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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Alte und neue Romantik

nicht immer geblieben, aber Novalis ist nie vergessen worden, und Heilborn
ist überzeugt, daß das Interesse für ihn noch dauernd zunehmen und sich ver¬
tiefen wird. Wer mit einiger Kenntnis der modernsten Romantik zum ersten¬
male in diese"? Fragmenten blättert, wird überrascht sein und erstaunt, was
alles da schon steht. Die ganze Kunstlehre der Romantik, eine zusammen¬
hängende Weltanschauung, um deren Nullen Novalis in die Geschichte der
Philosophie gehört, außerdem noch umherflatterude Beobachtungen und Kennt¬
nisse über einen weiten Umkreis, und dieser Encyklopädist hat nicht ganz neun-
undzwanzig Jahre gelebt und die letzte" in quälender Krankheit zugebracht.
Die moderne Romantik hat ihren Leibphilosophen Nietzsche (den freilich die
wirklichen Philosophen nicht zu ihresgleichen rechnen); er berührt sich manch¬
mal mit Novalis (wovon in den Grenzboten 1898, IV, S. 111), aber die
Unterschiede zwischen beiden sind stärker. Der deutlichste ist, daß der eine seine
Mitmenschen liebt, und der andre sie verachtet. Novalis wird also insbesondre
auch neben Nietzsche nützlich wirken, wie neulich in unserm zweiten Hefte
Seite 100 "die edle Thorheit des frommen Tolstoi als Gegengift" empfohlen
wurde, und diese ausgezeichnete und gut gedruckte Ausgabe wird dazu weiter
anregen.

Heilborn schlägt einmal eine Brücke zu Mallarme und Maeterlinck von
einem Fragment ans: "Erzählungen ohne Zusammenhang, jedoch mit Assoziation,
wie Träume. Gedichte, bloß wohlklingend und voll schöner Worte, aber auch
ohne allen Sinn und Zusammenhang, höchstens einzelne Strophen verständlich,
wie lauter Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen." Von Maeter¬
linck sind bei Engen Diederichs in Leipzig in der gewohnten feinen Ausstattung
und guten Übersetzung drei ältere (d. h. aber erst von 1891 und 1894)
Marionettendrnmen ("Mystische Spiele," sagt die Übersetzung) erschienen:
Die sieben Prinzessinnen; Alladine und Palomides; Der Tod des Tintagiles.
Alle drei stehn bei unsern Symbolisten in einem Ansehen, das dem naiven
Leser vou gewöhnlicher Reizbarkeit nicht ohne weiteres verstündlich sein wird;
das letzte hat man sogar bei uns hie und da mit Beifall über die Bühne
gehn lassen, vor Zuhörern, die sich daun einander eine ausnahmsweise feine
Sensation bezeugen konnten. Gehandelt wird in diesen Dramen nicht. Die
Personen siud alt, krank, gelähmt oder auch beinahe gestorben, mindestens
müde und verträumt. Sie stehn unter einem angstvollen Druck, dessen Ur¬
sache nicht klar ist. Sie sehen wie durch blinde Fensterscheiben oder in die
Dämmerung und glauben dann etwas zu bemerken, wovon sie Worte machen.
Manchmal erzählen sie auch, was sie gehört haben, aber sie wissen nicht, wer
es ihnen mitgeteilt hat: "ich "leine, ich glaube, denn sicher weiß ich nicht, ob
es überhaupt jemand sagte." Und die andern versteh" sie nicht: "sagtet ihr
etwas? wir hörten es, aber genau hörten wir nicht, ob ihr etwas sagtet."
Das sind nur schwache, simple Umschreibungen, Zusammenfassungen eines
Luxus vou Umwegen, ans denen sich diese indirekte Wahrnehmung ergeht,
ohne doch zuletzt bei etwas anzulangen. Denn Seelenzustände sind interessanter


Alte und neue Romantik

nicht immer geblieben, aber Novalis ist nie vergessen worden, und Heilborn
ist überzeugt, daß das Interesse für ihn noch dauernd zunehmen und sich ver¬
tiefen wird. Wer mit einiger Kenntnis der modernsten Romantik zum ersten¬
male in diese«? Fragmenten blättert, wird überrascht sein und erstaunt, was
alles da schon steht. Die ganze Kunstlehre der Romantik, eine zusammen¬
hängende Weltanschauung, um deren Nullen Novalis in die Geschichte der
Philosophie gehört, außerdem noch umherflatterude Beobachtungen und Kennt¬
nisse über einen weiten Umkreis, und dieser Encyklopädist hat nicht ganz neun-
undzwanzig Jahre gelebt und die letzte» in quälender Krankheit zugebracht.
Die moderne Romantik hat ihren Leibphilosophen Nietzsche (den freilich die
wirklichen Philosophen nicht zu ihresgleichen rechnen); er berührt sich manch¬
mal mit Novalis (wovon in den Grenzboten 1898, IV, S. 111), aber die
Unterschiede zwischen beiden sind stärker. Der deutlichste ist, daß der eine seine
Mitmenschen liebt, und der andre sie verachtet. Novalis wird also insbesondre
auch neben Nietzsche nützlich wirken, wie neulich in unserm zweiten Hefte
Seite 100 „die edle Thorheit des frommen Tolstoi als Gegengift" empfohlen
wurde, und diese ausgezeichnete und gut gedruckte Ausgabe wird dazu weiter
anregen.

Heilborn schlägt einmal eine Brücke zu Mallarme und Maeterlinck von
einem Fragment ans: „Erzählungen ohne Zusammenhang, jedoch mit Assoziation,
wie Träume. Gedichte, bloß wohlklingend und voll schöner Worte, aber auch
ohne allen Sinn und Zusammenhang, höchstens einzelne Strophen verständlich,
wie lauter Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen." Von Maeter¬
linck sind bei Engen Diederichs in Leipzig in der gewohnten feinen Ausstattung
und guten Übersetzung drei ältere (d. h. aber erst von 1891 und 1894)
Marionettendrnmen („Mystische Spiele," sagt die Übersetzung) erschienen:
Die sieben Prinzessinnen; Alladine und Palomides; Der Tod des Tintagiles.
Alle drei stehn bei unsern Symbolisten in einem Ansehen, das dem naiven
Leser vou gewöhnlicher Reizbarkeit nicht ohne weiteres verstündlich sein wird;
das letzte hat man sogar bei uns hie und da mit Beifall über die Bühne
gehn lassen, vor Zuhörern, die sich daun einander eine ausnahmsweise feine
Sensation bezeugen konnten. Gehandelt wird in diesen Dramen nicht. Die
Personen siud alt, krank, gelähmt oder auch beinahe gestorben, mindestens
müde und verträumt. Sie stehn unter einem angstvollen Druck, dessen Ur¬
sache nicht klar ist. Sie sehen wie durch blinde Fensterscheiben oder in die
Dämmerung und glauben dann etwas zu bemerken, wovon sie Worte machen.
Manchmal erzählen sie auch, was sie gehört haben, aber sie wissen nicht, wer
es ihnen mitgeteilt hat: „ich »leine, ich glaube, denn sicher weiß ich nicht, ob
es überhaupt jemand sagte." Und die andern versteh» sie nicht: „sagtet ihr
etwas? wir hörten es, aber genau hörten wir nicht, ob ihr etwas sagtet."
Das sind nur schwache, simple Umschreibungen, Zusammenfassungen eines
Luxus vou Umwegen, ans denen sich diese indirekte Wahrnehmung ergeht,
ohne doch zuletzt bei etwas anzulangen. Denn Seelenzustände sind interessanter


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[0576] Alte und neue Romantik nicht immer geblieben, aber Novalis ist nie vergessen worden, und Heilborn ist überzeugt, daß das Interesse für ihn noch dauernd zunehmen und sich ver¬ tiefen wird. Wer mit einiger Kenntnis der modernsten Romantik zum ersten¬ male in diese«? Fragmenten blättert, wird überrascht sein und erstaunt, was alles da schon steht. Die ganze Kunstlehre der Romantik, eine zusammen¬ hängende Weltanschauung, um deren Nullen Novalis in die Geschichte der Philosophie gehört, außerdem noch umherflatterude Beobachtungen und Kennt¬ nisse über einen weiten Umkreis, und dieser Encyklopädist hat nicht ganz neun- undzwanzig Jahre gelebt und die letzte» in quälender Krankheit zugebracht. Die moderne Romantik hat ihren Leibphilosophen Nietzsche (den freilich die wirklichen Philosophen nicht zu ihresgleichen rechnen); er berührt sich manch¬ mal mit Novalis (wovon in den Grenzboten 1898, IV, S. 111), aber die Unterschiede zwischen beiden sind stärker. Der deutlichste ist, daß der eine seine Mitmenschen liebt, und der andre sie verachtet. Novalis wird also insbesondre auch neben Nietzsche nützlich wirken, wie neulich in unserm zweiten Hefte Seite 100 „die edle Thorheit des frommen Tolstoi als Gegengift" empfohlen wurde, und diese ausgezeichnete und gut gedruckte Ausgabe wird dazu weiter anregen. Heilborn schlägt einmal eine Brücke zu Mallarme und Maeterlinck von einem Fragment ans: „Erzählungen ohne Zusammenhang, jedoch mit Assoziation, wie Träume. Gedichte, bloß wohlklingend und voll schöner Worte, aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang, höchstens einzelne Strophen verständlich, wie lauter Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen." Von Maeter¬ linck sind bei Engen Diederichs in Leipzig in der gewohnten feinen Ausstattung und guten Übersetzung drei ältere (d. h. aber erst von 1891 und 1894) Marionettendrnmen („Mystische Spiele," sagt die Übersetzung) erschienen: Die sieben Prinzessinnen; Alladine und Palomides; Der Tod des Tintagiles. Alle drei stehn bei unsern Symbolisten in einem Ansehen, das dem naiven Leser vou gewöhnlicher Reizbarkeit nicht ohne weiteres verstündlich sein wird; das letzte hat man sogar bei uns hie und da mit Beifall über die Bühne gehn lassen, vor Zuhörern, die sich daun einander eine ausnahmsweise feine Sensation bezeugen konnten. Gehandelt wird in diesen Dramen nicht. Die Personen siud alt, krank, gelähmt oder auch beinahe gestorben, mindestens müde und verträumt. Sie stehn unter einem angstvollen Druck, dessen Ur¬ sache nicht klar ist. Sie sehen wie durch blinde Fensterscheiben oder in die Dämmerung und glauben dann etwas zu bemerken, wovon sie Worte machen. Manchmal erzählen sie auch, was sie gehört haben, aber sie wissen nicht, wer es ihnen mitgeteilt hat: „ich »leine, ich glaube, denn sicher weiß ich nicht, ob es überhaupt jemand sagte." Und die andern versteh» sie nicht: „sagtet ihr etwas? wir hörten es, aber genau hörten wir nicht, ob ihr etwas sagtet." Das sind nur schwache, simple Umschreibungen, Zusammenfassungen eines Luxus vou Umwegen, ans denen sich diese indirekte Wahrnehmung ergeht, ohne doch zuletzt bei etwas anzulangen. Denn Seelenzustände sind interessanter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/576>, abgerufen am 22.06.2024.