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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Das klassische Altertum im Wandel der Geschichtsauffassung

dem Zusammenbruch des preußischen Staats, dem er freiwillig diente, gerade
in den Jahren napoleonischer Machthöhe, 1811 und 1812, die Geschichte
Roms zu erzählen, nicht wie einer, der mir eine wissenschaftliche Aufgabe lösen
will, die ihn innerlich kühl läßt, sondern wie eiuer, der ähnliches selbst geschaut
hat und die Schicksale eines fremden, längst untergegangnen Volks wie ein
Mitlebender empfindet. Für die Griechenwclt kam die Erkenntnis wenig später.
August Böckh in Berlin stellte in seinem großartigen Werke über den attischen
Staatshaushalt (1817) zum erstenmale das Leben eines griechischen Staats,
und zwar des wichtigsten griechischen Staats, auf die feste Basis seiner Insti¬
tutionen, indem er Fragen aufwarf und beantwortete, die bisher niemals in
Bezug auf einen antiken Staat gestellt worden waren; er ging durch sein
LivrxuL inseriptionunr A'rg.e"u'uiri (seit 1824) zuerst weit über die schriftstelle¬
rischen Quellen hinaus und faßte zum erstenmale das hellenische Altertum als
ein Ganzes, die Darstellung dieses Ganzen als die Aufgabe der philologischen
Wissenschaft. Völlig in seinem Sinne unternahm es sein Schüler Otfried
Müller in seinen Geschichten hellenischer Stämme und Städte (Minder 1820,
Dorier 1824), einzelne große Ausschnitte dieses Ganzen nach allen Seiten der
Entwicklung hin zu behandeln. Es war kein Zufall, daß diese Werke in einer
Zeit entstanden, wo der Neubau des preußischen Staats die allgemeine Auf¬
merksamkeit der Gebildeten ans innerpolitische Fragen richtete, und der Ge¬
danke, diese Kreise zur politischen Mitarbeit heranzuziehn, sich in den neuen
Verfassungen immer mehr verwirklichte. Es war vielleicht auch kein Zufall
und nicht nur das Ergebnis alter Tradition, daß die andre Richtung der
Philologie, die ihre Aufgabe in der Textkritik und der Erklärung der Schrift¬
steller sah und Gottfried Hermann in Leipzig als ihr Haupt verehrte, in
Sachsen ihren Hauptsitz hatte, wo es bis 1830 gar kein, wirkliches politisches
Leben gab. Auch hat es lange gewährt, ehe Böckhs Auffassung durchdrang;
was an Kenntnissen über die verschiednen Seiten der antiken Kultur in emsiger
Sammelarbeit aufgehäuft wurde, das ging unter dem Namen der "Alter¬
tümer," also einer mechanischen, äußerlichen Ansammlung von Einzelheiten,
und diente vor allem der Erklärung der Schriftsteller. Auch die Wissenschaft
von der antiken Kunst, die Archäologie, stand noch lange abseits; ihre Ver¬
treter galten den zünftigen Philologen nicht für voll, und das Studium dieser
so besonders großartigen Seite der antiken Kultur galt vielen Studenten der
Philologie für entbehrlich, nur weil mau darin nicht examiniert wurde. Denn
traurige Banausen, Handwerker des Geistes, hat es zu allen Zeiten gegeben,
auch unter den Philologen.

Doch um das Ziel der politischen Entwicklung der klassischen Völker zu
erkennen und von diesem Ziele aus diese Entwicklung zu beurteilen, dazu be¬
dürfte es neuer Erfahrungen am eiguen Leibe, der Erkenntnis, daß auch für
uns Deutsche der Nationalstaat, die politische Einheit der Nation das höchste
Gut und die Vollendung unsers Wesens sei. Zuerst in den Kreisen der wissen¬
schaftlich Gebildeten ist sie in Deutschland aufgetaucht, mehr noch ein wissen-


Das klassische Altertum im Wandel der Geschichtsauffassung

dem Zusammenbruch des preußischen Staats, dem er freiwillig diente, gerade
in den Jahren napoleonischer Machthöhe, 1811 und 1812, die Geschichte
Roms zu erzählen, nicht wie einer, der mir eine wissenschaftliche Aufgabe lösen
will, die ihn innerlich kühl läßt, sondern wie eiuer, der ähnliches selbst geschaut
hat und die Schicksale eines fremden, längst untergegangnen Volks wie ein
Mitlebender empfindet. Für die Griechenwclt kam die Erkenntnis wenig später.
August Böckh in Berlin stellte in seinem großartigen Werke über den attischen
Staatshaushalt (1817) zum erstenmale das Leben eines griechischen Staats,
und zwar des wichtigsten griechischen Staats, auf die feste Basis seiner Insti¬
tutionen, indem er Fragen aufwarf und beantwortete, die bisher niemals in
Bezug auf einen antiken Staat gestellt worden waren; er ging durch sein
LivrxuL inseriptionunr A'rg.e«u'uiri (seit 1824) zuerst weit über die schriftstelle¬
rischen Quellen hinaus und faßte zum erstenmale das hellenische Altertum als
ein Ganzes, die Darstellung dieses Ganzen als die Aufgabe der philologischen
Wissenschaft. Völlig in seinem Sinne unternahm es sein Schüler Otfried
Müller in seinen Geschichten hellenischer Stämme und Städte (Minder 1820,
Dorier 1824), einzelne große Ausschnitte dieses Ganzen nach allen Seiten der
Entwicklung hin zu behandeln. Es war kein Zufall, daß diese Werke in einer
Zeit entstanden, wo der Neubau des preußischen Staats die allgemeine Auf¬
merksamkeit der Gebildeten ans innerpolitische Fragen richtete, und der Ge¬
danke, diese Kreise zur politischen Mitarbeit heranzuziehn, sich in den neuen
Verfassungen immer mehr verwirklichte. Es war vielleicht auch kein Zufall
und nicht nur das Ergebnis alter Tradition, daß die andre Richtung der
Philologie, die ihre Aufgabe in der Textkritik und der Erklärung der Schrift¬
steller sah und Gottfried Hermann in Leipzig als ihr Haupt verehrte, in
Sachsen ihren Hauptsitz hatte, wo es bis 1830 gar kein, wirkliches politisches
Leben gab. Auch hat es lange gewährt, ehe Böckhs Auffassung durchdrang;
was an Kenntnissen über die verschiednen Seiten der antiken Kultur in emsiger
Sammelarbeit aufgehäuft wurde, das ging unter dem Namen der „Alter¬
tümer," also einer mechanischen, äußerlichen Ansammlung von Einzelheiten,
und diente vor allem der Erklärung der Schriftsteller. Auch die Wissenschaft
von der antiken Kunst, die Archäologie, stand noch lange abseits; ihre Ver¬
treter galten den zünftigen Philologen nicht für voll, und das Studium dieser
so besonders großartigen Seite der antiken Kultur galt vielen Studenten der
Philologie für entbehrlich, nur weil mau darin nicht examiniert wurde. Denn
traurige Banausen, Handwerker des Geistes, hat es zu allen Zeiten gegeben,
auch unter den Philologen.

Doch um das Ziel der politischen Entwicklung der klassischen Völker zu
erkennen und von diesem Ziele aus diese Entwicklung zu beurteilen, dazu be¬
dürfte es neuer Erfahrungen am eiguen Leibe, der Erkenntnis, daß auch für
uns Deutsche der Nationalstaat, die politische Einheit der Nation das höchste
Gut und die Vollendung unsers Wesens sei. Zuerst in den Kreisen der wissen¬
schaftlich Gebildeten ist sie in Deutschland aufgetaucht, mehr noch ein wissen-


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[0012] Das klassische Altertum im Wandel der Geschichtsauffassung dem Zusammenbruch des preußischen Staats, dem er freiwillig diente, gerade in den Jahren napoleonischer Machthöhe, 1811 und 1812, die Geschichte Roms zu erzählen, nicht wie einer, der mir eine wissenschaftliche Aufgabe lösen will, die ihn innerlich kühl läßt, sondern wie eiuer, der ähnliches selbst geschaut hat und die Schicksale eines fremden, längst untergegangnen Volks wie ein Mitlebender empfindet. Für die Griechenwclt kam die Erkenntnis wenig später. August Böckh in Berlin stellte in seinem großartigen Werke über den attischen Staatshaushalt (1817) zum erstenmale das Leben eines griechischen Staats, und zwar des wichtigsten griechischen Staats, auf die feste Basis seiner Insti¬ tutionen, indem er Fragen aufwarf und beantwortete, die bisher niemals in Bezug auf einen antiken Staat gestellt worden waren; er ging durch sein LivrxuL inseriptionunr A'rg.e«u'uiri (seit 1824) zuerst weit über die schriftstelle¬ rischen Quellen hinaus und faßte zum erstenmale das hellenische Altertum als ein Ganzes, die Darstellung dieses Ganzen als die Aufgabe der philologischen Wissenschaft. Völlig in seinem Sinne unternahm es sein Schüler Otfried Müller in seinen Geschichten hellenischer Stämme und Städte (Minder 1820, Dorier 1824), einzelne große Ausschnitte dieses Ganzen nach allen Seiten der Entwicklung hin zu behandeln. Es war kein Zufall, daß diese Werke in einer Zeit entstanden, wo der Neubau des preußischen Staats die allgemeine Auf¬ merksamkeit der Gebildeten ans innerpolitische Fragen richtete, und der Ge¬ danke, diese Kreise zur politischen Mitarbeit heranzuziehn, sich in den neuen Verfassungen immer mehr verwirklichte. Es war vielleicht auch kein Zufall und nicht nur das Ergebnis alter Tradition, daß die andre Richtung der Philologie, die ihre Aufgabe in der Textkritik und der Erklärung der Schrift¬ steller sah und Gottfried Hermann in Leipzig als ihr Haupt verehrte, in Sachsen ihren Hauptsitz hatte, wo es bis 1830 gar kein, wirkliches politisches Leben gab. Auch hat es lange gewährt, ehe Böckhs Auffassung durchdrang; was an Kenntnissen über die verschiednen Seiten der antiken Kultur in emsiger Sammelarbeit aufgehäuft wurde, das ging unter dem Namen der „Alter¬ tümer," also einer mechanischen, äußerlichen Ansammlung von Einzelheiten, und diente vor allem der Erklärung der Schriftsteller. Auch die Wissenschaft von der antiken Kunst, die Archäologie, stand noch lange abseits; ihre Ver¬ treter galten den zünftigen Philologen nicht für voll, und das Studium dieser so besonders großartigen Seite der antiken Kultur galt vielen Studenten der Philologie für entbehrlich, nur weil mau darin nicht examiniert wurde. Denn traurige Banausen, Handwerker des Geistes, hat es zu allen Zeiten gegeben, auch unter den Philologen. Doch um das Ziel der politischen Entwicklung der klassischen Völker zu erkennen und von diesem Ziele aus diese Entwicklung zu beurteilen, dazu be¬ dürfte es neuer Erfahrungen am eiguen Leibe, der Erkenntnis, daß auch für uns Deutsche der Nationalstaat, die politische Einheit der Nation das höchste Gut und die Vollendung unsers Wesens sei. Zuerst in den Kreisen der wissen¬ schaftlich Gebildeten ist sie in Deutschland aufgetaucht, mehr noch ein wissen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/12>, abgerufen am 01.07.2024.