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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Alte und neue Romantik

Landschaft soll man fühle" wie einen Körper," sagte Novalis, Wenn wir
uns in sie hineinversetzen, so wird sie zu einem innern Erlebnis, einem 6t>ut
ä'grus: wir sehnen uiis nach der blauen Ferne und suchen die vertrauliche
Dämmerung des Abends. Alles das hat uns aber ja auch schon Goethe ge¬
deutet. Die Träume der Romantiker, findet Ricard" Huch, hätten sich in
Böcklin erfüllt: "auch darin ist er der Künstler, den sie prophezeiten, daß er
Maler, Musiker und Dichter zugleich ist; das Ziel des modernen Künstlers
ist, deu Geist mehrerer Künste in einer zu umfassen und auszudrücken." Wir
brauchen diese Äußerungen, die Nur nicht vermehren wollen, nicht zu glossiere".
Ma sieht leicht, daß' sich die Geschichtschreiberin der Romantik dieser selbst
verwandter fühlt als der Biograph des Novalis. Sie sieht mehr blau oder
färbt rosa. Er ist kritischer und hat eine deutlichere Empfindung für das
Dekadente in der Romantik. Seine Analyse des Heinrich von Ofterdingen ist
ein Meisterstück in der Abwägung von Mängeln und Vorzügen, und in dem
letzten Kapitel seines Buches, da wo er über die unvermeidliche Auflösung der
Frührvmnutik, die äußere der Freundschaften und die innere der Anschauungen
und Lehrsätze handelt, giebt er ein klares Bekenntnis: Man kann das Lebet,
und die Wirklichkeit der Kunst nicht unterordnen, nicht den künstlerischen Maßstab
zum Maßstab aller Dinge machen. Die Sehnsticht darf nicht dem Verstand
diktieren. Die Phantasie soll nicht die Führerrollc in Leben und Wissenschaft,
mich nicht in der Kunst, sogar da nicht, Abnehmen. Die Romantik aber hatte
eine Beeinflussung des Zeitgeistes nach der Richtung gebracht, die in Gefahren
führte: eilte Verleugnung der That, ein Zurückschrauben der Kultur. Die große
Vorbereitung auf die Schlacht bei Jena.

Heilborns leicht geschriebnes Buch beruht auf einer schweren Vorarbeit,
einer Ausgabe von Novalis Werken in zwei Bünden (ebenfalls im Reimerschen
Verlage erschienen), der ersten wissenschaftlichen, die wir haben. Tieck gab in
der seinen vor hundert Jahren, was er hatte und wie er es konnte. Heilborn
hat alle noch vorhandnen Handschriften benntzt und die frühern Drucke ver¬
glichen, vieles neu gefunden, alles kritisch geprüft und die stark vermehrten
Fragmente chronologisch, soweit es möglich war, geordnet. Sie sind ja der
wichtigste Teil der Werke von Novalis. "Aus ihnen hat besonders die Jugend
bis in unsre Tage hinein eine tiefere und ernstere Lebensansicht und zwar
weit unmittelbarer geschöpft als aus den besten poetischen Werken unsrer
größten Geister, und sie werden diese Wirkung mich noch auf längere Zeit
hinaus zu äußern imstande feil,." Seit dies der geistvolle Vilmnr in seiner
Litteraturgeschichte*) schrieb, zum erstenmale 1844, ist eine neue Romantik ent¬
standen, erst in Frankreich, dann auch bei uns, ernst und tief ist sie zwar



') Sie hat dieses Jahr ihre fimfundzwanzigstc Auflage erlebt, und zwar ohne Abbildungen.
Wie viele waren es wohl, wenn die Elwertsche Verlagshandlung in Marburg sie beizeiten
nach bekannten Mustern hätte illustrieren lassen! Aber es ist besser so. Wir empfehlen das
edle Buch mit seiner vortrefflichen Fortseiwng von Adolf Stern allen, die es noch nicht
kennen.
Alte und neue Romantik

Landschaft soll man fühle» wie einen Körper," sagte Novalis, Wenn wir
uns in sie hineinversetzen, so wird sie zu einem innern Erlebnis, einem 6t>ut
ä'grus: wir sehnen uiis nach der blauen Ferne und suchen die vertrauliche
Dämmerung des Abends. Alles das hat uns aber ja auch schon Goethe ge¬
deutet. Die Träume der Romantiker, findet Ricard« Huch, hätten sich in
Böcklin erfüllt: „auch darin ist er der Künstler, den sie prophezeiten, daß er
Maler, Musiker und Dichter zugleich ist; das Ziel des modernen Künstlers
ist, deu Geist mehrerer Künste in einer zu umfassen und auszudrücken." Wir
brauchen diese Äußerungen, die Nur nicht vermehren wollen, nicht zu glossiere».
Ma sieht leicht, daß' sich die Geschichtschreiberin der Romantik dieser selbst
verwandter fühlt als der Biograph des Novalis. Sie sieht mehr blau oder
färbt rosa. Er ist kritischer und hat eine deutlichere Empfindung für das
Dekadente in der Romantik. Seine Analyse des Heinrich von Ofterdingen ist
ein Meisterstück in der Abwägung von Mängeln und Vorzügen, und in dem
letzten Kapitel seines Buches, da wo er über die unvermeidliche Auflösung der
Frührvmnutik, die äußere der Freundschaften und die innere der Anschauungen
und Lehrsätze handelt, giebt er ein klares Bekenntnis: Man kann das Lebet,
und die Wirklichkeit der Kunst nicht unterordnen, nicht den künstlerischen Maßstab
zum Maßstab aller Dinge machen. Die Sehnsticht darf nicht dem Verstand
diktieren. Die Phantasie soll nicht die Führerrollc in Leben und Wissenschaft,
mich nicht in der Kunst, sogar da nicht, Abnehmen. Die Romantik aber hatte
eine Beeinflussung des Zeitgeistes nach der Richtung gebracht, die in Gefahren
führte: eilte Verleugnung der That, ein Zurückschrauben der Kultur. Die große
Vorbereitung auf die Schlacht bei Jena.

Heilborns leicht geschriebnes Buch beruht auf einer schweren Vorarbeit,
einer Ausgabe von Novalis Werken in zwei Bünden (ebenfalls im Reimerschen
Verlage erschienen), der ersten wissenschaftlichen, die wir haben. Tieck gab in
der seinen vor hundert Jahren, was er hatte und wie er es konnte. Heilborn
hat alle noch vorhandnen Handschriften benntzt und die frühern Drucke ver¬
glichen, vieles neu gefunden, alles kritisch geprüft und die stark vermehrten
Fragmente chronologisch, soweit es möglich war, geordnet. Sie sind ja der
wichtigste Teil der Werke von Novalis. „Aus ihnen hat besonders die Jugend
bis in unsre Tage hinein eine tiefere und ernstere Lebensansicht und zwar
weit unmittelbarer geschöpft als aus den besten poetischen Werken unsrer
größten Geister, und sie werden diese Wirkung mich noch auf längere Zeit
hinaus zu äußern imstande feil,." Seit dies der geistvolle Vilmnr in seiner
Litteraturgeschichte*) schrieb, zum erstenmale 1844, ist eine neue Romantik ent¬
standen, erst in Frankreich, dann auch bei uns, ernst und tief ist sie zwar



') Sie hat dieses Jahr ihre fimfundzwanzigstc Auflage erlebt, und zwar ohne Abbildungen.
Wie viele waren es wohl, wenn die Elwertsche Verlagshandlung in Marburg sie beizeiten
nach bekannten Mustern hätte illustrieren lassen! Aber es ist besser so. Wir empfehlen das
edle Buch mit seiner vortrefflichen Fortseiwng von Adolf Stern allen, die es noch nicht
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[0575] Alte und neue Romantik Landschaft soll man fühle» wie einen Körper," sagte Novalis, Wenn wir uns in sie hineinversetzen, so wird sie zu einem innern Erlebnis, einem 6t>ut ä'grus: wir sehnen uiis nach der blauen Ferne und suchen die vertrauliche Dämmerung des Abends. Alles das hat uns aber ja auch schon Goethe ge¬ deutet. Die Träume der Romantiker, findet Ricard« Huch, hätten sich in Böcklin erfüllt: „auch darin ist er der Künstler, den sie prophezeiten, daß er Maler, Musiker und Dichter zugleich ist; das Ziel des modernen Künstlers ist, deu Geist mehrerer Künste in einer zu umfassen und auszudrücken." Wir brauchen diese Äußerungen, die Nur nicht vermehren wollen, nicht zu glossiere». Ma sieht leicht, daß' sich die Geschichtschreiberin der Romantik dieser selbst verwandter fühlt als der Biograph des Novalis. Sie sieht mehr blau oder färbt rosa. Er ist kritischer und hat eine deutlichere Empfindung für das Dekadente in der Romantik. Seine Analyse des Heinrich von Ofterdingen ist ein Meisterstück in der Abwägung von Mängeln und Vorzügen, und in dem letzten Kapitel seines Buches, da wo er über die unvermeidliche Auflösung der Frührvmnutik, die äußere der Freundschaften und die innere der Anschauungen und Lehrsätze handelt, giebt er ein klares Bekenntnis: Man kann das Lebet, und die Wirklichkeit der Kunst nicht unterordnen, nicht den künstlerischen Maßstab zum Maßstab aller Dinge machen. Die Sehnsticht darf nicht dem Verstand diktieren. Die Phantasie soll nicht die Führerrollc in Leben und Wissenschaft, mich nicht in der Kunst, sogar da nicht, Abnehmen. Die Romantik aber hatte eine Beeinflussung des Zeitgeistes nach der Richtung gebracht, die in Gefahren führte: eilte Verleugnung der That, ein Zurückschrauben der Kultur. Die große Vorbereitung auf die Schlacht bei Jena. Heilborns leicht geschriebnes Buch beruht auf einer schweren Vorarbeit, einer Ausgabe von Novalis Werken in zwei Bünden (ebenfalls im Reimerschen Verlage erschienen), der ersten wissenschaftlichen, die wir haben. Tieck gab in der seinen vor hundert Jahren, was er hatte und wie er es konnte. Heilborn hat alle noch vorhandnen Handschriften benntzt und die frühern Drucke ver¬ glichen, vieles neu gefunden, alles kritisch geprüft und die stark vermehrten Fragmente chronologisch, soweit es möglich war, geordnet. Sie sind ja der wichtigste Teil der Werke von Novalis. „Aus ihnen hat besonders die Jugend bis in unsre Tage hinein eine tiefere und ernstere Lebensansicht und zwar weit unmittelbarer geschöpft als aus den besten poetischen Werken unsrer größten Geister, und sie werden diese Wirkung mich noch auf längere Zeit hinaus zu äußern imstande feil,." Seit dies der geistvolle Vilmnr in seiner Litteraturgeschichte*) schrieb, zum erstenmale 1844, ist eine neue Romantik ent¬ standen, erst in Frankreich, dann auch bei uns, ernst und tief ist sie zwar ') Sie hat dieses Jahr ihre fimfundzwanzigstc Auflage erlebt, und zwar ohne Abbildungen. Wie viele waren es wohl, wenn die Elwertsche Verlagshandlung in Marburg sie beizeiten nach bekannten Mustern hätte illustrieren lassen! Aber es ist besser so. Wir empfehlen das edle Buch mit seiner vortrefflichen Fortseiwng von Adolf Stern allen, die es noch nicht kennen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/575>, abgerufen am 22.06.2024.