Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zurück zu Kanel

immer so war wie heute, hinreichend erklärt ist; wer sich in die Welt und in
sich selber nicht soweit zu vertiefen vermag, daß ihm das Dasein beider und
ihr gegenseitiges Verhältnis als ein großes und schweres Problem aufs Herz
fallt; wer die Existenz der ihn umgebenden unendlichen Natur als begreiflich er¬
achtet, bloß weil sie eben existiert, und seine eigne Existenz dadurch zureichend
begründet findet, daß er dann und dann vom Vater erzeugt, später von der
Mutter geboren worden ist, um nun eben seinerseits im üblichen Geleise weiter
zu leben, weil und wie alle andern es auch thun; wer beim Anblick des stern¬
besäten Himmels in einer wolkenlosen Nacht niemals eine Art von staunendem
Grausen über diese unendliche und ewige Weltmaschinerie empfunden hat, in
die er sich als einer der Millionen Bewohner eines der kleinsten unter diesen
zahllosen Weltkörpern verflochten sieht, welcher Affekt sich dann in die ernst¬
hafte Frage auflöste: Warum? Wozu? -- hineingeflochten in diese unentrinn¬
bare Weltmaschinerie mit dem deutlichen Gefühl der sittlichen Verantwortlich¬
keit! -- oder, falls dieses Gefühl nur subjektive Chimäre sein sollte, woher
dann diese Chimäre und der tiefe unausrottbare Respekt vor ihr? -- Wer nie
gefühlt hat, daß die strenge und allgemeine Naturgesetzlichkeit alles Geschehens
ein Wunder ist, d. h, für einen menschlichen Verstand ebenso sehr der Er¬
klärung bedarf, als sie, nach der alltäglichen Auffassung, erklärt -- der bleibe
draußen! Für ihn ist die Philosophie ebenso überflüssig wie die Optik für
den, der das helle Tageslicht durch die Stellung der Sonne über dem Horizont
erklärt sieht."

In diesem kritischen Geiste nun behandelt Liebmann eine Reihe von
Problemen aus den Gebieten der Erkenntnistheorie, der Naturphilosophie, der
Ethik und der Ästhetik. Um den Lesern einige Proben seiner BeHandlungs¬
weise vorzulegen, greifen wir zunächst den kantischen Apriorismus heraus. Die
Sache ist nicht 'so schwierig, wie sie in der scholastischen Vermummung bei
Kant aussieht, und sie ist von der höchsten Wichtigkeit, weil sie, einmal ein¬
gesehen, jeden materialistischen Welterklärungsversuch wissenschaftlich unmöglich
macht. Wenn der Gevatter Schulze vom Gevatter Müller nicht für den Ge¬
vatter Schulze, sondern für den Gottseibeiuns, von Meyer für ein Kamel und
von Krause für ein Krokodil gehalten wird, so ist zwischen diesen vier Per¬
sonen weder ein Handelsgeschäft, noch ein Arbeitsvertrag, noch Verschwügernng,
noch irgend eine andre Art von Verkehr möglich. Wenn jeder Mensch in
einem und demselben Gegenstande etwas andres sähe, könnte es niemals zu
einer menschlichen Gesellschaft und zur Entfaltung der Vernunft kommen, und
der Mensch könnte wahrscheinlich auch als einzelnes Tier nicht fortbestehn.
Die Menschenwelt, sofern sie überhaupt da wäre, wäre ein Tollhaus. Ist es
nur ein einzelner Mensch, der die Dinge anders sieht als die große Mehrheit
der Menschen, so ist eben dieser ein Narr und wird ins Narrenhaus gesperrt.
Weniger schlimm ist die Sache, wenn die Abweichung vou der Wahrnehmuugs-
weise der Masse nicht das ganze Weltbild, sondern nur einen untergeordneten
Bestandteil betrifft, wenn einer z. B. farbenblind ist. Er kann dann aller-


Zurück zu Kanel

immer so war wie heute, hinreichend erklärt ist; wer sich in die Welt und in
sich selber nicht soweit zu vertiefen vermag, daß ihm das Dasein beider und
ihr gegenseitiges Verhältnis als ein großes und schweres Problem aufs Herz
fallt; wer die Existenz der ihn umgebenden unendlichen Natur als begreiflich er¬
achtet, bloß weil sie eben existiert, und seine eigne Existenz dadurch zureichend
begründet findet, daß er dann und dann vom Vater erzeugt, später von der
Mutter geboren worden ist, um nun eben seinerseits im üblichen Geleise weiter
zu leben, weil und wie alle andern es auch thun; wer beim Anblick des stern¬
besäten Himmels in einer wolkenlosen Nacht niemals eine Art von staunendem
Grausen über diese unendliche und ewige Weltmaschinerie empfunden hat, in
die er sich als einer der Millionen Bewohner eines der kleinsten unter diesen
zahllosen Weltkörpern verflochten sieht, welcher Affekt sich dann in die ernst¬
hafte Frage auflöste: Warum? Wozu? — hineingeflochten in diese unentrinn¬
bare Weltmaschinerie mit dem deutlichen Gefühl der sittlichen Verantwortlich¬
keit! — oder, falls dieses Gefühl nur subjektive Chimäre sein sollte, woher
dann diese Chimäre und der tiefe unausrottbare Respekt vor ihr? — Wer nie
gefühlt hat, daß die strenge und allgemeine Naturgesetzlichkeit alles Geschehens
ein Wunder ist, d. h, für einen menschlichen Verstand ebenso sehr der Er¬
klärung bedarf, als sie, nach der alltäglichen Auffassung, erklärt — der bleibe
draußen! Für ihn ist die Philosophie ebenso überflüssig wie die Optik für
den, der das helle Tageslicht durch die Stellung der Sonne über dem Horizont
erklärt sieht."

In diesem kritischen Geiste nun behandelt Liebmann eine Reihe von
Problemen aus den Gebieten der Erkenntnistheorie, der Naturphilosophie, der
Ethik und der Ästhetik. Um den Lesern einige Proben seiner BeHandlungs¬
weise vorzulegen, greifen wir zunächst den kantischen Apriorismus heraus. Die
Sache ist nicht 'so schwierig, wie sie in der scholastischen Vermummung bei
Kant aussieht, und sie ist von der höchsten Wichtigkeit, weil sie, einmal ein¬
gesehen, jeden materialistischen Welterklärungsversuch wissenschaftlich unmöglich
macht. Wenn der Gevatter Schulze vom Gevatter Müller nicht für den Ge¬
vatter Schulze, sondern für den Gottseibeiuns, von Meyer für ein Kamel und
von Krause für ein Krokodil gehalten wird, so ist zwischen diesen vier Per¬
sonen weder ein Handelsgeschäft, noch ein Arbeitsvertrag, noch Verschwügernng,
noch irgend eine andre Art von Verkehr möglich. Wenn jeder Mensch in
einem und demselben Gegenstande etwas andres sähe, könnte es niemals zu
einer menschlichen Gesellschaft und zur Entfaltung der Vernunft kommen, und
der Mensch könnte wahrscheinlich auch als einzelnes Tier nicht fortbestehn.
Die Menschenwelt, sofern sie überhaupt da wäre, wäre ein Tollhaus. Ist es
nur ein einzelner Mensch, der die Dinge anders sieht als die große Mehrheit
der Menschen, so ist eben dieser ein Narr und wird ins Narrenhaus gesperrt.
Weniger schlimm ist die Sache, wenn die Abweichung vou der Wahrnehmuugs-
weise der Masse nicht das ganze Weltbild, sondern nur einen untergeordneten
Bestandteil betrifft, wenn einer z. B. farbenblind ist. Er kann dann aller-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0019" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/234549"/>
          <fw type="header" place="top"> Zurück zu Kanel</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_31" prev="#ID_30"> immer so war wie heute, hinreichend erklärt ist; wer sich in die Welt und in<lb/>
sich selber nicht soweit zu vertiefen vermag, daß ihm das Dasein beider und<lb/>
ihr gegenseitiges Verhältnis als ein großes und schweres Problem aufs Herz<lb/>
fallt; wer die Existenz der ihn umgebenden unendlichen Natur als begreiflich er¬<lb/>
achtet, bloß weil sie eben existiert, und seine eigne Existenz dadurch zureichend<lb/>
begründet findet, daß er dann und dann vom Vater erzeugt, später von der<lb/>
Mutter geboren worden ist, um nun eben seinerseits im üblichen Geleise weiter<lb/>
zu leben, weil und wie alle andern es auch thun; wer beim Anblick des stern¬<lb/>
besäten Himmels in einer wolkenlosen Nacht niemals eine Art von staunendem<lb/>
Grausen über diese unendliche und ewige Weltmaschinerie empfunden hat, in<lb/>
die er sich als einer der Millionen Bewohner eines der kleinsten unter diesen<lb/>
zahllosen Weltkörpern verflochten sieht, welcher Affekt sich dann in die ernst¬<lb/>
hafte Frage auflöste: Warum? Wozu? &#x2014; hineingeflochten in diese unentrinn¬<lb/>
bare Weltmaschinerie mit dem deutlichen Gefühl der sittlichen Verantwortlich¬<lb/>
keit! &#x2014; oder, falls dieses Gefühl nur subjektive Chimäre sein sollte, woher<lb/>
dann diese Chimäre und der tiefe unausrottbare Respekt vor ihr? &#x2014; Wer nie<lb/>
gefühlt hat, daß die strenge und allgemeine Naturgesetzlichkeit alles Geschehens<lb/>
ein Wunder ist, d. h, für einen menschlichen Verstand ebenso sehr der Er¬<lb/>
klärung bedarf, als sie, nach der alltäglichen Auffassung, erklärt &#x2014; der bleibe<lb/>
draußen! Für ihn ist die Philosophie ebenso überflüssig wie die Optik für<lb/>
den, der das helle Tageslicht durch die Stellung der Sonne über dem Horizont<lb/>
erklärt sieht."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_32" next="#ID_33"> In diesem kritischen Geiste nun behandelt Liebmann eine Reihe von<lb/>
Problemen aus den Gebieten der Erkenntnistheorie, der Naturphilosophie, der<lb/>
Ethik und der Ästhetik. Um den Lesern einige Proben seiner BeHandlungs¬<lb/>
weise vorzulegen, greifen wir zunächst den kantischen Apriorismus heraus. Die<lb/>
Sache ist nicht 'so schwierig, wie sie in der scholastischen Vermummung bei<lb/>
Kant aussieht, und sie ist von der höchsten Wichtigkeit, weil sie, einmal ein¬<lb/>
gesehen, jeden materialistischen Welterklärungsversuch wissenschaftlich unmöglich<lb/>
macht. Wenn der Gevatter Schulze vom Gevatter Müller nicht für den Ge¬<lb/>
vatter Schulze, sondern für den Gottseibeiuns, von Meyer für ein Kamel und<lb/>
von Krause für ein Krokodil gehalten wird, so ist zwischen diesen vier Per¬<lb/>
sonen weder ein Handelsgeschäft, noch ein Arbeitsvertrag, noch Verschwügernng,<lb/>
noch irgend eine andre Art von Verkehr möglich. Wenn jeder Mensch in<lb/>
einem und demselben Gegenstande etwas andres sähe, könnte es niemals zu<lb/>
einer menschlichen Gesellschaft und zur Entfaltung der Vernunft kommen, und<lb/>
der Mensch könnte wahrscheinlich auch als einzelnes Tier nicht fortbestehn.<lb/>
Die Menschenwelt, sofern sie überhaupt da wäre, wäre ein Tollhaus. Ist es<lb/>
nur ein einzelner Mensch, der die Dinge anders sieht als die große Mehrheit<lb/>
der Menschen, so ist eben dieser ein Narr und wird ins Narrenhaus gesperrt.<lb/>
Weniger schlimm ist die Sache, wenn die Abweichung vou der Wahrnehmuugs-<lb/>
weise der Masse nicht das ganze Weltbild, sondern nur einen untergeordneten<lb/>
Bestandteil betrifft, wenn einer z. B. farbenblind ist.  Er kann dann aller-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0019] Zurück zu Kanel immer so war wie heute, hinreichend erklärt ist; wer sich in die Welt und in sich selber nicht soweit zu vertiefen vermag, daß ihm das Dasein beider und ihr gegenseitiges Verhältnis als ein großes und schweres Problem aufs Herz fallt; wer die Existenz der ihn umgebenden unendlichen Natur als begreiflich er¬ achtet, bloß weil sie eben existiert, und seine eigne Existenz dadurch zureichend begründet findet, daß er dann und dann vom Vater erzeugt, später von der Mutter geboren worden ist, um nun eben seinerseits im üblichen Geleise weiter zu leben, weil und wie alle andern es auch thun; wer beim Anblick des stern¬ besäten Himmels in einer wolkenlosen Nacht niemals eine Art von staunendem Grausen über diese unendliche und ewige Weltmaschinerie empfunden hat, in die er sich als einer der Millionen Bewohner eines der kleinsten unter diesen zahllosen Weltkörpern verflochten sieht, welcher Affekt sich dann in die ernst¬ hafte Frage auflöste: Warum? Wozu? — hineingeflochten in diese unentrinn¬ bare Weltmaschinerie mit dem deutlichen Gefühl der sittlichen Verantwortlich¬ keit! — oder, falls dieses Gefühl nur subjektive Chimäre sein sollte, woher dann diese Chimäre und der tiefe unausrottbare Respekt vor ihr? — Wer nie gefühlt hat, daß die strenge und allgemeine Naturgesetzlichkeit alles Geschehens ein Wunder ist, d. h, für einen menschlichen Verstand ebenso sehr der Er¬ klärung bedarf, als sie, nach der alltäglichen Auffassung, erklärt — der bleibe draußen! Für ihn ist die Philosophie ebenso überflüssig wie die Optik für den, der das helle Tageslicht durch die Stellung der Sonne über dem Horizont erklärt sieht." In diesem kritischen Geiste nun behandelt Liebmann eine Reihe von Problemen aus den Gebieten der Erkenntnistheorie, der Naturphilosophie, der Ethik und der Ästhetik. Um den Lesern einige Proben seiner BeHandlungs¬ weise vorzulegen, greifen wir zunächst den kantischen Apriorismus heraus. Die Sache ist nicht 'so schwierig, wie sie in der scholastischen Vermummung bei Kant aussieht, und sie ist von der höchsten Wichtigkeit, weil sie, einmal ein¬ gesehen, jeden materialistischen Welterklärungsversuch wissenschaftlich unmöglich macht. Wenn der Gevatter Schulze vom Gevatter Müller nicht für den Ge¬ vatter Schulze, sondern für den Gottseibeiuns, von Meyer für ein Kamel und von Krause für ein Krokodil gehalten wird, so ist zwischen diesen vier Per¬ sonen weder ein Handelsgeschäft, noch ein Arbeitsvertrag, noch Verschwügernng, noch irgend eine andre Art von Verkehr möglich. Wenn jeder Mensch in einem und demselben Gegenstande etwas andres sähe, könnte es niemals zu einer menschlichen Gesellschaft und zur Entfaltung der Vernunft kommen, und der Mensch könnte wahrscheinlich auch als einzelnes Tier nicht fortbestehn. Die Menschenwelt, sofern sie überhaupt da wäre, wäre ein Tollhaus. Ist es nur ein einzelner Mensch, der die Dinge anders sieht als die große Mehrheit der Menschen, so ist eben dieser ein Narr und wird ins Narrenhaus gesperrt. Weniger schlimm ist die Sache, wenn die Abweichung vou der Wahrnehmuugs- weise der Masse nicht das ganze Weltbild, sondern nur einen untergeordneten Bestandteil betrifft, wenn einer z. B. farbenblind ist. Er kann dann aller-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/19
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/19>, abgerufen am 01.07.2024.