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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Die Tagesansicht Gustav Theodor Rechners

oder der Zulassung Gottes, sondern in einer Urnotwendigkeit des Seins zu
suchen, vermöge deren das Sein selbst überhaupt nicht sein könnte, ohne in
zeitlichen Anfängen und endlichen Bezirken dem Übel zu verfallen. Gerade
in der Ausgleichung, Hebung, Versöhnung, Überbietung des Übels liegt der
Quell des größern, allgemeiner!,, höhern Guten, an dem alles fortschreitende,
seineu Daseinskreis erweiternde und erhebende und Einzelne nud Endliche teil
hat. So notwendig das Übel, so notwendig ist die Richtung des göttlichen
Willens auf seiue Hebung. Gerade so notwendig wie das Übel, bildet die
logische Notwendigkeit ein Grundmoment seines Wesens, gegen die keine All¬
macht ankommt. Daß Gott daS Übel nur in sich heben und versöhnen kann,
indem er es in allen seineu Geschöpfen thut, und daß seine Mittel, es zu thun,
so weit über die seiner Geschöpfe in Zeit, Raum und Aufstieg zu höher"
Lebensstufen hinausreichen, sichert diese Hebung und Versöhnung, "Man muß
sie auch nur von da erwarten": hier zieht die scharfe Absondrung der Tages-
nnsicht vou allem Pessimismus:

Aus dieser Auffassung folgt notwendig auch das Begreifen der göttlichen,
d, i, sittlichen Gebote als Anweisungen, das Handeln zum eignen Wohl dem
zum Wohl des Ganzen unterzuordnen.

Wer hat sich noch nicht die Frage vorgelegt, wie es habe kommen können,
daß er das Beten so ganz verlernt habe, das ihn in seinen jungen Jahren
in jeden Tag des Lebens hinein- und ans jedem herausführte? - Nicht der
Wegfall des Bedürfnisses hat es bewirkt, sondern die Gedankenlosigkeit, die
der größte Feind des Lebens der "Gebildeten" ist, Je mehr sie lesen und
hören, desto weniger denken sie. Man könnte die moderne Durchschnitts¬
bildung, und zwar gerade die, die auf die "Halbbildung" von oben herabzu¬
sehen meint, als die Gewohnheit bezeichnen, sich mit einem großen Aufwand
von Lesen, Hören und Reden das Denken an und über die tiefste und wich¬
tigste Frage des Lebens zu ersparen. In diesem Suns von angeblichen
Denken um der Oberfläche hin ist auch das Vetenkönnen verloren gegangen.
Denn da es zum Hinabsteigen in große Tiefen auffordert, ist es mit den Ge-
dankenspiclen der sogenannten Bildung nicht vereinbar. Der gebildete Deutsche
betet in der Regel nur, wenn es ihm an den Hals geht. Ich habe in meinem
Leben nur einmal eine sehr große Schar deutscher Männer aller Stände ernstlich
beten und sich dessen auch nachher nicht schämen sehen; das war aber in einem
Feldgottesdienst nach einem großen Sieg der deutschen Waffen im Jahre 1879,
Vollends nun über das Gebet denken und schreiben, das thun heute außerordentlich
wenig Nichttheolvgen, Darin sind uns Engländer und Amerikaner überlegen, ich
meine in dem Mut, es zu thun, nicht in der Art, wie sie es thun. Denn so
tief wie Fechner hat kaum einer das Beten erfaßt, nicht einmal R, W, Emerson,


Die Tagesansicht Gustav Theodor Rechners

oder der Zulassung Gottes, sondern in einer Urnotwendigkeit des Seins zu
suchen, vermöge deren das Sein selbst überhaupt nicht sein könnte, ohne in
zeitlichen Anfängen und endlichen Bezirken dem Übel zu verfallen. Gerade
in der Ausgleichung, Hebung, Versöhnung, Überbietung des Übels liegt der
Quell des größern, allgemeiner!,, höhern Guten, an dem alles fortschreitende,
seineu Daseinskreis erweiternde und erhebende und Einzelne nud Endliche teil
hat. So notwendig das Übel, so notwendig ist die Richtung des göttlichen
Willens auf seiue Hebung. Gerade so notwendig wie das Übel, bildet die
logische Notwendigkeit ein Grundmoment seines Wesens, gegen die keine All¬
macht ankommt. Daß Gott daS Übel nur in sich heben und versöhnen kann,
indem er es in allen seineu Geschöpfen thut, und daß seine Mittel, es zu thun,
so weit über die seiner Geschöpfe in Zeit, Raum und Aufstieg zu höher»
Lebensstufen hinausreichen, sichert diese Hebung und Versöhnung, „Man muß
sie auch nur von da erwarten": hier zieht die scharfe Absondrung der Tages-
nnsicht vou allem Pessimismus:

Aus dieser Auffassung folgt notwendig auch das Begreifen der göttlichen,
d, i, sittlichen Gebote als Anweisungen, das Handeln zum eignen Wohl dem
zum Wohl des Ganzen unterzuordnen.

Wer hat sich noch nicht die Frage vorgelegt, wie es habe kommen können,
daß er das Beten so ganz verlernt habe, das ihn in seinen jungen Jahren
in jeden Tag des Lebens hinein- und ans jedem herausführte? - Nicht der
Wegfall des Bedürfnisses hat es bewirkt, sondern die Gedankenlosigkeit, die
der größte Feind des Lebens der „Gebildeten" ist, Je mehr sie lesen und
hören, desto weniger denken sie. Man könnte die moderne Durchschnitts¬
bildung, und zwar gerade die, die auf die „Halbbildung" von oben herabzu¬
sehen meint, als die Gewohnheit bezeichnen, sich mit einem großen Aufwand
von Lesen, Hören und Reden das Denken an und über die tiefste und wich¬
tigste Frage des Lebens zu ersparen. In diesem Suns von angeblichen
Denken um der Oberfläche hin ist auch das Vetenkönnen verloren gegangen.
Denn da es zum Hinabsteigen in große Tiefen auffordert, ist es mit den Ge-
dankenspiclen der sogenannten Bildung nicht vereinbar. Der gebildete Deutsche
betet in der Regel nur, wenn es ihm an den Hals geht. Ich habe in meinem
Leben nur einmal eine sehr große Schar deutscher Männer aller Stände ernstlich
beten und sich dessen auch nachher nicht schämen sehen; das war aber in einem
Feldgottesdienst nach einem großen Sieg der deutschen Waffen im Jahre 1879,
Vollends nun über das Gebet denken und schreiben, das thun heute außerordentlich
wenig Nichttheolvgen, Darin sind uns Engländer und Amerikaner überlegen, ich
meine in dem Mut, es zu thun, nicht in der Art, wie sie es thun. Denn so
tief wie Fechner hat kaum einer das Beten erfaßt, nicht einmal R, W, Emerson,


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[0184] Die Tagesansicht Gustav Theodor Rechners oder der Zulassung Gottes, sondern in einer Urnotwendigkeit des Seins zu suchen, vermöge deren das Sein selbst überhaupt nicht sein könnte, ohne in zeitlichen Anfängen und endlichen Bezirken dem Übel zu verfallen. Gerade in der Ausgleichung, Hebung, Versöhnung, Überbietung des Übels liegt der Quell des größern, allgemeiner!,, höhern Guten, an dem alles fortschreitende, seineu Daseinskreis erweiternde und erhebende und Einzelne nud Endliche teil hat. So notwendig das Übel, so notwendig ist die Richtung des göttlichen Willens auf seiue Hebung. Gerade so notwendig wie das Übel, bildet die logische Notwendigkeit ein Grundmoment seines Wesens, gegen die keine All¬ macht ankommt. Daß Gott daS Übel nur in sich heben und versöhnen kann, indem er es in allen seineu Geschöpfen thut, und daß seine Mittel, es zu thun, so weit über die seiner Geschöpfe in Zeit, Raum und Aufstieg zu höher» Lebensstufen hinausreichen, sichert diese Hebung und Versöhnung, „Man muß sie auch nur von da erwarten": hier zieht die scharfe Absondrung der Tages- nnsicht vou allem Pessimismus: Aus dieser Auffassung folgt notwendig auch das Begreifen der göttlichen, d, i, sittlichen Gebote als Anweisungen, das Handeln zum eignen Wohl dem zum Wohl des Ganzen unterzuordnen. Wer hat sich noch nicht die Frage vorgelegt, wie es habe kommen können, daß er das Beten so ganz verlernt habe, das ihn in seinen jungen Jahren in jeden Tag des Lebens hinein- und ans jedem herausführte? - Nicht der Wegfall des Bedürfnisses hat es bewirkt, sondern die Gedankenlosigkeit, die der größte Feind des Lebens der „Gebildeten" ist, Je mehr sie lesen und hören, desto weniger denken sie. Man könnte die moderne Durchschnitts¬ bildung, und zwar gerade die, die auf die „Halbbildung" von oben herabzu¬ sehen meint, als die Gewohnheit bezeichnen, sich mit einem großen Aufwand von Lesen, Hören und Reden das Denken an und über die tiefste und wich¬ tigste Frage des Lebens zu ersparen. In diesem Suns von angeblichen Denken um der Oberfläche hin ist auch das Vetenkönnen verloren gegangen. Denn da es zum Hinabsteigen in große Tiefen auffordert, ist es mit den Ge- dankenspiclen der sogenannten Bildung nicht vereinbar. Der gebildete Deutsche betet in der Regel nur, wenn es ihm an den Hals geht. Ich habe in meinem Leben nur einmal eine sehr große Schar deutscher Männer aller Stände ernstlich beten und sich dessen auch nachher nicht schämen sehen; das war aber in einem Feldgottesdienst nach einem großen Sieg der deutschen Waffen im Jahre 1879, Vollends nun über das Gebet denken und schreiben, das thun heute außerordentlich wenig Nichttheolvgen, Darin sind uns Engländer und Amerikaner überlegen, ich meine in dem Mut, es zu thun, nicht in der Art, wie sie es thun. Denn so tief wie Fechner hat kaum einer das Beten erfaßt, nicht einmal R, W, Emerson,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/184>, abgerufen am 03.07.2024.