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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Gedanken zur Revision des Rrankenversichernngsgesetzes

Materials an die Gemeinden herantreten und ans notwendige Maßnahmen auf
dein Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege aufmerksam machen, auf die
Errichtung von Badeanstalten, Turnhallen, auf Entfernung und Verwendung
der Abfallstosfe, auf Straßenreinigung, Riegen eiuer Wohnuugsinspektion, in
der Frage des Vertriebs der Nahrungsmittel Anregungen geben usw.

Auch gegenüber der hente in marktschreierischer Weise auftretenden, aber
sich mit einem wissenschaftlichen Mäntelchen umhüllenden Nahrungs- und
Genußmittelindustrie, die gerade das großstädtische Proletariat zum Absatzmarkt
sucht und findet, müßten die Krankenkassen mit ihrer Autorität ein Gegen¬
gewicht sein und objektive Belehrung z. B. über Nahrungs- und Genu߬
mittel, über Kinderernühruug, über Nahrungsmittelverfälschung usw, gewähre".
Aber wo sind die Hygieniker, die Ärzte, die Leute mit weitem Gesichtskreis
in der Verwaltung der Krankenkassen? Es giebt keine.

Wenn man dem? um einmal reformieren soll, dann gründlich und keine
Flickarbeit! Wenn man zwischen der Kranken- und der Invalidenversicherung eine
Verbindung herstellen Null, dann schaffe mau nichts halbes, sondern eine innere
organische Verbindung, man übertrage der bessern Organisation der Invaliden-
versicherung auch die Krankenversicherung! Dadurch würde mau der von allen
Seiten erstrebten Einheit der Versicherungsarten näher kommen. Denn die
angebliche Lücke im Bezug von Krankengeld und von Juvalideureute, die aus¬
gefüllt werdeu soll, besteht ja in der Regel uur auf dem Papier, wie ans
folgenden Darlegungen hervorgeht.

Vorausgesetzt, daß die bestimmte Wartezeit zurückgelegt ist, und die Bei¬
trüge geleistet sind, sieht das Juvalidenversicherungsgesetz vor: 1. die Gewäh¬
rung einer Invalidenrente für den Fall dauernder Beeinträchtigung der Er¬
werbfähigkeit auf weniger als ein Drittel; 2. eine zeitweilige Renteugewährung
für den Fall einer mehr als sechsundzwanzig Wochen mit Erwerbuufähigkeit
verbundnen Krankheit. Die vorübergehenden mit Erwerbunfähigkeit verbundnen
Krankheiten sollen ja in der Regel durch die Krankenversicherung gedeckt
werdeu.

Weitaus die meisten Fälle von Jnvalidenrentengewährung fallen auf
Nummer 1. Die ganz seltnen, durch Krankheiten von längerer als sechsund-
zwanzigwöchiger Dauer veranlaßten Fälle vorübergehender Invalidität lassen
sich in zwei Unterabteilungen bringen:

a) die Fülle, in denen jemand sechsundzwanzig Wochen ununterbrochen
an Bett und Zimmer gefesselt und keinen Tag und keine Stunde dazwischen
erwerbthütig war;

d) die Fülle, in denen jemand wegen hüufigen Krünkelns immer und
immer wieder seine Beschäftigung unterbrechen oder mit leichtern Arbeiten be¬
schäftigt werden mußte, sodaß er sechsundzwanzig Wochen nur ein Drittel des
normale" Arbeitsverdienstes erreichen konnte, sei es, daß er während der sechs¬
undzwanzig Wochen größtenteils beschäftigt war, aber bei geringer Entlohnung,
sei es, daß er in zwei Perioden je neun Wochen oder in drei Perioden je


Gedanken zur Revision des Rrankenversichernngsgesetzes

Materials an die Gemeinden herantreten und ans notwendige Maßnahmen auf
dein Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege aufmerksam machen, auf die
Errichtung von Badeanstalten, Turnhallen, auf Entfernung und Verwendung
der Abfallstosfe, auf Straßenreinigung, Riegen eiuer Wohnuugsinspektion, in
der Frage des Vertriebs der Nahrungsmittel Anregungen geben usw.

Auch gegenüber der hente in marktschreierischer Weise auftretenden, aber
sich mit einem wissenschaftlichen Mäntelchen umhüllenden Nahrungs- und
Genußmittelindustrie, die gerade das großstädtische Proletariat zum Absatzmarkt
sucht und findet, müßten die Krankenkassen mit ihrer Autorität ein Gegen¬
gewicht sein und objektive Belehrung z. B. über Nahrungs- und Genu߬
mittel, über Kinderernühruug, über Nahrungsmittelverfälschung usw, gewähre».
Aber wo sind die Hygieniker, die Ärzte, die Leute mit weitem Gesichtskreis
in der Verwaltung der Krankenkassen? Es giebt keine.

Wenn man dem? um einmal reformieren soll, dann gründlich und keine
Flickarbeit! Wenn man zwischen der Kranken- und der Invalidenversicherung eine
Verbindung herstellen Null, dann schaffe mau nichts halbes, sondern eine innere
organische Verbindung, man übertrage der bessern Organisation der Invaliden-
versicherung auch die Krankenversicherung! Dadurch würde mau der von allen
Seiten erstrebten Einheit der Versicherungsarten näher kommen. Denn die
angebliche Lücke im Bezug von Krankengeld und von Juvalideureute, die aus¬
gefüllt werdeu soll, besteht ja in der Regel uur auf dem Papier, wie ans
folgenden Darlegungen hervorgeht.

Vorausgesetzt, daß die bestimmte Wartezeit zurückgelegt ist, und die Bei¬
trüge geleistet sind, sieht das Juvalidenversicherungsgesetz vor: 1. die Gewäh¬
rung einer Invalidenrente für den Fall dauernder Beeinträchtigung der Er¬
werbfähigkeit auf weniger als ein Drittel; 2. eine zeitweilige Renteugewährung
für den Fall einer mehr als sechsundzwanzig Wochen mit Erwerbuufähigkeit
verbundnen Krankheit. Die vorübergehenden mit Erwerbunfähigkeit verbundnen
Krankheiten sollen ja in der Regel durch die Krankenversicherung gedeckt
werdeu.

Weitaus die meisten Fälle von Jnvalidenrentengewährung fallen auf
Nummer 1. Die ganz seltnen, durch Krankheiten von längerer als sechsund-
zwanzigwöchiger Dauer veranlaßten Fälle vorübergehender Invalidität lassen
sich in zwei Unterabteilungen bringen:

a) die Fülle, in denen jemand sechsundzwanzig Wochen ununterbrochen
an Bett und Zimmer gefesselt und keinen Tag und keine Stunde dazwischen
erwerbthütig war;

d) die Fülle, in denen jemand wegen hüufigen Krünkelns immer und
immer wieder seine Beschäftigung unterbrechen oder mit leichtern Arbeiten be¬
schäftigt werden mußte, sodaß er sechsundzwanzig Wochen nur ein Drittel des
normale» Arbeitsverdienstes erreichen konnte, sei es, daß er während der sechs¬
undzwanzig Wochen größtenteils beschäftigt war, aber bei geringer Entlohnung,
sei es, daß er in zwei Perioden je neun Wochen oder in drei Perioden je


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[0218] Gedanken zur Revision des Rrankenversichernngsgesetzes Materials an die Gemeinden herantreten und ans notwendige Maßnahmen auf dein Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege aufmerksam machen, auf die Errichtung von Badeanstalten, Turnhallen, auf Entfernung und Verwendung der Abfallstosfe, auf Straßenreinigung, Riegen eiuer Wohnuugsinspektion, in der Frage des Vertriebs der Nahrungsmittel Anregungen geben usw. Auch gegenüber der hente in marktschreierischer Weise auftretenden, aber sich mit einem wissenschaftlichen Mäntelchen umhüllenden Nahrungs- und Genußmittelindustrie, die gerade das großstädtische Proletariat zum Absatzmarkt sucht und findet, müßten die Krankenkassen mit ihrer Autorität ein Gegen¬ gewicht sein und objektive Belehrung z. B. über Nahrungs- und Genu߬ mittel, über Kinderernühruug, über Nahrungsmittelverfälschung usw, gewähre». Aber wo sind die Hygieniker, die Ärzte, die Leute mit weitem Gesichtskreis in der Verwaltung der Krankenkassen? Es giebt keine. Wenn man dem? um einmal reformieren soll, dann gründlich und keine Flickarbeit! Wenn man zwischen der Kranken- und der Invalidenversicherung eine Verbindung herstellen Null, dann schaffe mau nichts halbes, sondern eine innere organische Verbindung, man übertrage der bessern Organisation der Invaliden- versicherung auch die Krankenversicherung! Dadurch würde mau der von allen Seiten erstrebten Einheit der Versicherungsarten näher kommen. Denn die angebliche Lücke im Bezug von Krankengeld und von Juvalideureute, die aus¬ gefüllt werdeu soll, besteht ja in der Regel uur auf dem Papier, wie ans folgenden Darlegungen hervorgeht. Vorausgesetzt, daß die bestimmte Wartezeit zurückgelegt ist, und die Bei¬ trüge geleistet sind, sieht das Juvalidenversicherungsgesetz vor: 1. die Gewäh¬ rung einer Invalidenrente für den Fall dauernder Beeinträchtigung der Er¬ werbfähigkeit auf weniger als ein Drittel; 2. eine zeitweilige Renteugewährung für den Fall einer mehr als sechsundzwanzig Wochen mit Erwerbuufähigkeit verbundnen Krankheit. Die vorübergehenden mit Erwerbunfähigkeit verbundnen Krankheiten sollen ja in der Regel durch die Krankenversicherung gedeckt werdeu. Weitaus die meisten Fälle von Jnvalidenrentengewährung fallen auf Nummer 1. Die ganz seltnen, durch Krankheiten von längerer als sechsund- zwanzigwöchiger Dauer veranlaßten Fälle vorübergehender Invalidität lassen sich in zwei Unterabteilungen bringen: a) die Fülle, in denen jemand sechsundzwanzig Wochen ununterbrochen an Bett und Zimmer gefesselt und keinen Tag und keine Stunde dazwischen erwerbthütig war; d) die Fülle, in denen jemand wegen hüufigen Krünkelns immer und immer wieder seine Beschäftigung unterbrechen oder mit leichtern Arbeiten be¬ schäftigt werden mußte, sodaß er sechsundzwanzig Wochen nur ein Drittel des normale» Arbeitsverdienstes erreichen konnte, sei es, daß er während der sechs¬ undzwanzig Wochen größtenteils beschäftigt war, aber bei geringer Entlohnung, sei es, daß er in zwei Perioden je neun Wochen oder in drei Perioden je

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/218>, abgerufen am 03.07.2024.