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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Nachbarstaats selbst bedroht und thun sich gegen den gemeinsamen Feind zu¬
sammen." So wird die Gefahr eines allgemeinen Kriegsbrandes herbeigeführt,
den heutzutage jedermann aus dem oben dargelegten Grunde fürchtet. Insofern
könne man ja im Petersburger Vertrage einen Fortschritt der Humanität sehe",
als dadurch anerkannt werde, daß es heutigen zivilisierten Menschen kein Ver-
gnügen bereite, rudern "nutzlos" Leiden zuzufügen. Andrerseits aber werde
dndnrch, daß man die Nutzen bringenden Tötungen, Verwundungen und sonstigen
Peinigungen, die zum Kriege gehören, ausdrücklich für erlaubt erkläre, der
Mensch, sofern er Feind ist, dem Tiere gleichgestellt, denn auch Tiere zwecklos
zu töten oder zu quälen verbietet das Gesetz.

Obgleich also die Hoffnung der Friedensapostel eitel ist, der Krieg werde
entweder durch seine Vervollkommnung sich selbst umbringen oder auf das
Betreiben der Friedensliga dnrch Schiedsgerichte ersetzt werden, ist es nach
Anitchkow wahrscheinlich, daß die Kriege zwischen den Kulturvölkern in abseh¬
barer Zeit aufhören werden. Bei der Begründung seiner Ansicht hebt er indes,
wie schon erwähnt worden ist, die eigentliche und Hauptursache der allgemeinen
Friedensliebe nicht klar hervor, sondern verliert sich in minder wichtige Einzel
selten. von denen die einen, wie das Schwinden des mittelalterlichen Rittersinns,
als Mitnrsache zugegeben werden können, während andre sehr anfechtbar sind.
So z. B. glaubt er, weil die Salons der großen Residenzen einander zum
verwechseln ähnlich seien, nationale Gesinnung und Nnssennnterschiede könnten
keine Kriegsursachen mehr werden, und nach Beseitigung des Kirchenstaats
sei jede Möglichkeit ausgeschlossen, daß Staaten "och einmal des Glaubens
wegen zusammenstoßen könnten. Der Krieg um das Papstkönigtum ist doch
nicht aus religiösen Gründen geführt worden, sondern weil der Kirchenstaat
ebenso wie Neapel und die Osterreich erHerrschaft in Oberitalien ein Hindernis
der italienischen Einheit war. Daß im Innern eines Staates eine Mehrheit
von Glaubensbekenntnissen "Zwistigkeiten" erzeugen könne, giebt er zu, hütet
sich aber weislich, sein Vaterland als Beispiel anzuführen, ja an einer andern
Stelle rühmt er sogar die Toleranz Rußlands gegen Einwandrer; neben Eng¬
land und Belgien sei Rußland der einzige tolerante Staat Europas!

Als uoch übrigen Kriegszunder läßt Anitchkow nur die Schutzzöllnerei
gelten und die Absperrung der Staaten gegen Einwandrer. Er erklärt den
Grundsatz Bismarcks, die politische Stellung der Mächte zu einander dürfe nicht
von wirtschaftlichen und handelspolitischen Fragen beeinflußt werden, für un¬
durchführbar, und glaubt mit dem Finanzminister Witte, es sei Bismarck mit
diesem Grundsatze gar nicht Ernst gewesen, sondern er habe ihn nur zur Durch¬
setzung seiner augenblicklichen Absichten ausgesprochen. Die Schutzzöllnerei und
die Grenzsperren seien eine beständige Gefahr; denn der freie Verkehr sei bei
der heutigen wirtschaftlichen Abhängigkeit der Völker von einander Lebens¬
bedürfnis, und die Grenzzölle würden ihn geradezu unmöglich machen, wenn alle
Zollbeamten die Bestimmungen der verwickelten und dabei unklaren Tarife mit
der strengsten Gewissenhaftigkeit beobachten und keinen Warmhalten eher durch


Nachbarstaats selbst bedroht und thun sich gegen den gemeinsamen Feind zu¬
sammen." So wird die Gefahr eines allgemeinen Kriegsbrandes herbeigeführt,
den heutzutage jedermann aus dem oben dargelegten Grunde fürchtet. Insofern
könne man ja im Petersburger Vertrage einen Fortschritt der Humanität sehe»,
als dadurch anerkannt werde, daß es heutigen zivilisierten Menschen kein Ver-
gnügen bereite, rudern „nutzlos" Leiden zuzufügen. Andrerseits aber werde
dndnrch, daß man die Nutzen bringenden Tötungen, Verwundungen und sonstigen
Peinigungen, die zum Kriege gehören, ausdrücklich für erlaubt erkläre, der
Mensch, sofern er Feind ist, dem Tiere gleichgestellt, denn auch Tiere zwecklos
zu töten oder zu quälen verbietet das Gesetz.

Obgleich also die Hoffnung der Friedensapostel eitel ist, der Krieg werde
entweder durch seine Vervollkommnung sich selbst umbringen oder auf das
Betreiben der Friedensliga dnrch Schiedsgerichte ersetzt werden, ist es nach
Anitchkow wahrscheinlich, daß die Kriege zwischen den Kulturvölkern in abseh¬
barer Zeit aufhören werden. Bei der Begründung seiner Ansicht hebt er indes,
wie schon erwähnt worden ist, die eigentliche und Hauptursache der allgemeinen
Friedensliebe nicht klar hervor, sondern verliert sich in minder wichtige Einzel
selten. von denen die einen, wie das Schwinden des mittelalterlichen Rittersinns,
als Mitnrsache zugegeben werden können, während andre sehr anfechtbar sind.
So z. B. glaubt er, weil die Salons der großen Residenzen einander zum
verwechseln ähnlich seien, nationale Gesinnung und Nnssennnterschiede könnten
keine Kriegsursachen mehr werden, und nach Beseitigung des Kirchenstaats
sei jede Möglichkeit ausgeschlossen, daß Staaten »och einmal des Glaubens
wegen zusammenstoßen könnten. Der Krieg um das Papstkönigtum ist doch
nicht aus religiösen Gründen geführt worden, sondern weil der Kirchenstaat
ebenso wie Neapel und die Osterreich erHerrschaft in Oberitalien ein Hindernis
der italienischen Einheit war. Daß im Innern eines Staates eine Mehrheit
von Glaubensbekenntnissen „Zwistigkeiten" erzeugen könne, giebt er zu, hütet
sich aber weislich, sein Vaterland als Beispiel anzuführen, ja an einer andern
Stelle rühmt er sogar die Toleranz Rußlands gegen Einwandrer; neben Eng¬
land und Belgien sei Rußland der einzige tolerante Staat Europas!

Als uoch übrigen Kriegszunder läßt Anitchkow nur die Schutzzöllnerei
gelten und die Absperrung der Staaten gegen Einwandrer. Er erklärt den
Grundsatz Bismarcks, die politische Stellung der Mächte zu einander dürfe nicht
von wirtschaftlichen und handelspolitischen Fragen beeinflußt werden, für un¬
durchführbar, und glaubt mit dem Finanzminister Witte, es sei Bismarck mit
diesem Grundsatze gar nicht Ernst gewesen, sondern er habe ihn nur zur Durch¬
setzung seiner augenblicklichen Absichten ausgesprochen. Die Schutzzöllnerei und
die Grenzsperren seien eine beständige Gefahr; denn der freie Verkehr sei bei
der heutigen wirtschaftlichen Abhängigkeit der Völker von einander Lebens¬
bedürfnis, und die Grenzzölle würden ihn geradezu unmöglich machen, wenn alle
Zollbeamten die Bestimmungen der verwickelten und dabei unklaren Tarife mit
der strengsten Gewissenhaftigkeit beobachten und keinen Warmhalten eher durch


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[0604] Nachbarstaats selbst bedroht und thun sich gegen den gemeinsamen Feind zu¬ sammen." So wird die Gefahr eines allgemeinen Kriegsbrandes herbeigeführt, den heutzutage jedermann aus dem oben dargelegten Grunde fürchtet. Insofern könne man ja im Petersburger Vertrage einen Fortschritt der Humanität sehe», als dadurch anerkannt werde, daß es heutigen zivilisierten Menschen kein Ver- gnügen bereite, rudern „nutzlos" Leiden zuzufügen. Andrerseits aber werde dndnrch, daß man die Nutzen bringenden Tötungen, Verwundungen und sonstigen Peinigungen, die zum Kriege gehören, ausdrücklich für erlaubt erkläre, der Mensch, sofern er Feind ist, dem Tiere gleichgestellt, denn auch Tiere zwecklos zu töten oder zu quälen verbietet das Gesetz. Obgleich also die Hoffnung der Friedensapostel eitel ist, der Krieg werde entweder durch seine Vervollkommnung sich selbst umbringen oder auf das Betreiben der Friedensliga dnrch Schiedsgerichte ersetzt werden, ist es nach Anitchkow wahrscheinlich, daß die Kriege zwischen den Kulturvölkern in abseh¬ barer Zeit aufhören werden. Bei der Begründung seiner Ansicht hebt er indes, wie schon erwähnt worden ist, die eigentliche und Hauptursache der allgemeinen Friedensliebe nicht klar hervor, sondern verliert sich in minder wichtige Einzel selten. von denen die einen, wie das Schwinden des mittelalterlichen Rittersinns, als Mitnrsache zugegeben werden können, während andre sehr anfechtbar sind. So z. B. glaubt er, weil die Salons der großen Residenzen einander zum verwechseln ähnlich seien, nationale Gesinnung und Nnssennnterschiede könnten keine Kriegsursachen mehr werden, und nach Beseitigung des Kirchenstaats sei jede Möglichkeit ausgeschlossen, daß Staaten »och einmal des Glaubens wegen zusammenstoßen könnten. Der Krieg um das Papstkönigtum ist doch nicht aus religiösen Gründen geführt worden, sondern weil der Kirchenstaat ebenso wie Neapel und die Osterreich erHerrschaft in Oberitalien ein Hindernis der italienischen Einheit war. Daß im Innern eines Staates eine Mehrheit von Glaubensbekenntnissen „Zwistigkeiten" erzeugen könne, giebt er zu, hütet sich aber weislich, sein Vaterland als Beispiel anzuführen, ja an einer andern Stelle rühmt er sogar die Toleranz Rußlands gegen Einwandrer; neben Eng¬ land und Belgien sei Rußland der einzige tolerante Staat Europas! Als uoch übrigen Kriegszunder läßt Anitchkow nur die Schutzzöllnerei gelten und die Absperrung der Staaten gegen Einwandrer. Er erklärt den Grundsatz Bismarcks, die politische Stellung der Mächte zu einander dürfe nicht von wirtschaftlichen und handelspolitischen Fragen beeinflußt werden, für un¬ durchführbar, und glaubt mit dem Finanzminister Witte, es sei Bismarck mit diesem Grundsatze gar nicht Ernst gewesen, sondern er habe ihn nur zur Durch¬ setzung seiner augenblicklichen Absichten ausgesprochen. Die Schutzzöllnerei und die Grenzsperren seien eine beständige Gefahr; denn der freie Verkehr sei bei der heutigen wirtschaftlichen Abhängigkeit der Völker von einander Lebens¬ bedürfnis, und die Grenzzölle würden ihn geradezu unmöglich machen, wenn alle Zollbeamten die Bestimmungen der verwickelten und dabei unklaren Tarife mit der strengsten Gewissenhaftigkeit beobachten und keinen Warmhalten eher durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/604>, abgerufen am 27.06.2024.