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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Die Tagesansicht Gustav Theodor Fechners

Kami Beten die Notwendigkeit bezwingen? fragt er. Nein, das kaun
es nicht, aber nnter ihren Gründen selbst Platz greifen. Gewiß wirkt es im
Menschen und infolge dessen darüber hinaus; denn nichts wirkt ini Menschen,
was nicht seine Wirkungen mittelbar oder unmittelbar, sichtlich oder un¬
sichtlich über ihn hinaus in die mit ihm zusammenhängende Welt erstreckte,
mögen nur auch diese Wirkungen nicht zu verfolgen wissen. Aber warum
sollte eine an Gott als deu Vertreter des Weltganzen gerichtete Bitte ohne
Erfüllung bleiben, da ich doch selbst innerlich in ihm bin? Das Greifbare am
Gebet ist aber die Wirkung, die es auf den Betenden selbst hat. "Nimm das
Gebet aus der Welt, und es ist, als hättest du das Band der Menschheit mit
Gott zerrissen, die Zunge des Kindes gegenüber dem Bilder stumm gemacht.
Ohne den Glauben an die Wirksamkeit des Gebets könnte aber das Gebet
weder diese praktische Wirksamkeit äußern, noch seine historische Bedeutuug ge-
winnen. Selbstverständlich sind der Wirksamkeit des Gebets in der Welt¬
ordnung selbst Schranken gezogen. Der Mensch erbitte von Gott nichts Un¬
mögliches, nichts, was er mit seinen eignen Kräften selbst erreichen kann, da
er ja selber für Gott das nächste oder alleinige Mittel ist, es zu erreiche"
oder zu leisten. An Gott wende er sich, wenn die eignen Mittel erschöpft
sind, und täglich bitte er Gott, daß er ihn imstande hält, das seinige zu leisten,
und erflehe dazu den Segen von oben. Gebet ist aber auch das Vertrauen,
daß Gott alles zum besten wenden werde, und daß das Jenseits vollenden
werde, wozu die Mittel des Diesseits nicht hinlänglich sind. Aber freilich,
dieses Vertrauen setzt deu lebendigen, an uns teilnehmenden Gott der Tages¬
ansicht voraus. Und eine Folge dieses Vertrauens wird das Bedürfnis sei",
im Gebet zu danken. Was sollte uns endlich abhalten, im Gebet die Ver¬
mittlung vou hiugeschiedneu Lieben oder Heiligen zu suchen, an deren Fort¬
leben wir glauben? Der Glaube an diese Mittler ist viel mißbraucht N'orden;
aber niemand kann leugnen, daß er schön und praktisch wirksam sei."




Da in diese Tage der hundertste Geburtstag Gustav Theodor Fechners
gefallen ist (geb. zu Groß-Särchen in der Niederlausitz am 19. April 1801), wird
von den großen wissenschaftlichen Verdiensten des Mannes nach langer Pause
mancherlei gesprochen werden. Vielleicht regen diese Bruchstücke und Auszüge aus
seinen religiösen Betrachtungen unsre Leser an, sich mit seinen Schriften über
Glaubens- und Seelenfragcn beknuut zu macheu. Den ganzen Manu lernt man
ohnehin nur kennen, wenn man sein Forschen und seinen Glanben als eins
erfaßt. Er gehörte keineswegs zu denen, die erst zu glauben anfangen, wenn sie
zu forschen aufhören; sondern ihn zwang eine innere Notwendigkeit, sich eine
Weltansicht zu schaffen, die dem forschenden Geist und dem Glauben an einen
weltumfassende" und durchdringenden Gott Befriedigung und Glück gewährte.
Die 1843 erschienenen Gedichte zeigen denselben kindlichen Glauben wie seine
letzten Schriften. Gerade in dieser Einheit seines geistigen Wesens liegt sein


Grenzbowi >1 1901 M
Die Tagesansicht Gustav Theodor Fechners

Kami Beten die Notwendigkeit bezwingen? fragt er. Nein, das kaun
es nicht, aber nnter ihren Gründen selbst Platz greifen. Gewiß wirkt es im
Menschen und infolge dessen darüber hinaus; denn nichts wirkt ini Menschen,
was nicht seine Wirkungen mittelbar oder unmittelbar, sichtlich oder un¬
sichtlich über ihn hinaus in die mit ihm zusammenhängende Welt erstreckte,
mögen nur auch diese Wirkungen nicht zu verfolgen wissen. Aber warum
sollte eine an Gott als deu Vertreter des Weltganzen gerichtete Bitte ohne
Erfüllung bleiben, da ich doch selbst innerlich in ihm bin? Das Greifbare am
Gebet ist aber die Wirkung, die es auf den Betenden selbst hat. „Nimm das
Gebet aus der Welt, und es ist, als hättest du das Band der Menschheit mit
Gott zerrissen, die Zunge des Kindes gegenüber dem Bilder stumm gemacht.
Ohne den Glauben an die Wirksamkeit des Gebets könnte aber das Gebet
weder diese praktische Wirksamkeit äußern, noch seine historische Bedeutuug ge-
winnen. Selbstverständlich sind der Wirksamkeit des Gebets in der Welt¬
ordnung selbst Schranken gezogen. Der Mensch erbitte von Gott nichts Un¬
mögliches, nichts, was er mit seinen eignen Kräften selbst erreichen kann, da
er ja selber für Gott das nächste oder alleinige Mittel ist, es zu erreiche»
oder zu leisten. An Gott wende er sich, wenn die eignen Mittel erschöpft
sind, und täglich bitte er Gott, daß er ihn imstande hält, das seinige zu leisten,
und erflehe dazu den Segen von oben. Gebet ist aber auch das Vertrauen,
daß Gott alles zum besten wenden werde, und daß das Jenseits vollenden
werde, wozu die Mittel des Diesseits nicht hinlänglich sind. Aber freilich,
dieses Vertrauen setzt deu lebendigen, an uns teilnehmenden Gott der Tages¬
ansicht voraus. Und eine Folge dieses Vertrauens wird das Bedürfnis sei»,
im Gebet zu danken. Was sollte uns endlich abhalten, im Gebet die Ver¬
mittlung vou hiugeschiedneu Lieben oder Heiligen zu suchen, an deren Fort¬
leben wir glauben? Der Glaube an diese Mittler ist viel mißbraucht N'orden;
aber niemand kann leugnen, daß er schön und praktisch wirksam sei."




Da in diese Tage der hundertste Geburtstag Gustav Theodor Fechners
gefallen ist (geb. zu Groß-Särchen in der Niederlausitz am 19. April 1801), wird
von den großen wissenschaftlichen Verdiensten des Mannes nach langer Pause
mancherlei gesprochen werden. Vielleicht regen diese Bruchstücke und Auszüge aus
seinen religiösen Betrachtungen unsre Leser an, sich mit seinen Schriften über
Glaubens- und Seelenfragcn beknuut zu macheu. Den ganzen Manu lernt man
ohnehin nur kennen, wenn man sein Forschen und seinen Glanben als eins
erfaßt. Er gehörte keineswegs zu denen, die erst zu glauben anfangen, wenn sie
zu forschen aufhören; sondern ihn zwang eine innere Notwendigkeit, sich eine
Weltansicht zu schaffen, die dem forschenden Geist und dem Glauben an einen
weltumfassende» und durchdringenden Gott Befriedigung und Glück gewährte.
Die 1843 erschienenen Gedichte zeigen denselben kindlichen Glauben wie seine
letzten Schriften. Gerade in dieser Einheit seines geistigen Wesens liegt sein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/185>, abgerufen am 03.07.2024.