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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Laiengedanken über Humanismus und humanistische Schule

Hundertmal haben es einsichtige Leute mit warnender Stimme hervor¬
gehoben: Unsre realen und materiellen Erfolge beruhen allein auf der Kraft,
die aus den: humanistischen Boden unsrer Lebensanschauungen emporgewachsen
ist. Unterbindet diese Quelle der Kraft, und ihr werdet im Materialismus
untergehn.

Was sehen wir denn jetzt schon um uns, wo doch die realistische Er¬
ziehung erst beginnt, sich gänzlich von der humanistischen zu lösen und eigne
Wege zu gehn? Einen glänzenden Aufschwung des materiellen Lebens. Und
seine Kehrseite? Wo der Idealismus zurückweicht, dem der materielle Fort¬
schritt nicht das Höchste ist, beginnende Fäulnis. Geist und Stoff müssen sich
das Gleichgewicht halten, wo gesundes Leben sein soll. Überwiegt das eine,
muß das andre erkranken. Verkriecht sich das geistige Leben in die Spintisier¬
stube der "Ideologen," so verliert es seine zeugende Kraft und Begeisterungs¬
fähigkeit, der entgeistigte Volkskörper aber wird fremder Kraft keinen Widerstand
entgegensetzen können und zerfallen. Jagt ein sich vollblütig dünkender Körper
den geistigen Zwang des Idealen als störendes Hemmnis seiner Kraft-
bethütignng zum Teufel, wird ihn langsam aber sicher ein Zerstörungsprozeß
ergreifen, dessen sich zu erwehren der dicke Wanst keine Kraft hat. Was sind
denn die unsre hochherrliche Zeit der realen Kräfteeutfciltung begleitenden Er¬
scheinungen im geistigen Leben? Eine sittliche Verrohung, ein Sinken des
Geschmacks, die der schönen Litteratur wie den bildenden Künsten ihren hä߬
lichen Stempel aufdrücken. Das weiß jeder Einsichtige, es braucht nicht im
einzelnen gezeigt werden. Aber auch auf andern Gebieten zeigen sich Krank¬
heitserscheinungen. Die Künste sind die zartesten Zweige am Baume des
Lebens; sie zeigen am ersten die Wirkungen der Säfte, die seine Wurzeln
saugen. Ist das Grundwasser eine faule Philosophie, eine falsche Lebensauf¬
fassung, so werden sie zuerst unnatürliche Wucherungen aufweisen, in denen
sich das Wachstum erschöpft. Das nüchterne Alltagswerkeln der praktischen
wissenschaftlichen Berufe zeigt uicht so bald und so deutlich die Spuren der
krankhaften Wucherung, die auch sie ergreifen muß, wenn der Boden faulig
wird. Das Lied vom braven Manne ist so lange gesungen worden, die Pflicht¬
treue des deutschen Beamten ist eine solche Selbstverständlichkeit, der deutsche
Michel ist überhaupt eine so gesunde Natur, daß es gar nicht möglich scheint,
daß da etwas anders werden könnte. Sind wir dessen so ganz sicher? All¬
mählich, allmählich sind die materialistischen Anschauungen in die Adern des
Volks eingedrungen, an den Krankheitserscheinungen können wir das Erlahmen
der Widerstandskraft in dem gesunden Holz unsers Volkstums erkennen.
Frauenfrage und Sozialdemokratie sind solche Erscheinungen, und je be¬
rechtigter diese Bewegungen erscheinen, je mehr sie wie ein Fieber die Massen
ergreifen, desto sicherer ist der Schluß auf pathologische Ursachen. Daß die
führenden Schichten vielfach nicht mehr den Saft und die Kraft haben, die
ihre Väter befähigte, Großes zu schaffen, ist jedem klar, der offnen Auges
um sich steht. Der alte Idealismus mit seinen bescheidnen Anforderungen an


Laiengedanken über Humanismus und humanistische Schule

Hundertmal haben es einsichtige Leute mit warnender Stimme hervor¬
gehoben: Unsre realen und materiellen Erfolge beruhen allein auf der Kraft,
die aus den: humanistischen Boden unsrer Lebensanschauungen emporgewachsen
ist. Unterbindet diese Quelle der Kraft, und ihr werdet im Materialismus
untergehn.

Was sehen wir denn jetzt schon um uns, wo doch die realistische Er¬
ziehung erst beginnt, sich gänzlich von der humanistischen zu lösen und eigne
Wege zu gehn? Einen glänzenden Aufschwung des materiellen Lebens. Und
seine Kehrseite? Wo der Idealismus zurückweicht, dem der materielle Fort¬
schritt nicht das Höchste ist, beginnende Fäulnis. Geist und Stoff müssen sich
das Gleichgewicht halten, wo gesundes Leben sein soll. Überwiegt das eine,
muß das andre erkranken. Verkriecht sich das geistige Leben in die Spintisier¬
stube der „Ideologen," so verliert es seine zeugende Kraft und Begeisterungs¬
fähigkeit, der entgeistigte Volkskörper aber wird fremder Kraft keinen Widerstand
entgegensetzen können und zerfallen. Jagt ein sich vollblütig dünkender Körper
den geistigen Zwang des Idealen als störendes Hemmnis seiner Kraft-
bethütignng zum Teufel, wird ihn langsam aber sicher ein Zerstörungsprozeß
ergreifen, dessen sich zu erwehren der dicke Wanst keine Kraft hat. Was sind
denn die unsre hochherrliche Zeit der realen Kräfteeutfciltung begleitenden Er¬
scheinungen im geistigen Leben? Eine sittliche Verrohung, ein Sinken des
Geschmacks, die der schönen Litteratur wie den bildenden Künsten ihren hä߬
lichen Stempel aufdrücken. Das weiß jeder Einsichtige, es braucht nicht im
einzelnen gezeigt werden. Aber auch auf andern Gebieten zeigen sich Krank¬
heitserscheinungen. Die Künste sind die zartesten Zweige am Baume des
Lebens; sie zeigen am ersten die Wirkungen der Säfte, die seine Wurzeln
saugen. Ist das Grundwasser eine faule Philosophie, eine falsche Lebensauf¬
fassung, so werden sie zuerst unnatürliche Wucherungen aufweisen, in denen
sich das Wachstum erschöpft. Das nüchterne Alltagswerkeln der praktischen
wissenschaftlichen Berufe zeigt uicht so bald und so deutlich die Spuren der
krankhaften Wucherung, die auch sie ergreifen muß, wenn der Boden faulig
wird. Das Lied vom braven Manne ist so lange gesungen worden, die Pflicht¬
treue des deutschen Beamten ist eine solche Selbstverständlichkeit, der deutsche
Michel ist überhaupt eine so gesunde Natur, daß es gar nicht möglich scheint,
daß da etwas anders werden könnte. Sind wir dessen so ganz sicher? All¬
mählich, allmählich sind die materialistischen Anschauungen in die Adern des
Volks eingedrungen, an den Krankheitserscheinungen können wir das Erlahmen
der Widerstandskraft in dem gesunden Holz unsers Volkstums erkennen.
Frauenfrage und Sozialdemokratie sind solche Erscheinungen, und je be¬
rechtigter diese Bewegungen erscheinen, je mehr sie wie ein Fieber die Massen
ergreifen, desto sicherer ist der Schluß auf pathologische Ursachen. Daß die
führenden Schichten vielfach nicht mehr den Saft und die Kraft haben, die
ihre Väter befähigte, Großes zu schaffen, ist jedem klar, der offnen Auges
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[0558] Laiengedanken über Humanismus und humanistische Schule Hundertmal haben es einsichtige Leute mit warnender Stimme hervor¬ gehoben: Unsre realen und materiellen Erfolge beruhen allein auf der Kraft, die aus den: humanistischen Boden unsrer Lebensanschauungen emporgewachsen ist. Unterbindet diese Quelle der Kraft, und ihr werdet im Materialismus untergehn. Was sehen wir denn jetzt schon um uns, wo doch die realistische Er¬ ziehung erst beginnt, sich gänzlich von der humanistischen zu lösen und eigne Wege zu gehn? Einen glänzenden Aufschwung des materiellen Lebens. Und seine Kehrseite? Wo der Idealismus zurückweicht, dem der materielle Fort¬ schritt nicht das Höchste ist, beginnende Fäulnis. Geist und Stoff müssen sich das Gleichgewicht halten, wo gesundes Leben sein soll. Überwiegt das eine, muß das andre erkranken. Verkriecht sich das geistige Leben in die Spintisier¬ stube der „Ideologen," so verliert es seine zeugende Kraft und Begeisterungs¬ fähigkeit, der entgeistigte Volkskörper aber wird fremder Kraft keinen Widerstand entgegensetzen können und zerfallen. Jagt ein sich vollblütig dünkender Körper den geistigen Zwang des Idealen als störendes Hemmnis seiner Kraft- bethütignng zum Teufel, wird ihn langsam aber sicher ein Zerstörungsprozeß ergreifen, dessen sich zu erwehren der dicke Wanst keine Kraft hat. Was sind denn die unsre hochherrliche Zeit der realen Kräfteeutfciltung begleitenden Er¬ scheinungen im geistigen Leben? Eine sittliche Verrohung, ein Sinken des Geschmacks, die der schönen Litteratur wie den bildenden Künsten ihren hä߬ lichen Stempel aufdrücken. Das weiß jeder Einsichtige, es braucht nicht im einzelnen gezeigt werden. Aber auch auf andern Gebieten zeigen sich Krank¬ heitserscheinungen. Die Künste sind die zartesten Zweige am Baume des Lebens; sie zeigen am ersten die Wirkungen der Säfte, die seine Wurzeln saugen. Ist das Grundwasser eine faule Philosophie, eine falsche Lebensauf¬ fassung, so werden sie zuerst unnatürliche Wucherungen aufweisen, in denen sich das Wachstum erschöpft. Das nüchterne Alltagswerkeln der praktischen wissenschaftlichen Berufe zeigt uicht so bald und so deutlich die Spuren der krankhaften Wucherung, die auch sie ergreifen muß, wenn der Boden faulig wird. Das Lied vom braven Manne ist so lange gesungen worden, die Pflicht¬ treue des deutschen Beamten ist eine solche Selbstverständlichkeit, der deutsche Michel ist überhaupt eine so gesunde Natur, daß es gar nicht möglich scheint, daß da etwas anders werden könnte. Sind wir dessen so ganz sicher? All¬ mählich, allmählich sind die materialistischen Anschauungen in die Adern des Volks eingedrungen, an den Krankheitserscheinungen können wir das Erlahmen der Widerstandskraft in dem gesunden Holz unsers Volkstums erkennen. Frauenfrage und Sozialdemokratie sind solche Erscheinungen, und je be¬ rechtigter diese Bewegungen erscheinen, je mehr sie wie ein Fieber die Massen ergreifen, desto sicherer ist der Schluß auf pathologische Ursachen. Daß die führenden Schichten vielfach nicht mehr den Saft und die Kraft haben, die ihre Väter befähigte, Großes zu schaffen, ist jedem klar, der offnen Auges um sich steht. Der alte Idealismus mit seinen bescheidnen Anforderungen an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/558>, abgerufen am 22.06.2024.