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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Das Nassische Altertum im Mandel der Geschichtsauffassung

sie gesiegt hätte, Griechenland in seiner Zersplitterung verharrt hätte und
also zur Lösung seiner weltgeschichtlichen Aufgabe unfähig geblieben wäre,
es ist doch vollkommen verständlich, daß sich der Stolz des Atheners auf eine
große Vergangenheit gegen die Notwendigkeit der Unterwerfung unter ein zwar
griechisches, aber politisch wie sozial fremdartiges und jugendliches Staatswesen
sträubte, und zu beklagen nur, daß er auch nach der Entscheidung von Chai-
roueia zu verbittert war, als daß er sich ihr ehrlich gebeugt hätte, daß er
darum auch später noch mit allen und leider nicht immer mit lautern Mitteln
gegen sie angekämpft hat. Aber er hat doch das Höchste geleistet, was ein
Mann leisten kann; er hat seine ganze Kraft für ein großes Ziel eingesetzt
und ist dafür in den Tod gegangen. Darum wird uns seine Persönlichkeit,
nicht seine Sache, immer ehrwürdig bleiben, und wir werden immer mit tiefer
Teilnahme das Bild betrachten, das uns die Meisterhand eines Künstlers seiner
Zeit von ihm (im Vatikan) überliefert hat: diese hagere Gestalt mit den ab¬
fallenden eckigen Schultern und ungern Armen, dieser wie nachdenkend etwas
vorgeneigte Kopf, dieses fast finster zusammengezogne schmale Antlitz mit dem
kurz gehaltnen Bart, der gefurchten Stirn, den unter buschigen Brauen sinnend
hervorblickenden Augen. Welcher Gegensatz zu dem Sophokles im Lateran! Ein
stattlicher, wohlgebildeter Mann tritt er selbstbewußt, hochaufgerichtet dem
Beschauer entgegen, der schöne Kopf vom sorgfältig gepflegten Vollbart und
vollem Haupthaar umrahmt, die Augen weit offen mit ruhiger, freudiger
Sicherheit etwas aufwärts gerichtet, ein Mann auf der Höhe des Lebens und
ein glücklicher, befriedigter Mensch, der rechte xaäös des fünften
Jahrhunderts. Zwei Zeitalter der attischen und der griechischen Geschichte sind
uns hier verkörpert: in dem Dichter die herrliche Zeit des Perikles und des
attischen Reichs, in dem. Redner die Zeit des Niedergangs, des bittern, ver¬
zweifelten, hoffnungslosen Kampfes um ein unmögliches Ziel.

Wenn es nun so ist, daß jeder Zeit die Vergangenheit anders erscheint,
als der vorausgehenden, wenn bisher wenig beachtete oder ganz übersehene
Dinge als wichtig und bedeutsam hervortreten, andre zurücktreten, und sich
damit das ganze Bild anders darstellt als bisher, so hat auch jede Zeit das
Recht und die Pflicht, neben der beständigen Vermehrung und bessern Erkenntnis
des Materials auch die Geschichte vou ihrem Standpunkt ans neu zu schreiben.
So ist die Wissenschaft in der That unendlich, und nur in der fortgesetzten
Arbeit bleibt sie lebendig. Auch von ihr gilt Goethes Wort:


Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen!

Gelo Aaemmel


Grenzboten II 19012
Das Nassische Altertum im Mandel der Geschichtsauffassung

sie gesiegt hätte, Griechenland in seiner Zersplitterung verharrt hätte und
also zur Lösung seiner weltgeschichtlichen Aufgabe unfähig geblieben wäre,
es ist doch vollkommen verständlich, daß sich der Stolz des Atheners auf eine
große Vergangenheit gegen die Notwendigkeit der Unterwerfung unter ein zwar
griechisches, aber politisch wie sozial fremdartiges und jugendliches Staatswesen
sträubte, und zu beklagen nur, daß er auch nach der Entscheidung von Chai-
roueia zu verbittert war, als daß er sich ihr ehrlich gebeugt hätte, daß er
darum auch später noch mit allen und leider nicht immer mit lautern Mitteln
gegen sie angekämpft hat. Aber er hat doch das Höchste geleistet, was ein
Mann leisten kann; er hat seine ganze Kraft für ein großes Ziel eingesetzt
und ist dafür in den Tod gegangen. Darum wird uns seine Persönlichkeit,
nicht seine Sache, immer ehrwürdig bleiben, und wir werden immer mit tiefer
Teilnahme das Bild betrachten, das uns die Meisterhand eines Künstlers seiner
Zeit von ihm (im Vatikan) überliefert hat: diese hagere Gestalt mit den ab¬
fallenden eckigen Schultern und ungern Armen, dieser wie nachdenkend etwas
vorgeneigte Kopf, dieses fast finster zusammengezogne schmale Antlitz mit dem
kurz gehaltnen Bart, der gefurchten Stirn, den unter buschigen Brauen sinnend
hervorblickenden Augen. Welcher Gegensatz zu dem Sophokles im Lateran! Ein
stattlicher, wohlgebildeter Mann tritt er selbstbewußt, hochaufgerichtet dem
Beschauer entgegen, der schöne Kopf vom sorgfältig gepflegten Vollbart und
vollem Haupthaar umrahmt, die Augen weit offen mit ruhiger, freudiger
Sicherheit etwas aufwärts gerichtet, ein Mann auf der Höhe des Lebens und
ein glücklicher, befriedigter Mensch, der rechte xaäös des fünften
Jahrhunderts. Zwei Zeitalter der attischen und der griechischen Geschichte sind
uns hier verkörpert: in dem Dichter die herrliche Zeit des Perikles und des
attischen Reichs, in dem. Redner die Zeit des Niedergangs, des bittern, ver¬
zweifelten, hoffnungslosen Kampfes um ein unmögliches Ziel.

Wenn es nun so ist, daß jeder Zeit die Vergangenheit anders erscheint,
als der vorausgehenden, wenn bisher wenig beachtete oder ganz übersehene
Dinge als wichtig und bedeutsam hervortreten, andre zurücktreten, und sich
damit das ganze Bild anders darstellt als bisher, so hat auch jede Zeit das
Recht und die Pflicht, neben der beständigen Vermehrung und bessern Erkenntnis
des Materials auch die Geschichte vou ihrem Standpunkt ans neu zu schreiben.
So ist die Wissenschaft in der That unendlich, und nur in der fortgesetzten
Arbeit bleibt sie lebendig. Auch von ihr gilt Goethes Wort:


Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen!

Gelo Aaemmel


Grenzboten II 19012
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/17>, abgerufen am 01.07.2024.