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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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dings weder Weichensteller noch Zugführer werden, wird aber in seinen
sonstigen Beziehungen zu seinen Mitmenschen nicht gestört und eignet sich sogar
zum sezessionistischen Maler ganz ausgezeichnet. Schlimmer wäre es schon,
wenn alle Menschen verschiedne Farbenwahrnehmungen hätten; es könnte dann
weder zur Malerei noch zu Moden in den Kleiderfarben und Mustern kommen,
und es würden ans den verschiedensten Lebensgebieten mancherlei Schwierig¬
keiten entstehn. Die Möglichkeit des Verkehrs der Menschen und ihrer Ver¬
ständigung untereinander beruht also darauf, daß alle Menschen, mit Ausnahme
einiger Kranken, durch ihre Sinneswahrnehmungen ungefähr dasselbe Weltbild
empfangen, was zweierlei voraussetzt: deu gleichartigen Bau der Sinnesorgane
und die gleichartige Einrichtung der wahrnehmenden Seelen. Daß nicht alle
wahrnehmenden Wesen dasselbe Weltbild haben, beweisen manche niedre Tiere,
denen einzelne Sinne fehlen, und die Insekten mit Facettenaugen; wie für
diese ihre Umgebung aussieht, können wir uns nicht vorstellen; daß sie aber
ganz anders aussehen muß als für uns, ist gewiß. Diese Wesen haben ihre
eigne Welt; was ein Glied von unsrer Welt bilden und mit uns verkehren
soll, wie die Haustiere, das muß auch ein dem unsern annähernd gleiches
Weltbild und daher den unsern ähnliche Sinnesorgane haben. Daß es aber
nicht auf die Sinnesorgane allein ankommt, daß eine geistige Übereinstimmung
hinzukommen muß, erfahren wir aus den Wahngebilden der Irrsinnigen. (Ab¬
gesehen davon, daß die Wahrnehmung selbst, als bewußtes Empfinden und
mit der Erregung der Seh-, Gehör- usw. Nerven unvergleichbar, unter allen
Umstünden etwas geistiges ist.)

Wie ohne diese ursprüngliche, nicht erst anerzogne oder durch Eindrücke
der Außenwelt bewirkte Übereinstimmung des Seelenbaus in den verschiednen
Menschen nicht einmal der allereinfachste und unentbehrlichste Verkehr möglich
wäre, so hätten wir ohne eine ähnliche Übereinstimmung in höhern Gebieten
keine Wissenschaft. Unsre Übereinstimmung in den Raumvorstellungen und
im Zählen macht die Mathematik möglich. Jeder Mensch, der darüber nach¬
denkt, findet sich in einem Raume, dessen Teile mit ihren begrenzenden Flüchen
und Linien in ihren Beziehungen zu einander unabänderlichen Gesetzen unter¬
liegen: wie daß zwei gerade Linien sich höchstens in einem Punkte schneiden,
und daß in einem Punkte nicht mehr als drei gerade Linien aufeinander
senkrecht stehn können. Wir können uus einen anders beschaffner Raum
denken, einen Raum von vier Dimensionen, einen krummen Raum, worin
jede einer Naumdimension folgende Linie in sich selbst zurückkehrte, aber vor¬
stellen können wir uns keinen andern Raum als den, dessen Eigenschaften
Euklid gezeigt hat; aus diesen Eigenschaften leiten wir alle Sätze der Geo¬
metrie, wie aus der Zahlenreihe die Sätze der Arithmetik ab, und ohne diese
beiden Wissenschaften hätten wir keine exakte Naturwissenschaft, denu, wie
schon Aristoteles erkannt hat, jede Wissenschaft enthält genau so viel Exaktes,
als Mathematik in ihr steckt (woraus, nebenbei bemerkt, allein schon folgt,
daß Physiologie nur in einem sehr geringen Umfange, Biologie aber nicht im


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dings weder Weichensteller noch Zugführer werden, wird aber in seinen
sonstigen Beziehungen zu seinen Mitmenschen nicht gestört und eignet sich sogar
zum sezessionistischen Maler ganz ausgezeichnet. Schlimmer wäre es schon,
wenn alle Menschen verschiedne Farbenwahrnehmungen hätten; es könnte dann
weder zur Malerei noch zu Moden in den Kleiderfarben und Mustern kommen,
und es würden ans den verschiedensten Lebensgebieten mancherlei Schwierig¬
keiten entstehn. Die Möglichkeit des Verkehrs der Menschen und ihrer Ver¬
ständigung untereinander beruht also darauf, daß alle Menschen, mit Ausnahme
einiger Kranken, durch ihre Sinneswahrnehmungen ungefähr dasselbe Weltbild
empfangen, was zweierlei voraussetzt: deu gleichartigen Bau der Sinnesorgane
und die gleichartige Einrichtung der wahrnehmenden Seelen. Daß nicht alle
wahrnehmenden Wesen dasselbe Weltbild haben, beweisen manche niedre Tiere,
denen einzelne Sinne fehlen, und die Insekten mit Facettenaugen; wie für
diese ihre Umgebung aussieht, können wir uns nicht vorstellen; daß sie aber
ganz anders aussehen muß als für uns, ist gewiß. Diese Wesen haben ihre
eigne Welt; was ein Glied von unsrer Welt bilden und mit uns verkehren
soll, wie die Haustiere, das muß auch ein dem unsern annähernd gleiches
Weltbild und daher den unsern ähnliche Sinnesorgane haben. Daß es aber
nicht auf die Sinnesorgane allein ankommt, daß eine geistige Übereinstimmung
hinzukommen muß, erfahren wir aus den Wahngebilden der Irrsinnigen. (Ab¬
gesehen davon, daß die Wahrnehmung selbst, als bewußtes Empfinden und
mit der Erregung der Seh-, Gehör- usw. Nerven unvergleichbar, unter allen
Umstünden etwas geistiges ist.)

Wie ohne diese ursprüngliche, nicht erst anerzogne oder durch Eindrücke
der Außenwelt bewirkte Übereinstimmung des Seelenbaus in den verschiednen
Menschen nicht einmal der allereinfachste und unentbehrlichste Verkehr möglich
wäre, so hätten wir ohne eine ähnliche Übereinstimmung in höhern Gebieten
keine Wissenschaft. Unsre Übereinstimmung in den Raumvorstellungen und
im Zählen macht die Mathematik möglich. Jeder Mensch, der darüber nach¬
denkt, findet sich in einem Raume, dessen Teile mit ihren begrenzenden Flüchen
und Linien in ihren Beziehungen zu einander unabänderlichen Gesetzen unter¬
liegen: wie daß zwei gerade Linien sich höchstens in einem Punkte schneiden,
und daß in einem Punkte nicht mehr als drei gerade Linien aufeinander
senkrecht stehn können. Wir können uus einen anders beschaffner Raum
denken, einen Raum von vier Dimensionen, einen krummen Raum, worin
jede einer Naumdimension folgende Linie in sich selbst zurückkehrte, aber vor¬
stellen können wir uns keinen andern Raum als den, dessen Eigenschaften
Euklid gezeigt hat; aus diesen Eigenschaften leiten wir alle Sätze der Geo¬
metrie, wie aus der Zahlenreihe die Sätze der Arithmetik ab, und ohne diese
beiden Wissenschaften hätten wir keine exakte Naturwissenschaft, denu, wie
schon Aristoteles erkannt hat, jede Wissenschaft enthält genau so viel Exaktes,
als Mathematik in ihr steckt (woraus, nebenbei bemerkt, allein schon folgt,
daß Physiologie nur in einem sehr geringen Umfange, Biologie aber nicht im


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[0020] Zurück zu Kant dings weder Weichensteller noch Zugführer werden, wird aber in seinen sonstigen Beziehungen zu seinen Mitmenschen nicht gestört und eignet sich sogar zum sezessionistischen Maler ganz ausgezeichnet. Schlimmer wäre es schon, wenn alle Menschen verschiedne Farbenwahrnehmungen hätten; es könnte dann weder zur Malerei noch zu Moden in den Kleiderfarben und Mustern kommen, und es würden ans den verschiedensten Lebensgebieten mancherlei Schwierig¬ keiten entstehn. Die Möglichkeit des Verkehrs der Menschen und ihrer Ver¬ ständigung untereinander beruht also darauf, daß alle Menschen, mit Ausnahme einiger Kranken, durch ihre Sinneswahrnehmungen ungefähr dasselbe Weltbild empfangen, was zweierlei voraussetzt: deu gleichartigen Bau der Sinnesorgane und die gleichartige Einrichtung der wahrnehmenden Seelen. Daß nicht alle wahrnehmenden Wesen dasselbe Weltbild haben, beweisen manche niedre Tiere, denen einzelne Sinne fehlen, und die Insekten mit Facettenaugen; wie für diese ihre Umgebung aussieht, können wir uns nicht vorstellen; daß sie aber ganz anders aussehen muß als für uns, ist gewiß. Diese Wesen haben ihre eigne Welt; was ein Glied von unsrer Welt bilden und mit uns verkehren soll, wie die Haustiere, das muß auch ein dem unsern annähernd gleiches Weltbild und daher den unsern ähnliche Sinnesorgane haben. Daß es aber nicht auf die Sinnesorgane allein ankommt, daß eine geistige Übereinstimmung hinzukommen muß, erfahren wir aus den Wahngebilden der Irrsinnigen. (Ab¬ gesehen davon, daß die Wahrnehmung selbst, als bewußtes Empfinden und mit der Erregung der Seh-, Gehör- usw. Nerven unvergleichbar, unter allen Umstünden etwas geistiges ist.) Wie ohne diese ursprüngliche, nicht erst anerzogne oder durch Eindrücke der Außenwelt bewirkte Übereinstimmung des Seelenbaus in den verschiednen Menschen nicht einmal der allereinfachste und unentbehrlichste Verkehr möglich wäre, so hätten wir ohne eine ähnliche Übereinstimmung in höhern Gebieten keine Wissenschaft. Unsre Übereinstimmung in den Raumvorstellungen und im Zählen macht die Mathematik möglich. Jeder Mensch, der darüber nach¬ denkt, findet sich in einem Raume, dessen Teile mit ihren begrenzenden Flüchen und Linien in ihren Beziehungen zu einander unabänderlichen Gesetzen unter¬ liegen: wie daß zwei gerade Linien sich höchstens in einem Punkte schneiden, und daß in einem Punkte nicht mehr als drei gerade Linien aufeinander senkrecht stehn können. Wir können uus einen anders beschaffner Raum denken, einen Raum von vier Dimensionen, einen krummen Raum, worin jede einer Naumdimension folgende Linie in sich selbst zurückkehrte, aber vor¬ stellen können wir uns keinen andern Raum als den, dessen Eigenschaften Euklid gezeigt hat; aus diesen Eigenschaften leiten wir alle Sätze der Geo¬ metrie, wie aus der Zahlenreihe die Sätze der Arithmetik ab, und ohne diese beiden Wissenschaften hätten wir keine exakte Naturwissenschaft, denu, wie schon Aristoteles erkannt hat, jede Wissenschaft enthält genau so viel Exaktes, als Mathematik in ihr steckt (woraus, nebenbei bemerkt, allein schon folgt, daß Physiologie nur in einem sehr geringen Umfange, Biologie aber nicht im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/20>, abgerufen am 01.07.2024.