histo¬ rischen Aufeinanderfolge der Stufen eines langwierigen Entwicklungsprozesses, der für uns im Schoße grauer Urzeiten verborgen liegt, wie die Entwicklung Grenzboten II 1901 N

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/25>, abgerufen am 01.07.2024.