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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Die Tagesansicht Gustav Theodor Fechners

eine Zwischenstufe zwischen Gott und uns, aber auf einer Stufenleiter, in der
die Stufen sich vielmehr ein- als ausschließen; in dieser Welt mag es Ent¬
wicklungsstufen geben, so wie es auf der unsern Menschen, Tiere, Pflanzen,
Embryonen, Kinder, Erwachsene, Greise giebt.

Was aber die Seelen um uns betrifft, so möge der Leser in dem feinen
Büchlein "Nanna" selbst nachforschen, wie es mit der Seele der Pflanzen
steht. Dort scheint uns Fechner den Nachweis besonders glücklich geführt zu
haben, daß zur Beseelung nicht die Nerven der Menschen und Tiere gehöre".
"Willst du es nicht der Welt, den Sternen, den Pflanzen erlassen, daß sie
Nerven wie Menschen und Tiere haben, um sie für beseelt zu halten, wenn
wichtigere Gründe für die Beseelung sprechen? Sie wollen eben nicht Menschen
und Tiere sein und brauchen zur andern Seele anch andre Träger und Aus¬
druck im Reiche der Materie." Wir teilen mit alleu andern Geschöpfen der
Erde die tiefe Zugehörigkeit zu dem Planeten, der in Wahrheit unsre Mutter¬
erde ist: dieselbe Erde, die uns und alle ihre Geschöpfe durch dieselbe Kraft
an sich gefesselt hält, hat auch alle aus sich geboren, nimmt alle wieder in
sich zurück, nährt und kleidet alle, vermittelt den Verkehr zwischen allen und
behält bei allem diesem Wechsel einen durch den Wechsel selbst sich fvrt-
erhaltenden und fortentwickelnden Bestand. Und so wie in diesen materiellen
Beziehungen die Erde sichtbar alle ihre Teile, und anch uns, verknüpft und
damit über thuen allen steht, thut sie es unsichtbar in den geistigen. Die Erde
hat alles, was die Menschen haben, da sie sie selbst hat. Warum sollte sie
noch einmal ein Gehirn in einer Schädelkapsel eng zusammengefaltet haben,
da ihre ganze organische Welt an der festen Erdoberfläche frei dem Licht und
den Schwingungen des Himmels und der Luft dargeboten ist, woraus alle
Nerven und Gehirne ihrer Geschöpfe unmittelbar ihre Anregungen schöpfen,
und wodurch sie sich ihre wechselseitigen Anregungen mitteilen? Aber doch
sagt mau: da der Mensch seinen Geist verliert, wenn man ihm sein Gehirn
nimmt, so ist die Erde von vornherein geistlos, weil sie kein Gehirn hat.
Und von der Schöpfung des organischen Lebens' meint die Nachtansicht, es sei
ein Geborenwerden lebendiger Kinder aus einer toten Mutter, die jene von
sich abgesondert habe und so tot geblieben sei, wie vorher.

Wie Fechner seine Tagesansicht mit der naturUnssenschnftlichen Auffassung
der Natur verknüpft, an der er ja selbst so erfolgreich angebaut hat, kann
hier nicht ausführlich gezeigt werden, wo es uns mehr darauf ankommt, die
Positiven Grundzüge seiner Ansicht zu zeichnen. Wohl aber möchten nur noch
auf Fechners religiöse Ideen zurückkommen, da doch die Gewinnung oder Be¬
wahrung eines beseligenden Glaubens mitten in einer uoch über die alltäg¬
liche Wissenschaft an Tiefe und Weite hinausreichenden Weltansicht als das
eigentümlichste und wirksamste Ergebnis seiner Betrachtungen immer mehr
hervortritt. Fechner hat seine Stellung zum Übel in der Welt ungefähr so
bezeichnet: Das Übel in seiner Entstehung und Fortentwicklung bis zu den
Grenzen, bis zu denen es überhaupt zu gedeihen vermag, ist nicht in dem Willen


Die Tagesansicht Gustav Theodor Fechners

eine Zwischenstufe zwischen Gott und uns, aber auf einer Stufenleiter, in der
die Stufen sich vielmehr ein- als ausschließen; in dieser Welt mag es Ent¬
wicklungsstufen geben, so wie es auf der unsern Menschen, Tiere, Pflanzen,
Embryonen, Kinder, Erwachsene, Greise giebt.

Was aber die Seelen um uns betrifft, so möge der Leser in dem feinen
Büchlein „Nanna" selbst nachforschen, wie es mit der Seele der Pflanzen
steht. Dort scheint uns Fechner den Nachweis besonders glücklich geführt zu
haben, daß zur Beseelung nicht die Nerven der Menschen und Tiere gehöre».
„Willst du es nicht der Welt, den Sternen, den Pflanzen erlassen, daß sie
Nerven wie Menschen und Tiere haben, um sie für beseelt zu halten, wenn
wichtigere Gründe für die Beseelung sprechen? Sie wollen eben nicht Menschen
und Tiere sein und brauchen zur andern Seele anch andre Träger und Aus¬
druck im Reiche der Materie." Wir teilen mit alleu andern Geschöpfen der
Erde die tiefe Zugehörigkeit zu dem Planeten, der in Wahrheit unsre Mutter¬
erde ist: dieselbe Erde, die uns und alle ihre Geschöpfe durch dieselbe Kraft
an sich gefesselt hält, hat auch alle aus sich geboren, nimmt alle wieder in
sich zurück, nährt und kleidet alle, vermittelt den Verkehr zwischen allen und
behält bei allem diesem Wechsel einen durch den Wechsel selbst sich fvrt-
erhaltenden und fortentwickelnden Bestand. Und so wie in diesen materiellen
Beziehungen die Erde sichtbar alle ihre Teile, und anch uns, verknüpft und
damit über thuen allen steht, thut sie es unsichtbar in den geistigen. Die Erde
hat alles, was die Menschen haben, da sie sie selbst hat. Warum sollte sie
noch einmal ein Gehirn in einer Schädelkapsel eng zusammengefaltet haben,
da ihre ganze organische Welt an der festen Erdoberfläche frei dem Licht und
den Schwingungen des Himmels und der Luft dargeboten ist, woraus alle
Nerven und Gehirne ihrer Geschöpfe unmittelbar ihre Anregungen schöpfen,
und wodurch sie sich ihre wechselseitigen Anregungen mitteilen? Aber doch
sagt mau: da der Mensch seinen Geist verliert, wenn man ihm sein Gehirn
nimmt, so ist die Erde von vornherein geistlos, weil sie kein Gehirn hat.
Und von der Schöpfung des organischen Lebens' meint die Nachtansicht, es sei
ein Geborenwerden lebendiger Kinder aus einer toten Mutter, die jene von
sich abgesondert habe und so tot geblieben sei, wie vorher.

Wie Fechner seine Tagesansicht mit der naturUnssenschnftlichen Auffassung
der Natur verknüpft, an der er ja selbst so erfolgreich angebaut hat, kann
hier nicht ausführlich gezeigt werden, wo es uns mehr darauf ankommt, die
Positiven Grundzüge seiner Ansicht zu zeichnen. Wohl aber möchten nur noch
auf Fechners religiöse Ideen zurückkommen, da doch die Gewinnung oder Be¬
wahrung eines beseligenden Glaubens mitten in einer uoch über die alltäg¬
liche Wissenschaft an Tiefe und Weite hinausreichenden Weltansicht als das
eigentümlichste und wirksamste Ergebnis seiner Betrachtungen immer mehr
hervortritt. Fechner hat seine Stellung zum Übel in der Welt ungefähr so
bezeichnet: Das Übel in seiner Entstehung und Fortentwicklung bis zu den
Grenzen, bis zu denen es überhaupt zu gedeihen vermag, ist nicht in dem Willen


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[0183] Die Tagesansicht Gustav Theodor Fechners eine Zwischenstufe zwischen Gott und uns, aber auf einer Stufenleiter, in der die Stufen sich vielmehr ein- als ausschließen; in dieser Welt mag es Ent¬ wicklungsstufen geben, so wie es auf der unsern Menschen, Tiere, Pflanzen, Embryonen, Kinder, Erwachsene, Greise giebt. Was aber die Seelen um uns betrifft, so möge der Leser in dem feinen Büchlein „Nanna" selbst nachforschen, wie es mit der Seele der Pflanzen steht. Dort scheint uns Fechner den Nachweis besonders glücklich geführt zu haben, daß zur Beseelung nicht die Nerven der Menschen und Tiere gehöre». „Willst du es nicht der Welt, den Sternen, den Pflanzen erlassen, daß sie Nerven wie Menschen und Tiere haben, um sie für beseelt zu halten, wenn wichtigere Gründe für die Beseelung sprechen? Sie wollen eben nicht Menschen und Tiere sein und brauchen zur andern Seele anch andre Träger und Aus¬ druck im Reiche der Materie." Wir teilen mit alleu andern Geschöpfen der Erde die tiefe Zugehörigkeit zu dem Planeten, der in Wahrheit unsre Mutter¬ erde ist: dieselbe Erde, die uns und alle ihre Geschöpfe durch dieselbe Kraft an sich gefesselt hält, hat auch alle aus sich geboren, nimmt alle wieder in sich zurück, nährt und kleidet alle, vermittelt den Verkehr zwischen allen und behält bei allem diesem Wechsel einen durch den Wechsel selbst sich fvrt- erhaltenden und fortentwickelnden Bestand. Und so wie in diesen materiellen Beziehungen die Erde sichtbar alle ihre Teile, und anch uns, verknüpft und damit über thuen allen steht, thut sie es unsichtbar in den geistigen. Die Erde hat alles, was die Menschen haben, da sie sie selbst hat. Warum sollte sie noch einmal ein Gehirn in einer Schädelkapsel eng zusammengefaltet haben, da ihre ganze organische Welt an der festen Erdoberfläche frei dem Licht und den Schwingungen des Himmels und der Luft dargeboten ist, woraus alle Nerven und Gehirne ihrer Geschöpfe unmittelbar ihre Anregungen schöpfen, und wodurch sie sich ihre wechselseitigen Anregungen mitteilen? Aber doch sagt mau: da der Mensch seinen Geist verliert, wenn man ihm sein Gehirn nimmt, so ist die Erde von vornherein geistlos, weil sie kein Gehirn hat. Und von der Schöpfung des organischen Lebens' meint die Nachtansicht, es sei ein Geborenwerden lebendiger Kinder aus einer toten Mutter, die jene von sich abgesondert habe und so tot geblieben sei, wie vorher. Wie Fechner seine Tagesansicht mit der naturUnssenschnftlichen Auffassung der Natur verknüpft, an der er ja selbst so erfolgreich angebaut hat, kann hier nicht ausführlich gezeigt werden, wo es uns mehr darauf ankommt, die Positiven Grundzüge seiner Ansicht zu zeichnen. Wohl aber möchten nur noch auf Fechners religiöse Ideen zurückkommen, da doch die Gewinnung oder Be¬ wahrung eines beseligenden Glaubens mitten in einer uoch über die alltäg¬ liche Wissenschaft an Tiefe und Weite hinausreichenden Weltansicht als das eigentümlichste und wirksamste Ergebnis seiner Betrachtungen immer mehr hervortritt. Fechner hat seine Stellung zum Übel in der Welt ungefähr so bezeichnet: Das Übel in seiner Entstehung und Fortentwicklung bis zu den Grenzen, bis zu denen es überhaupt zu gedeihen vermag, ist nicht in dem Willen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/183>, abgerufen am 03.07.2024.