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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Das klassisch"' Altertum !>n Wandel der Geschichtsauffassung

antiken Menschen und Dingen nur Beispiele von menschlicher Tugend und Un¬
tugend zum rhetorischen oder erbaulichen Aufputz; von einem historischen Ver¬
ständnis war gar keine Rede, nicht einmal der Schriftwerke, geschweige des
antiken Lebens, und da das allerdings von der scholastischen Verbildung ge¬
säuberte Latein nach wie vor die Sprache der Wissenschaft, also auch der Uni¬
versitäten und der Schulen blieb, so trat das Griechische völlig zurück, und mit
der lateinischen Sprache stand das Römerinn, durchaus im Vordergründe des
Interesses. Das dauerte bis tief in das achtzehnte Jahrhundert hinein, um so
mehr, als die römische Kirche das Lateinische als ihre Sprache festhielt und ihre
meist jesuitische Erziehung der hellenischen Geistesfreiheit verständnislos und
feindselig gegenüber stand. Sogar die bildende Kunst wurde von dem spät¬
römischen Vorbilde beherrscht, das dem Sinne des siebzehnten und achtzehnten
Jahrhunderts für fürstlich-höfische Weitrnumigkeit und Prachtentfaltung entsprach.
Die echte griechische Kunst kannten weder die Künstler der Renaissance noch
die der Barockzeit, und Griechenland selbst war ein verkommnes Barbarenland,
wohin selten ein europäischer Reisender seinen Fuß setzte. Wer das "klassische"
Altertum an der Quelle studieren wollte, der ging nach Italien, und auch dort
haben die großartigen altgriechischen Tempelreste in Pästum, Girgenti, Segesta
und Selinus der Kunst gnr keine Anregung geboten; sie wurden selbst
Goethen erst langsam verständlich.

Für Deutschland haben erst I. I. Winckelmann und G. E. Lessing das
griechische Altertum wirklich entdeckt. Der arme Schusterssohn aus Stendal
in der Altmark, mit wie schönheitsdurstigen Herzen hat er sich, hungernd und
darbend in elenden dürftigen Schulstellungen, in die Schriftsteller der helle¬
nischen Welt vertieft, die er sich lange Jahre in einer ärmlichen Umgebung
nur in seiner Phantasie vorznuberte, bis ihn dann ein gütiges Geschick an den
glänzenden kunstsinnigen Dresdner Hof und endlich nach Italien führte! Hier
abstrahierte er aus der Fülle der Denkmäler das seitdem diese Zeit beherrschende
griechische Kunstideal, "die edle Einfalt und stille Größe," hier schrieb er seine
Geschichte der Kunst des Altertums, die die moderne Kunstwissenschaft be¬
gründete. Und Lessing, der knmpfesfrohe Pfarrerssohn aus der Oberlausitz,
trat mit schärfster Kritik für den echten Aristoteles gegen den falschen der
Franzosen, für Sophokles gegen die gespreizten Nömerdrmnen des Liöels as
I.ouis XIV, für Homer gegen Birgil in die Schranken, überall für das Ori¬
ginale gegen das nachgeahmte. Auf diesem Boden erwuchs die neue klassische
Litteratur der Deutschen, nicht in römischer Luft, wie die französische, sondern
in griechischer, und ihre edelste Schöpfung, Goethes Iphigenie, goß eine modern¬
humane Gedanken- und Empfindungswelt in hellenische Formen von edler
Einfalt und stiller Größe.

Aber wenn es das Verdienst dieser Zeit ist, über das Römertum hinweg
zum Griechentum hindurchgedrungen zu sein, von wirklicher historischer Er¬
kenntnis auch nur seiner Litteratur und Kunst war sie doch noch sehr weit
entfernt. Denn dieses selbstsichere Geschlecht der Aufklärung legte an alles


Das klassisch»' Altertum !>n Wandel der Geschichtsauffassung

antiken Menschen und Dingen nur Beispiele von menschlicher Tugend und Un¬
tugend zum rhetorischen oder erbaulichen Aufputz; von einem historischen Ver¬
ständnis war gar keine Rede, nicht einmal der Schriftwerke, geschweige des
antiken Lebens, und da das allerdings von der scholastischen Verbildung ge¬
säuberte Latein nach wie vor die Sprache der Wissenschaft, also auch der Uni¬
versitäten und der Schulen blieb, so trat das Griechische völlig zurück, und mit
der lateinischen Sprache stand das Römerinn, durchaus im Vordergründe des
Interesses. Das dauerte bis tief in das achtzehnte Jahrhundert hinein, um so
mehr, als die römische Kirche das Lateinische als ihre Sprache festhielt und ihre
meist jesuitische Erziehung der hellenischen Geistesfreiheit verständnislos und
feindselig gegenüber stand. Sogar die bildende Kunst wurde von dem spät¬
römischen Vorbilde beherrscht, das dem Sinne des siebzehnten und achtzehnten
Jahrhunderts für fürstlich-höfische Weitrnumigkeit und Prachtentfaltung entsprach.
Die echte griechische Kunst kannten weder die Künstler der Renaissance noch
die der Barockzeit, und Griechenland selbst war ein verkommnes Barbarenland,
wohin selten ein europäischer Reisender seinen Fuß setzte. Wer das „klassische"
Altertum an der Quelle studieren wollte, der ging nach Italien, und auch dort
haben die großartigen altgriechischen Tempelreste in Pästum, Girgenti, Segesta
und Selinus der Kunst gnr keine Anregung geboten; sie wurden selbst
Goethen erst langsam verständlich.

Für Deutschland haben erst I. I. Winckelmann und G. E. Lessing das
griechische Altertum wirklich entdeckt. Der arme Schusterssohn aus Stendal
in der Altmark, mit wie schönheitsdurstigen Herzen hat er sich, hungernd und
darbend in elenden dürftigen Schulstellungen, in die Schriftsteller der helle¬
nischen Welt vertieft, die er sich lange Jahre in einer ärmlichen Umgebung
nur in seiner Phantasie vorznuberte, bis ihn dann ein gütiges Geschick an den
glänzenden kunstsinnigen Dresdner Hof und endlich nach Italien führte! Hier
abstrahierte er aus der Fülle der Denkmäler das seitdem diese Zeit beherrschende
griechische Kunstideal, „die edle Einfalt und stille Größe," hier schrieb er seine
Geschichte der Kunst des Altertums, die die moderne Kunstwissenschaft be¬
gründete. Und Lessing, der knmpfesfrohe Pfarrerssohn aus der Oberlausitz,
trat mit schärfster Kritik für den echten Aristoteles gegen den falschen der
Franzosen, für Sophokles gegen die gespreizten Nömerdrmnen des Liöels as
I.ouis XIV, für Homer gegen Birgil in die Schranken, überall für das Ori¬
ginale gegen das nachgeahmte. Auf diesem Boden erwuchs die neue klassische
Litteratur der Deutschen, nicht in römischer Luft, wie die französische, sondern
in griechischer, und ihre edelste Schöpfung, Goethes Iphigenie, goß eine modern¬
humane Gedanken- und Empfindungswelt in hellenische Formen von edler
Einfalt und stiller Größe.

Aber wenn es das Verdienst dieser Zeit ist, über das Römertum hinweg
zum Griechentum hindurchgedrungen zu sein, von wirklicher historischer Er¬
kenntnis auch nur seiner Litteratur und Kunst war sie doch noch sehr weit
entfernt. Denn dieses selbstsichere Geschlecht der Aufklärung legte an alles


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/10>, abgerufen am 01.07.2024.