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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Alte und neue Romantik

ein ein Schicksal hingegeben und gebunden, als ein Teil der Natur, des Uni¬
versums, wie man schon damals am liebsten sagte. In der Natur aber ist
ihm das Hinsterben größer als das Aufblühen, der Herbst besser als der
Frühling, denn Tod ist das Ziel des Lebens; irgendwo schießen wir in dein
Augenblick an, wo wir hier verschwinden, und das Wandern ist ein Bleiben
in der Heimat. Nun kommen die krankhaft gesteigerten Vorstellungen von
der Wollust der Selbstvernichtung im Sterben, wozu das Kranksein eine Vor¬
stufe ist, ein "menschliches Vergnügen." Die große Natur verschlingt alles,
was lebt, ihr Fressen und Verdauen ist der Grund aller Veränderung; die
Verwesuugsstvffe werden Gegenstand liebevoller Betrachtung. Also ganz wie
bei unsern Dekadenten. Novalis kann am besten produzieren, wenn er sich
mit andern unterhält, und seine Schreibart ist die des Sprechenden: er inter-
puugiert mit Gedankenstrichen, und seine Prosasätze sind oft nur Gedanken-
sprünge. Aber in Versen spricht er die innere Sprache des Gemüts, die keinen
Zweiten nötig hat, und für die seiner Stimmung natürlichste Form erklärt er
selbst das Märchen.

Dieses Gegensätzliche in Novalis Wesen ist darum wichtig, weil es das
Unbestimmte, Schillernde in der Romantik überhaupt erklärt, da ja er ihr
eigentlicher Mystagog war. Wir möchten, heißt es bei Tieck, der fremden
Seele erläutern, was uns selbst nur halb deutlich ist, und unsre Gemälde er¬
scheinen dem kältern Geiste wie Mißgeburten; unsre Seele liegt in unserm
Körper wie ein armer Gequälter im Stier des Phalaris, und ihr Schreien
verwandelt sich für die Menge draußen in belustigende Töne. Die Roman¬
tiker kannten sehr wohl das Erfordernis einer festen, klaren Form, aber prak¬
tisch fehlte ihnen die Kraft und auch der Wille dazu; es wäre ja dann um ihre
Kunst geschehn gewesen. Ihre Zukunftskuust, die, wie Nicardn Huch offenbar
mit Wohlgefallen bemerkt, "eine poetische Prosa oder prosaische Poesie sein
muß. Denn wie könnte man sich verhehlen, daß die Poesie mehr und mehr
von der Prosa verdrängt, daß aber diese dafür immer poetischer wird!" Ja
noch mehr, man könne beobachten, wie die bewußte Poesie Musik und die un¬
bewußte Musik Poesie werden wolle; einstweilen könne man sich nur ein
visionäres Traumbild davon machen, wie das erscheinen und wirken könnte,
was man vielleicht in unendlicher Zeit Kunst nennt, und zwar eine, sodaß
"jede Einzelkunst sich willig der allgemeinen hingiebt, ohne daß sie doch die
Kraft verlöre, sie selbst zu sein. Schon aber deuten alle Zeichen darauf hin,
daß auch hier das bewußte Chaos am Ziele der Entwicklung steht." Heilborn
nimmt diese Universalkunst weniger feierlich: die gefährliche Verkuppelung der
Poesie an die Musik hätte sich an der romantischen Dichtung gerächt, und
Novalis Hütte wie Richard Wagner eine Bereicherung durch ein Bündnis der
Künste erstrebt, die thatsächlich eine Verarmung bedeute. Ganz sei jedoch dieser
Universalitätstrieb nicht für die Dichtung verloren gegangen, denn unsre Natur¬
empfindung sei durch die Romantiker, insbesondre durch Novalis verändert
und vertieft worden, das zeige unsre Dichtkunst und unsre Malerei. "Eine


Alte und neue Romantik

ein ein Schicksal hingegeben und gebunden, als ein Teil der Natur, des Uni¬
versums, wie man schon damals am liebsten sagte. In der Natur aber ist
ihm das Hinsterben größer als das Aufblühen, der Herbst besser als der
Frühling, denn Tod ist das Ziel des Lebens; irgendwo schießen wir in dein
Augenblick an, wo wir hier verschwinden, und das Wandern ist ein Bleiben
in der Heimat. Nun kommen die krankhaft gesteigerten Vorstellungen von
der Wollust der Selbstvernichtung im Sterben, wozu das Kranksein eine Vor¬
stufe ist, ein „menschliches Vergnügen." Die große Natur verschlingt alles,
was lebt, ihr Fressen und Verdauen ist der Grund aller Veränderung; die
Verwesuugsstvffe werden Gegenstand liebevoller Betrachtung. Also ganz wie
bei unsern Dekadenten. Novalis kann am besten produzieren, wenn er sich
mit andern unterhält, und seine Schreibart ist die des Sprechenden: er inter-
puugiert mit Gedankenstrichen, und seine Prosasätze sind oft nur Gedanken-
sprünge. Aber in Versen spricht er die innere Sprache des Gemüts, die keinen
Zweiten nötig hat, und für die seiner Stimmung natürlichste Form erklärt er
selbst das Märchen.

Dieses Gegensätzliche in Novalis Wesen ist darum wichtig, weil es das
Unbestimmte, Schillernde in der Romantik überhaupt erklärt, da ja er ihr
eigentlicher Mystagog war. Wir möchten, heißt es bei Tieck, der fremden
Seele erläutern, was uns selbst nur halb deutlich ist, und unsre Gemälde er¬
scheinen dem kältern Geiste wie Mißgeburten; unsre Seele liegt in unserm
Körper wie ein armer Gequälter im Stier des Phalaris, und ihr Schreien
verwandelt sich für die Menge draußen in belustigende Töne. Die Roman¬
tiker kannten sehr wohl das Erfordernis einer festen, klaren Form, aber prak¬
tisch fehlte ihnen die Kraft und auch der Wille dazu; es wäre ja dann um ihre
Kunst geschehn gewesen. Ihre Zukunftskuust, die, wie Nicardn Huch offenbar
mit Wohlgefallen bemerkt, „eine poetische Prosa oder prosaische Poesie sein
muß. Denn wie könnte man sich verhehlen, daß die Poesie mehr und mehr
von der Prosa verdrängt, daß aber diese dafür immer poetischer wird!" Ja
noch mehr, man könne beobachten, wie die bewußte Poesie Musik und die un¬
bewußte Musik Poesie werden wolle; einstweilen könne man sich nur ein
visionäres Traumbild davon machen, wie das erscheinen und wirken könnte,
was man vielleicht in unendlicher Zeit Kunst nennt, und zwar eine, sodaß
„jede Einzelkunst sich willig der allgemeinen hingiebt, ohne daß sie doch die
Kraft verlöre, sie selbst zu sein. Schon aber deuten alle Zeichen darauf hin,
daß auch hier das bewußte Chaos am Ziele der Entwicklung steht." Heilborn
nimmt diese Universalkunst weniger feierlich: die gefährliche Verkuppelung der
Poesie an die Musik hätte sich an der romantischen Dichtung gerächt, und
Novalis Hütte wie Richard Wagner eine Bereicherung durch ein Bündnis der
Künste erstrebt, die thatsächlich eine Verarmung bedeute. Ganz sei jedoch dieser
Universalitätstrieb nicht für die Dichtung verloren gegangen, denn unsre Natur¬
empfindung sei durch die Romantiker, insbesondre durch Novalis verändert
und vertieft worden, das zeige unsre Dichtkunst und unsre Malerei. „Eine


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[0574] Alte und neue Romantik ein ein Schicksal hingegeben und gebunden, als ein Teil der Natur, des Uni¬ versums, wie man schon damals am liebsten sagte. In der Natur aber ist ihm das Hinsterben größer als das Aufblühen, der Herbst besser als der Frühling, denn Tod ist das Ziel des Lebens; irgendwo schießen wir in dein Augenblick an, wo wir hier verschwinden, und das Wandern ist ein Bleiben in der Heimat. Nun kommen die krankhaft gesteigerten Vorstellungen von der Wollust der Selbstvernichtung im Sterben, wozu das Kranksein eine Vor¬ stufe ist, ein „menschliches Vergnügen." Die große Natur verschlingt alles, was lebt, ihr Fressen und Verdauen ist der Grund aller Veränderung; die Verwesuugsstvffe werden Gegenstand liebevoller Betrachtung. Also ganz wie bei unsern Dekadenten. Novalis kann am besten produzieren, wenn er sich mit andern unterhält, und seine Schreibart ist die des Sprechenden: er inter- puugiert mit Gedankenstrichen, und seine Prosasätze sind oft nur Gedanken- sprünge. Aber in Versen spricht er die innere Sprache des Gemüts, die keinen Zweiten nötig hat, und für die seiner Stimmung natürlichste Form erklärt er selbst das Märchen. Dieses Gegensätzliche in Novalis Wesen ist darum wichtig, weil es das Unbestimmte, Schillernde in der Romantik überhaupt erklärt, da ja er ihr eigentlicher Mystagog war. Wir möchten, heißt es bei Tieck, der fremden Seele erläutern, was uns selbst nur halb deutlich ist, und unsre Gemälde er¬ scheinen dem kältern Geiste wie Mißgeburten; unsre Seele liegt in unserm Körper wie ein armer Gequälter im Stier des Phalaris, und ihr Schreien verwandelt sich für die Menge draußen in belustigende Töne. Die Roman¬ tiker kannten sehr wohl das Erfordernis einer festen, klaren Form, aber prak¬ tisch fehlte ihnen die Kraft und auch der Wille dazu; es wäre ja dann um ihre Kunst geschehn gewesen. Ihre Zukunftskuust, die, wie Nicardn Huch offenbar mit Wohlgefallen bemerkt, „eine poetische Prosa oder prosaische Poesie sein muß. Denn wie könnte man sich verhehlen, daß die Poesie mehr und mehr von der Prosa verdrängt, daß aber diese dafür immer poetischer wird!" Ja noch mehr, man könne beobachten, wie die bewußte Poesie Musik und die un¬ bewußte Musik Poesie werden wolle; einstweilen könne man sich nur ein visionäres Traumbild davon machen, wie das erscheinen und wirken könnte, was man vielleicht in unendlicher Zeit Kunst nennt, und zwar eine, sodaß „jede Einzelkunst sich willig der allgemeinen hingiebt, ohne daß sie doch die Kraft verlöre, sie selbst zu sein. Schon aber deuten alle Zeichen darauf hin, daß auch hier das bewußte Chaos am Ziele der Entwicklung steht." Heilborn nimmt diese Universalkunst weniger feierlich: die gefährliche Verkuppelung der Poesie an die Musik hätte sich an der romantischen Dichtung gerächt, und Novalis Hütte wie Richard Wagner eine Bereicherung durch ein Bündnis der Künste erstrebt, die thatsächlich eine Verarmung bedeute. Ganz sei jedoch dieser Universalitätstrieb nicht für die Dichtung verloren gegangen, denn unsre Natur¬ empfindung sei durch die Romantiker, insbesondre durch Novalis verändert und vertieft worden, das zeige unsre Dichtkunst und unsre Malerei. „Eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/574>, abgerufen am 22.06.2024.