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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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der Zufriedenheit bei der großen Masse hervorrufen. Die Versicherten haben
vielfach die Empfindung, als müßten sie den hart- und engherzigen, ihren
Interessen widerstrebenden Krankenkassen ihre Rechte erst abringen. Die ge¬
planten Neugründungen von Krankenkassen, die wesentlich weibliche Mitglieder,
d, h. die zum Gesinde und der Hausindustrie gehörenden Personen umfassen
würden, würden die Mißstände noch mehr verschärfen. Denn gerade die
Krankenkassen mit weiblichen Mitgliedern sind jetzt schon der ungenierteste
Tummelplatz für einzelne unlautere Elemente, da die weiblichen Versicherten
selbstverständlich die ihnen gewahrte Selbstverwaltung mangels physiologischer
Anlage nicht ausüben.

Wegen des Fehlens geeigneter leitender Organe haben denn auch die
Krankenkassen die von der heutigen Wissenschaft gebotnen kräftigern Maßregeln
zur Bekämpfung der Krankheiten nicht angewandt und vielfach auch nicht an¬
wenden können. Der von der Wissenschaft bewiesene" und anerkannten That¬
sache, daß man die auf der Bevölkerung lastenden Todesfälle und Krankheiten
stark einschränken kann, haben die Kmukenkasscn uoch uicht in ihrer Wirksam¬
keit entsprochen. Der große Arzneikonsum hat ja keinen bessernden Einfluß
auf die Erkrankungshäufigkeit und die Sterbeziffer auszuüben vermocht, der
nachgewiesen werden könnte. Die moderne Medizin, die an die erste Stelle
aller Heilmittel die Hygiene stellt und an die allerletzte die Arzneien, verlangt
für die große Masse der Lnngenkranken, Herz- und Nervenleidenden, für die
Kranken mit Blut- und Konstitutionsanomalieu, für die vielen Fälle von chro¬
nischen Bronchien- und Kehlkopfkatarrhen, für Staubinhalationskranke, für alle
entkräfteter Rekonvaleszenten Freiluftkurcu, Sauntorien, Badeanstalten, Turn¬
anstalten, medikomechanische Heilmaßnahmen und keine Arzneien, während heute
alle diese Kranken vielfach durch die kategorischen Anordnungen der Kassen¬
vorstände in die engen Wohnungen gebannt werden und mit ihren von den
Ärzten befürworteten Gesuchen, in benachbarten Dörfern verweilen zu dürfen,
abschlägig beschieden werden. Hygienisch-diätetische, mechanotherapeutische Heil¬
maßnahmen konnten allerdings von den kleinen, zersplitterten Krankenkassen
nicht angewandt werden, da das die Errichtung entsprechender Anstalten, Er¬
holungsstätten im Freien, eines großen Heilapparats, d. h. leistungsfähige
große Krankenkassen voraussetzt. Die präventive Medizin verlangt vor allem,
und da müßte die Krankenversicherung ihre Kraft einsetzen, daß die große Masse
der städtischen Versicherten die unbewußt naturwidriger Lebensgewohnheiten
aufgiebt und zu naturgemäßer Lebensweise erzogen wird, daß die Gefahren,
die das nun einmal in großen Städten notwendige enge Zusammenleben der
Menschen mit sich bringt, durch Belehrung paralysiert werden, durch Reinlich¬
keitspflege der Wohnungen, der Häuser, der Höfe, der Straßen usw. Ohne
Belehrung und Erziehung geht es nun einmal nicht. So dornenvoll diese
Arbeit ist, sie muß gethan werden. Auch die Benutzung von Bade- und Turn¬
gelegenheit, das Bewegungsspiel im Freien usw. kann zur Abhärtung des
Körpers viel beitragen. Darum soll die Krankenversicherung ans Grund ihres


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der Zufriedenheit bei der großen Masse hervorrufen. Die Versicherten haben
vielfach die Empfindung, als müßten sie den hart- und engherzigen, ihren
Interessen widerstrebenden Krankenkassen ihre Rechte erst abringen. Die ge¬
planten Neugründungen von Krankenkassen, die wesentlich weibliche Mitglieder,
d, h. die zum Gesinde und der Hausindustrie gehörenden Personen umfassen
würden, würden die Mißstände noch mehr verschärfen. Denn gerade die
Krankenkassen mit weiblichen Mitgliedern sind jetzt schon der ungenierteste
Tummelplatz für einzelne unlautere Elemente, da die weiblichen Versicherten
selbstverständlich die ihnen gewahrte Selbstverwaltung mangels physiologischer
Anlage nicht ausüben.

Wegen des Fehlens geeigneter leitender Organe haben denn auch die
Krankenkassen die von der heutigen Wissenschaft gebotnen kräftigern Maßregeln
zur Bekämpfung der Krankheiten nicht angewandt und vielfach auch nicht an¬
wenden können. Der von der Wissenschaft bewiesene» und anerkannten That¬
sache, daß man die auf der Bevölkerung lastenden Todesfälle und Krankheiten
stark einschränken kann, haben die Kmukenkasscn uoch uicht in ihrer Wirksam¬
keit entsprochen. Der große Arzneikonsum hat ja keinen bessernden Einfluß
auf die Erkrankungshäufigkeit und die Sterbeziffer auszuüben vermocht, der
nachgewiesen werden könnte. Die moderne Medizin, die an die erste Stelle
aller Heilmittel die Hygiene stellt und an die allerletzte die Arzneien, verlangt
für die große Masse der Lnngenkranken, Herz- und Nervenleidenden, für die
Kranken mit Blut- und Konstitutionsanomalieu, für die vielen Fälle von chro¬
nischen Bronchien- und Kehlkopfkatarrhen, für Staubinhalationskranke, für alle
entkräfteter Rekonvaleszenten Freiluftkurcu, Sauntorien, Badeanstalten, Turn¬
anstalten, medikomechanische Heilmaßnahmen und keine Arzneien, während heute
alle diese Kranken vielfach durch die kategorischen Anordnungen der Kassen¬
vorstände in die engen Wohnungen gebannt werden und mit ihren von den
Ärzten befürworteten Gesuchen, in benachbarten Dörfern verweilen zu dürfen,
abschlägig beschieden werden. Hygienisch-diätetische, mechanotherapeutische Heil¬
maßnahmen konnten allerdings von den kleinen, zersplitterten Krankenkassen
nicht angewandt werden, da das die Errichtung entsprechender Anstalten, Er¬
holungsstätten im Freien, eines großen Heilapparats, d. h. leistungsfähige
große Krankenkassen voraussetzt. Die präventive Medizin verlangt vor allem,
und da müßte die Krankenversicherung ihre Kraft einsetzen, daß die große Masse
der städtischen Versicherten die unbewußt naturwidriger Lebensgewohnheiten
aufgiebt und zu naturgemäßer Lebensweise erzogen wird, daß die Gefahren,
die das nun einmal in großen Städten notwendige enge Zusammenleben der
Menschen mit sich bringt, durch Belehrung paralysiert werden, durch Reinlich¬
keitspflege der Wohnungen, der Häuser, der Höfe, der Straßen usw. Ohne
Belehrung und Erziehung geht es nun einmal nicht. So dornenvoll diese
Arbeit ist, sie muß gethan werden. Auch die Benutzung von Bade- und Turn¬
gelegenheit, das Bewegungsspiel im Freien usw. kann zur Abhärtung des
Körpers viel beitragen. Darum soll die Krankenversicherung ans Grund ihres


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[0217] der Zufriedenheit bei der großen Masse hervorrufen. Die Versicherten haben vielfach die Empfindung, als müßten sie den hart- und engherzigen, ihren Interessen widerstrebenden Krankenkassen ihre Rechte erst abringen. Die ge¬ planten Neugründungen von Krankenkassen, die wesentlich weibliche Mitglieder, d, h. die zum Gesinde und der Hausindustrie gehörenden Personen umfassen würden, würden die Mißstände noch mehr verschärfen. Denn gerade die Krankenkassen mit weiblichen Mitgliedern sind jetzt schon der ungenierteste Tummelplatz für einzelne unlautere Elemente, da die weiblichen Versicherten selbstverständlich die ihnen gewahrte Selbstverwaltung mangels physiologischer Anlage nicht ausüben. Wegen des Fehlens geeigneter leitender Organe haben denn auch die Krankenkassen die von der heutigen Wissenschaft gebotnen kräftigern Maßregeln zur Bekämpfung der Krankheiten nicht angewandt und vielfach auch nicht an¬ wenden können. Der von der Wissenschaft bewiesene» und anerkannten That¬ sache, daß man die auf der Bevölkerung lastenden Todesfälle und Krankheiten stark einschränken kann, haben die Kmukenkasscn uoch uicht in ihrer Wirksam¬ keit entsprochen. Der große Arzneikonsum hat ja keinen bessernden Einfluß auf die Erkrankungshäufigkeit und die Sterbeziffer auszuüben vermocht, der nachgewiesen werden könnte. Die moderne Medizin, die an die erste Stelle aller Heilmittel die Hygiene stellt und an die allerletzte die Arzneien, verlangt für die große Masse der Lnngenkranken, Herz- und Nervenleidenden, für die Kranken mit Blut- und Konstitutionsanomalieu, für die vielen Fälle von chro¬ nischen Bronchien- und Kehlkopfkatarrhen, für Staubinhalationskranke, für alle entkräfteter Rekonvaleszenten Freiluftkurcu, Sauntorien, Badeanstalten, Turn¬ anstalten, medikomechanische Heilmaßnahmen und keine Arzneien, während heute alle diese Kranken vielfach durch die kategorischen Anordnungen der Kassen¬ vorstände in die engen Wohnungen gebannt werden und mit ihren von den Ärzten befürworteten Gesuchen, in benachbarten Dörfern verweilen zu dürfen, abschlägig beschieden werden. Hygienisch-diätetische, mechanotherapeutische Heil¬ maßnahmen konnten allerdings von den kleinen, zersplitterten Krankenkassen nicht angewandt werden, da das die Errichtung entsprechender Anstalten, Er¬ holungsstätten im Freien, eines großen Heilapparats, d. h. leistungsfähige große Krankenkassen voraussetzt. Die präventive Medizin verlangt vor allem, und da müßte die Krankenversicherung ihre Kraft einsetzen, daß die große Masse der städtischen Versicherten die unbewußt naturwidriger Lebensgewohnheiten aufgiebt und zu naturgemäßer Lebensweise erzogen wird, daß die Gefahren, die das nun einmal in großen Städten notwendige enge Zusammenleben der Menschen mit sich bringt, durch Belehrung paralysiert werden, durch Reinlich¬ keitspflege der Wohnungen, der Häuser, der Höfe, der Straßen usw. Ohne Belehrung und Erziehung geht es nun einmal nicht. So dornenvoll diese Arbeit ist, sie muß gethan werden. Auch die Benutzung von Bade- und Turn¬ gelegenheit, das Bewegungsspiel im Freien usw. kann zur Abhärtung des Körpers viel beitragen. Darum soll die Krankenversicherung ans Grund ihres Gronzboten U 1901 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/217>, abgerufen am 02.07.2024.