Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Zurück zu Kant!

^en Gedanken, daß der Mensch alles, was er wirklich begreift,
auch machen kann, sollte ich nach der Ansicht eines Verteidigers
Haeckels Otto Liebmann entnommen haben. Ich hatte aber
damals dessen Analysis der Wirklichkeit, wo dieser Gedanke
I(S. 364) ausgesprochen wird, noch nicht gelesen. Jetzt habe ich
das genannte Werk gelesen (Untertitel: Eine Erörterung der Grundprobleme
der Philosophie; dritte, verbesserte und vermehrte Auflage, Straßburg, Karl
I. Trübner, 1900) und verstehe, daß dieser Philosoph den Darwinianern sehr
unangenehm sein muß. Er scheint mir unter den lebenden Philosophen der
bedeutendste zu sein: tiefer als Paulsen (um die drei zu nennen, die am
meisten genannt werden), scharfsinniger als Wunde und frei von Hartmanns
Dogmatismus. Unter den Verstorbnen ist Lotze der, dem er am nächsten steht.
Zweierlei unterscheidet ihn von ihm; obwohl er selbst ein guter Stilist ist,
geht er in der Rücksicht anf die Schönheit der Sprache doch nicht so weit, daß
er die philosophische Schulsprache vollständig ausschlösse, wie Lotze wenigstens
im Mikrokosmus gethan hat; und er baut kein System. Dies zu thun, unter¬
läßt er grundsätzlich, denn, meint er, da die Probleme der Philosophie nun
einmal derart seien, daß sie von irdischen Menschen teils gar nicht teils jetzt
noch lange nicht gelöst werden könnten, so müsse die Systembauerei, unbe¬
schadet der subjektiven Wahrhaftigkeit des Shstembauers, die objektive Wahr¬
heit vielfach verletzen; wer den Schlüssel für alle Thüren gefunden zu haben
glaube, der werde, weil es nun einmal keinen solchen Schlüssel giebt, den
seinen oft als Brechstange benützen, d. h. die unlösbaren Probleme durch Ge¬
waltsprüche lösen. Liebmann hat in seinem Werke, das vor zwanzig Jahren
erschienen ist, die Losung: Zurück zu Kant! ausgegeben, und im Geiste Kants
behandelt er die philosophischen Fragen. Indem er streng kritisch untersucht,
kommt er an vielen Stellen einer Lösung nahe, spricht aber das letzte Wort,
das bei aller Wahrscheinlichkeit doch immer nur eine Hypothese bleiben würde,
nicht aus. Ruhig, besonnen und sicher schreitet er vorwärts auf dem Boden
der Wirklichkeit, bis er an die Grenze kommt, wo der unzweifelhaft feste Boden
aufhört. Von allen Begriffsbestimmungen der Philosophie hält er die von
Kant für die beste, der die Philosophie als die Wissenschaft von den Grenzen
der Vernunft definiert. Genauer, meint er, lasse sich angeben, wer kein
Philosoph ist. "Wer irgend etwas ohne weiteres für selbstverständlich hält,
ist kein Philosoph. Wem das Dasein von etwas dnrch den Umstand, daß es




Zurück zu Kant!

^en Gedanken, daß der Mensch alles, was er wirklich begreift,
auch machen kann, sollte ich nach der Ansicht eines Verteidigers
Haeckels Otto Liebmann entnommen haben. Ich hatte aber
damals dessen Analysis der Wirklichkeit, wo dieser Gedanke
I(S. 364) ausgesprochen wird, noch nicht gelesen. Jetzt habe ich
das genannte Werk gelesen (Untertitel: Eine Erörterung der Grundprobleme
der Philosophie; dritte, verbesserte und vermehrte Auflage, Straßburg, Karl
I. Trübner, 1900) und verstehe, daß dieser Philosoph den Darwinianern sehr
unangenehm sein muß. Er scheint mir unter den lebenden Philosophen der
bedeutendste zu sein: tiefer als Paulsen (um die drei zu nennen, die am
meisten genannt werden), scharfsinniger als Wunde und frei von Hartmanns
Dogmatismus. Unter den Verstorbnen ist Lotze der, dem er am nächsten steht.
Zweierlei unterscheidet ihn von ihm; obwohl er selbst ein guter Stilist ist,
geht er in der Rücksicht anf die Schönheit der Sprache doch nicht so weit, daß
er die philosophische Schulsprache vollständig ausschlösse, wie Lotze wenigstens
im Mikrokosmus gethan hat; und er baut kein System. Dies zu thun, unter¬
läßt er grundsätzlich, denn, meint er, da die Probleme der Philosophie nun
einmal derart seien, daß sie von irdischen Menschen teils gar nicht teils jetzt
noch lange nicht gelöst werden könnten, so müsse die Systembauerei, unbe¬
schadet der subjektiven Wahrhaftigkeit des Shstembauers, die objektive Wahr¬
heit vielfach verletzen; wer den Schlüssel für alle Thüren gefunden zu haben
glaube, der werde, weil es nun einmal keinen solchen Schlüssel giebt, den
seinen oft als Brechstange benützen, d. h. die unlösbaren Probleme durch Ge¬
waltsprüche lösen. Liebmann hat in seinem Werke, das vor zwanzig Jahren
erschienen ist, die Losung: Zurück zu Kant! ausgegeben, und im Geiste Kants
behandelt er die philosophischen Fragen. Indem er streng kritisch untersucht,
kommt er an vielen Stellen einer Lösung nahe, spricht aber das letzte Wort,
das bei aller Wahrscheinlichkeit doch immer nur eine Hypothese bleiben würde,
nicht aus. Ruhig, besonnen und sicher schreitet er vorwärts auf dem Boden
der Wirklichkeit, bis er an die Grenze kommt, wo der unzweifelhaft feste Boden
aufhört. Von allen Begriffsbestimmungen der Philosophie hält er die von
Kant für die beste, der die Philosophie als die Wissenschaft von den Grenzen
der Vernunft definiert. Genauer, meint er, lasse sich angeben, wer kein
Philosoph ist. „Wer irgend etwas ohne weiteres für selbstverständlich hält,
ist kein Philosoph. Wem das Dasein von etwas dnrch den Umstand, daß es


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0018" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/234548"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341873_234529/figures/grenzboten_341873_234529_234548_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Zurück zu Kant!</head><lb/>
          <p xml:id="ID_30" next="#ID_31"> ^en Gedanken, daß der Mensch alles, was er wirklich begreift,<lb/>
auch machen kann, sollte ich nach der Ansicht eines Verteidigers<lb/>
Haeckels Otto Liebmann entnommen haben. Ich hatte aber<lb/>
damals dessen Analysis der Wirklichkeit, wo dieser Gedanke<lb/>
I(S. 364) ausgesprochen wird, noch nicht gelesen. Jetzt habe ich<lb/>
das genannte Werk gelesen (Untertitel: Eine Erörterung der Grundprobleme<lb/>
der Philosophie; dritte, verbesserte und vermehrte Auflage, Straßburg, Karl<lb/>
I. Trübner, 1900) und verstehe, daß dieser Philosoph den Darwinianern sehr<lb/>
unangenehm sein muß. Er scheint mir unter den lebenden Philosophen der<lb/>
bedeutendste zu sein: tiefer als Paulsen (um die drei zu nennen, die am<lb/>
meisten genannt werden), scharfsinniger als Wunde und frei von Hartmanns<lb/>
Dogmatismus. Unter den Verstorbnen ist Lotze der, dem er am nächsten steht.<lb/>
Zweierlei unterscheidet ihn von ihm; obwohl er selbst ein guter Stilist ist,<lb/>
geht er in der Rücksicht anf die Schönheit der Sprache doch nicht so weit, daß<lb/>
er die philosophische Schulsprache vollständig ausschlösse, wie Lotze wenigstens<lb/>
im Mikrokosmus gethan hat; und er baut kein System. Dies zu thun, unter¬<lb/>
läßt er grundsätzlich, denn, meint er, da die Probleme der Philosophie nun<lb/>
einmal derart seien, daß sie von irdischen Menschen teils gar nicht teils jetzt<lb/>
noch lange nicht gelöst werden könnten, so müsse die Systembauerei, unbe¬<lb/>
schadet der subjektiven Wahrhaftigkeit des Shstembauers, die objektive Wahr¬<lb/>
heit vielfach verletzen; wer den Schlüssel für alle Thüren gefunden zu haben<lb/>
glaube, der werde, weil es nun einmal keinen solchen Schlüssel giebt, den<lb/>
seinen oft als Brechstange benützen, d. h. die unlösbaren Probleme durch Ge¬<lb/>
waltsprüche lösen. Liebmann hat in seinem Werke, das vor zwanzig Jahren<lb/>
erschienen ist, die Losung: Zurück zu Kant! ausgegeben, und im Geiste Kants<lb/>
behandelt er die philosophischen Fragen. Indem er streng kritisch untersucht,<lb/>
kommt er an vielen Stellen einer Lösung nahe, spricht aber das letzte Wort,<lb/>
das bei aller Wahrscheinlichkeit doch immer nur eine Hypothese bleiben würde,<lb/>
nicht aus. Ruhig, besonnen und sicher schreitet er vorwärts auf dem Boden<lb/>
der Wirklichkeit, bis er an die Grenze kommt, wo der unzweifelhaft feste Boden<lb/>
aufhört. Von allen Begriffsbestimmungen der Philosophie hält er die von<lb/>
Kant für die beste, der die Philosophie als die Wissenschaft von den Grenzen<lb/>
der Vernunft definiert. Genauer, meint er, lasse sich angeben, wer kein<lb/>
Philosoph ist. &#x201E;Wer irgend etwas ohne weiteres für selbstverständlich hält,<lb/>
ist kein Philosoph. Wem das Dasein von etwas dnrch den Umstand, daß es</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0018] [Abbildung] Zurück zu Kant! ^en Gedanken, daß der Mensch alles, was er wirklich begreift, auch machen kann, sollte ich nach der Ansicht eines Verteidigers Haeckels Otto Liebmann entnommen haben. Ich hatte aber damals dessen Analysis der Wirklichkeit, wo dieser Gedanke I(S. 364) ausgesprochen wird, noch nicht gelesen. Jetzt habe ich das genannte Werk gelesen (Untertitel: Eine Erörterung der Grundprobleme der Philosophie; dritte, verbesserte und vermehrte Auflage, Straßburg, Karl I. Trübner, 1900) und verstehe, daß dieser Philosoph den Darwinianern sehr unangenehm sein muß. Er scheint mir unter den lebenden Philosophen der bedeutendste zu sein: tiefer als Paulsen (um die drei zu nennen, die am meisten genannt werden), scharfsinniger als Wunde und frei von Hartmanns Dogmatismus. Unter den Verstorbnen ist Lotze der, dem er am nächsten steht. Zweierlei unterscheidet ihn von ihm; obwohl er selbst ein guter Stilist ist, geht er in der Rücksicht anf die Schönheit der Sprache doch nicht so weit, daß er die philosophische Schulsprache vollständig ausschlösse, wie Lotze wenigstens im Mikrokosmus gethan hat; und er baut kein System. Dies zu thun, unter¬ läßt er grundsätzlich, denn, meint er, da die Probleme der Philosophie nun einmal derart seien, daß sie von irdischen Menschen teils gar nicht teils jetzt noch lange nicht gelöst werden könnten, so müsse die Systembauerei, unbe¬ schadet der subjektiven Wahrhaftigkeit des Shstembauers, die objektive Wahr¬ heit vielfach verletzen; wer den Schlüssel für alle Thüren gefunden zu haben glaube, der werde, weil es nun einmal keinen solchen Schlüssel giebt, den seinen oft als Brechstange benützen, d. h. die unlösbaren Probleme durch Ge¬ waltsprüche lösen. Liebmann hat in seinem Werke, das vor zwanzig Jahren erschienen ist, die Losung: Zurück zu Kant! ausgegeben, und im Geiste Kants behandelt er die philosophischen Fragen. Indem er streng kritisch untersucht, kommt er an vielen Stellen einer Lösung nahe, spricht aber das letzte Wort, das bei aller Wahrscheinlichkeit doch immer nur eine Hypothese bleiben würde, nicht aus. Ruhig, besonnen und sicher schreitet er vorwärts auf dem Boden der Wirklichkeit, bis er an die Grenze kommt, wo der unzweifelhaft feste Boden aufhört. Von allen Begriffsbestimmungen der Philosophie hält er die von Kant für die beste, der die Philosophie als die Wissenschaft von den Grenzen der Vernunft definiert. Genauer, meint er, lasse sich angeben, wer kein Philosoph ist. „Wer irgend etwas ohne weiteres für selbstverständlich hält, ist kein Philosoph. Wem das Dasein von etwas dnrch den Umstand, daß es

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/18
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/18>, abgerufen am 01.07.2024.