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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Das klassische Altertum im Wandel der Geschichtsauffassung

einen absoluten Maßstab, es suchte nach dem richtigen, dem guten Geschmack
genau so wie nach der Vernunftreligion, dem Vernunftrecht und dem Vernunft
Staat und verwarf rücksichtslos, was diesen scheinbar absoluten logischen Kon-
struktionen widersprach, Bon einem historischen Urteil über die politische Ent
Wicklung des Altertums war dumm vollends keine Rede, denn die Menschen
dieser Zeit lebten in absoluten Monarchien, die, ans Heer und Beamtentum
beruhend, auch den Gebildeten keinerlei Anteil an ihrer Leitung gewährten,
sodaß diese auch innerlich kaum Anteil am staatlichen Leben nahmen, und
wenn sie ein Staatsideal hatten, so war dies das abstrakt republikanische,
den" die Republik war die herrschende Staatsform des Altertums, und die
Helden Plutarchs, des damals gerade wegen seiner moralisierenden Tendenz
weitaus wirkungsvollsten aller antiken Historiker, waren Verkörperungen republi¬
kanischer Tugenden, Die französische Revolution mit ihre" rasch wechselnden,
weil, unhaltbaren Verfassungsexperimenten mehr oder weniger republikanischen
Gepräges, mit ihrer Begeisterung für antike Tugenden, antike Moden und
antike Namen war das echte und gerechte Erzeugnis dieser Sinnesrichtung und
deshalb wenigsteus in ihren Anfängen mich das Entzücken fast aller gebildeten
Deutschen.

Und doch hatte schon eine grundtiefe Wandlung der Anschauungen ein¬
gesetzt. Noch ehe der Engländer Eduard Gibbon, weil er ein Bürger des
politisch reifsten Volks im damaligen Europa war, augesichts der Ruinen
Roms den Plan zu seiner großartigen, noch heute als Ganzes unerreichten
Geschichte vom Verfall und Untergänge des römischen Reichs faßte, begann
I. G. Herder die Ideen zu entfalten, auf denen alle Geisteswissenschaft und
zumal die historisch-philologische Wissenschaft des gesamten neunzehnten Jahr¬
hunderts beruht. Er fragte nicht mehr: Wer ist größer, Homer oder Virgil,
Sophokles oder Shakespeare? sondern er suchte zu begreifen, warum Sophokles
in Griechenland, Shakespeare in England erwachsen sei, und zu zeigen, daß
jeder eben mir auf dem Boden seines Landes und Volkes möglich gewesen
sei. Später hat er in seinen "Ideen" die ganze alte Geschichte so betrachtet
und damit die moderne Auffassung, die wirklich historische Auffassung begründet,
die sich bemüht, jede geschichtliche Erscheinung ans ihren Lebensbedingungen,
ihrer Umwelt heraus zu begreifen.

Aber wenn diese Zeit die historische Entwicklung der geistigen Kultur zu
versteh" begann, weil sie selbst eine hohe Stufe in dieser Entwicklung erreicht
hatte, das Wesen des Staats und der Nation verstand sie wenigstens in
Deutschland noch immer nicht. Erst die furchtbaren Erschütterungen der Napo-
leonischen Zeit lehrten,die deutschen Weltbürger, daß das Dasein des Einzelnen
und eine hohe Kultur haltlos seien ohne den Staat, und daß das höchste Gut
eitles großen Volks die Unabhängigkeit von fremder Gewalt lind Herrschaft
sei. Und während sich die Romantik mit liebevollem Eifer in das Studium
des eignen Volkstums vertiefte, begann der Holsteiner B. G. Niebuhr, kein
Fachgelehrter, sondern zunächst ein praktischer Geschäftsmann, ergriffen von


Das klassische Altertum im Wandel der Geschichtsauffassung

einen absoluten Maßstab, es suchte nach dem richtigen, dem guten Geschmack
genau so wie nach der Vernunftreligion, dem Vernunftrecht und dem Vernunft
Staat und verwarf rücksichtslos, was diesen scheinbar absoluten logischen Kon-
struktionen widersprach, Bon einem historischen Urteil über die politische Ent
Wicklung des Altertums war dumm vollends keine Rede, denn die Menschen
dieser Zeit lebten in absoluten Monarchien, die, ans Heer und Beamtentum
beruhend, auch den Gebildeten keinerlei Anteil an ihrer Leitung gewährten,
sodaß diese auch innerlich kaum Anteil am staatlichen Leben nahmen, und
wenn sie ein Staatsideal hatten, so war dies das abstrakt republikanische,
den» die Republik war die herrschende Staatsform des Altertums, und die
Helden Plutarchs, des damals gerade wegen seiner moralisierenden Tendenz
weitaus wirkungsvollsten aller antiken Historiker, waren Verkörperungen republi¬
kanischer Tugenden, Die französische Revolution mit ihre» rasch wechselnden,
weil, unhaltbaren Verfassungsexperimenten mehr oder weniger republikanischen
Gepräges, mit ihrer Begeisterung für antike Tugenden, antike Moden und
antike Namen war das echte und gerechte Erzeugnis dieser Sinnesrichtung und
deshalb wenigsteus in ihren Anfängen mich das Entzücken fast aller gebildeten
Deutschen.

Und doch hatte schon eine grundtiefe Wandlung der Anschauungen ein¬
gesetzt. Noch ehe der Engländer Eduard Gibbon, weil er ein Bürger des
politisch reifsten Volks im damaligen Europa war, augesichts der Ruinen
Roms den Plan zu seiner großartigen, noch heute als Ganzes unerreichten
Geschichte vom Verfall und Untergänge des römischen Reichs faßte, begann
I. G. Herder die Ideen zu entfalten, auf denen alle Geisteswissenschaft und
zumal die historisch-philologische Wissenschaft des gesamten neunzehnten Jahr¬
hunderts beruht. Er fragte nicht mehr: Wer ist größer, Homer oder Virgil,
Sophokles oder Shakespeare? sondern er suchte zu begreifen, warum Sophokles
in Griechenland, Shakespeare in England erwachsen sei, und zu zeigen, daß
jeder eben mir auf dem Boden seines Landes und Volkes möglich gewesen
sei. Später hat er in seinen „Ideen" die ganze alte Geschichte so betrachtet
und damit die moderne Auffassung, die wirklich historische Auffassung begründet,
die sich bemüht, jede geschichtliche Erscheinung ans ihren Lebensbedingungen,
ihrer Umwelt heraus zu begreifen.

Aber wenn diese Zeit die historische Entwicklung der geistigen Kultur zu
versteh» begann, weil sie selbst eine hohe Stufe in dieser Entwicklung erreicht
hatte, das Wesen des Staats und der Nation verstand sie wenigstens in
Deutschland noch immer nicht. Erst die furchtbaren Erschütterungen der Napo-
leonischen Zeit lehrten,die deutschen Weltbürger, daß das Dasein des Einzelnen
und eine hohe Kultur haltlos seien ohne den Staat, und daß das höchste Gut
eitles großen Volks die Unabhängigkeit von fremder Gewalt lind Herrschaft
sei. Und während sich die Romantik mit liebevollem Eifer in das Studium
des eignen Volkstums vertiefte, begann der Holsteiner B. G. Niebuhr, kein
Fachgelehrter, sondern zunächst ein praktischer Geschäftsmann, ergriffen von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/11>, abgerufen am 01.07.2024.