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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Landflucht und polcnfragc

konservativen Partei einen breitern Unterban, als sie je gehabt hat, macht sie
heimisch in Provinzen, wo sie nie gewohnt hat, giebt ihr Einfluß auf Kreise,
um die sie sich früher vergebens bemüht hat. Ihre Machtverhältnisse sind so
sehr verändert, daß sie in dem demokratisch gewählten Reichstag zusammen mit
dem Zentrum eine sichere Mehrheit für ihre nächste" Zwecke hat, und daß sie
auch der Negierung und der Krone gegenüber Selbständigkeit und eigne Kraft
gewonnen hat. Freilich hat sie ihre alten ehrwürdigen Fahnen, die Ideale
des Kampfes für das Königtum gegen Parlamentsherrschaft und gegen die
Phrasen des Liberalismus eingetauscht gegen die Losungen einer scheinbar recht
materiellen Interessenpolitik. Es ist kein Wunder, wenn manche alten Konser¬
vativen diesen Tausch uicht mitmachen wollen und es für unwürdig halten,
wenn sich die konservative Partei im eignen Lager besiegen ließe von dem
Geiste des Materialismus, den sie so lange an den Sozialisten und manchen
Liberalen bekämpft hat. Denn das ist das Gift, das im vulgären Liberalismus
und in der Sozialdemokratie steckt, dieser Aberglaube, daß der Staat dazu da
sei, die Gegenwärtigen materiell glücklich zu machen. Das kann er nicht, und
das darf er uicht. Denn es ist überhaupt nicht die Gegenwart, sondern die
Zukunft der Gegenstand seiner Arbeit und Verantwortung, und nicht die
materielle Wohlfahrt des Einzelnen, sondern die Tüchtigkeit und die Mann¬
haftigkeit, die Virws der Gesamtheit ist sein Ideal, dem man gemeinhin durch
Anstrengungen und Entbehrungen näher kommt als durch Zufriedenheit und
Genuß.

Nun bin ich freilich der Überzeugung, daß der großen agrarischen Be¬
wegung eine Berechtigung inne wohnt, daß sie aus einer wirklichen Not ent¬
standen ist, daß die Agrarier nicht nur für ihren eignen Vorteil, sondern auch
für die Zukunft des Vaterlands streiten. Es sind Unglücksvogel, die man
nicht gern hört; aber es ist uicht ihre Schuld, sondern ihr Verdienst, daß sie
Unglück verkünden. Ich halte es durchaus für wünschenswert, daß höhere
Kornzölle für die nächsten Jahre durchgedrückt werden, ich glaube, daß es
Recht und Pflicht der alten konservativen Partei ist, an dem Schwert der
agrarischen Bewegung die scharfe Spitze zu sein. Das Sinken der landwirt¬
schaftlichen Rente muß zunächst auf diese etwas plumpe Weise einmal gehemmt
werden. Aber das Sinken der Rente ist nur ein Symptom und nicht das
Grundübel selber.

Wenn sich die agrarische Bewegung in der Eroberung höherer Zölle für
das nächste Jahrzehnt erschöpfen würde, wenn dann unter der künstlich durch
die Schutzpolitik erhaltnen Intensität der Betriebe die Arbeiterverhältnisse nur
noch trüber würden, wenn sich vielleicht auch bei diesen Zöllen die Getreide¬
preise nicht wesentlich höher, und wenn auch nach Ablauf eines weitern Jahr¬
zehnts die Landwirte nicht in der Lage wären, die freie Konkurrenz mit dem
Ausland auf dem eignen Markte aufzunehmen -- unterdessen würde sich auch
die Bevölkeruugsverteilung noch mehr zu Ungunsten der Landwirtschaft ver¬
schoben haben, und mit ihr die Machtverhültnisse im Reichstag --, dann


Landflucht und polcnfragc

konservativen Partei einen breitern Unterban, als sie je gehabt hat, macht sie
heimisch in Provinzen, wo sie nie gewohnt hat, giebt ihr Einfluß auf Kreise,
um die sie sich früher vergebens bemüht hat. Ihre Machtverhältnisse sind so
sehr verändert, daß sie in dem demokratisch gewählten Reichstag zusammen mit
dem Zentrum eine sichere Mehrheit für ihre nächste» Zwecke hat, und daß sie
auch der Negierung und der Krone gegenüber Selbständigkeit und eigne Kraft
gewonnen hat. Freilich hat sie ihre alten ehrwürdigen Fahnen, die Ideale
des Kampfes für das Königtum gegen Parlamentsherrschaft und gegen die
Phrasen des Liberalismus eingetauscht gegen die Losungen einer scheinbar recht
materiellen Interessenpolitik. Es ist kein Wunder, wenn manche alten Konser¬
vativen diesen Tausch uicht mitmachen wollen und es für unwürdig halten,
wenn sich die konservative Partei im eignen Lager besiegen ließe von dem
Geiste des Materialismus, den sie so lange an den Sozialisten und manchen
Liberalen bekämpft hat. Denn das ist das Gift, das im vulgären Liberalismus
und in der Sozialdemokratie steckt, dieser Aberglaube, daß der Staat dazu da
sei, die Gegenwärtigen materiell glücklich zu machen. Das kann er nicht, und
das darf er uicht. Denn es ist überhaupt nicht die Gegenwart, sondern die
Zukunft der Gegenstand seiner Arbeit und Verantwortung, und nicht die
materielle Wohlfahrt des Einzelnen, sondern die Tüchtigkeit und die Mann¬
haftigkeit, die Virws der Gesamtheit ist sein Ideal, dem man gemeinhin durch
Anstrengungen und Entbehrungen näher kommt als durch Zufriedenheit und
Genuß.

Nun bin ich freilich der Überzeugung, daß der großen agrarischen Be¬
wegung eine Berechtigung inne wohnt, daß sie aus einer wirklichen Not ent¬
standen ist, daß die Agrarier nicht nur für ihren eignen Vorteil, sondern auch
für die Zukunft des Vaterlands streiten. Es sind Unglücksvogel, die man
nicht gern hört; aber es ist uicht ihre Schuld, sondern ihr Verdienst, daß sie
Unglück verkünden. Ich halte es durchaus für wünschenswert, daß höhere
Kornzölle für die nächsten Jahre durchgedrückt werden, ich glaube, daß es
Recht und Pflicht der alten konservativen Partei ist, an dem Schwert der
agrarischen Bewegung die scharfe Spitze zu sein. Das Sinken der landwirt¬
schaftlichen Rente muß zunächst auf diese etwas plumpe Weise einmal gehemmt
werden. Aber das Sinken der Rente ist nur ein Symptom und nicht das
Grundübel selber.

Wenn sich die agrarische Bewegung in der Eroberung höherer Zölle für
das nächste Jahrzehnt erschöpfen würde, wenn dann unter der künstlich durch
die Schutzpolitik erhaltnen Intensität der Betriebe die Arbeiterverhältnisse nur
noch trüber würden, wenn sich vielleicht auch bei diesen Zöllen die Getreide¬
preise nicht wesentlich höher, und wenn auch nach Ablauf eines weitern Jahr¬
zehnts die Landwirte nicht in der Lage wären, die freie Konkurrenz mit dem
Ausland auf dem eignen Markte aufzunehmen — unterdessen würde sich auch
die Bevölkeruugsverteilung noch mehr zu Ungunsten der Landwirtschaft ver¬
schoben haben, und mit ihr die Machtverhültnisse im Reichstag —, dann


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/550>, abgerufen am 22.06.2024.