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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Landflucht und Polenfrage

die "Umkehr" nun ausbleibt? Soll dann die Erschütterung der monarchischen
Gesinnung weiter gehn? Nun, eine "monarchische Gesinnung," die durch solche
Dinge erschüttert würde, wäre verwünscht wenig wert, Revolution aber Wollen
die Altdeutschen doch nicht machen, Umkehr ist allerdings not, dringend not,
nämlich in der Haltung unsrer Presse, Wir machen für das traurige Vor¬
kommnis in Bremen, das so leicht viel schlimmer hätte ablaufen können, als
es Gott sei Dank abgelaufen ist, natürlich keine Partei und keine Zeitung
verantwortlich; aber wenn ein epileptischer Arbeiter ans den ruchlosen Einfall
kommt, ein scharfkantiges Eisenstück gegen den Kaiser zu schleudern, der
ahnungslos und ohne jede Bedeckung vorbeifährt, und zwar so sicher zu
schleudern, daß von einer geistigen Störung in diesem Augenblicke kaum die
Rede sein kann, so kann die jahrelang fortgesetzte, nieist gegen den Kaiser ganz
Persönlich gerichtete Aufregung und Verhetzung der öffentlichen Meinung den
Boden für eine solche Niederträchtigkeit gerade so gut vorbereitet haben, wie
das Attentat Oskar Beckers ans König Wilhelm am 14. Juni 1861 mit der
Motivierung, "weil er der deutschen Einheit im Wege stehe," und der Mord¬
anfall Julius Cohns auf Bismarck am 7. Mai 1866 von den maßlosen
Schmähungen und Verdächtigungen in der damaligen demokratischen Presse
moralisch mit verschuldet worden sind. Wir sollten meinen, das gäbe ernsten
" und patriotischen Leuten zu denken.




Landflucht und Polenfrage
(Schluß)

is sich das alte Preußen im Jahre 1866 zum neuen größern
Preußen auswuchs, und als es daun nochmals die Arme auf-
that und sich zum neuen Deutschen Reich erweiterte, da haben
viele alte Preußen, zumal die Anhänger und die Führer der
konservativen Partei diese Verwandlung mit zweierlei Augen an¬
gesehen, mit einem zufriedner und einem traurigen, Ihre Partei, die Partei
der Junker und der Pastoren konnte im neuen Reiche nur verlieren; in den
eroberten Provinzen waren die Wähler entweder liberal oder partiknlaristisch-
konservativ. Thatsächlich herrschte denn auch im neuen Reiche die ersten zehn
Jahre lang der Liberalisinus. Aber die alten Verfassungskämpfe schliefen ein.
Es entbrannte der Kampf um die wirtschaftlichen Fragen. Nunmehr sind die
alten Parteiunterschiede verblaßt; eine neue große Partei hat sich aus allen
Teilen Deutschlands zusammengefunden, die agrarische mit einem ultramontanen
linken Flügel und einem konservativen rechten Flügel und mit einer im ganzen
sehr breiten demokratischen Grundlage. Der rechte Flügel giebt der alten


Landflucht und Polenfrage

die „Umkehr" nun ausbleibt? Soll dann die Erschütterung der monarchischen
Gesinnung weiter gehn? Nun, eine „monarchische Gesinnung," die durch solche
Dinge erschüttert würde, wäre verwünscht wenig wert, Revolution aber Wollen
die Altdeutschen doch nicht machen, Umkehr ist allerdings not, dringend not,
nämlich in der Haltung unsrer Presse, Wir machen für das traurige Vor¬
kommnis in Bremen, das so leicht viel schlimmer hätte ablaufen können, als
es Gott sei Dank abgelaufen ist, natürlich keine Partei und keine Zeitung
verantwortlich; aber wenn ein epileptischer Arbeiter ans den ruchlosen Einfall
kommt, ein scharfkantiges Eisenstück gegen den Kaiser zu schleudern, der
ahnungslos und ohne jede Bedeckung vorbeifährt, und zwar so sicher zu
schleudern, daß von einer geistigen Störung in diesem Augenblicke kaum die
Rede sein kann, so kann die jahrelang fortgesetzte, nieist gegen den Kaiser ganz
Persönlich gerichtete Aufregung und Verhetzung der öffentlichen Meinung den
Boden für eine solche Niederträchtigkeit gerade so gut vorbereitet haben, wie
das Attentat Oskar Beckers ans König Wilhelm am 14. Juni 1861 mit der
Motivierung, „weil er der deutschen Einheit im Wege stehe," und der Mord¬
anfall Julius Cohns auf Bismarck am 7. Mai 1866 von den maßlosen
Schmähungen und Verdächtigungen in der damaligen demokratischen Presse
moralisch mit verschuldet worden sind. Wir sollten meinen, das gäbe ernsten
" und patriotischen Leuten zu denken.




Landflucht und Polenfrage
(Schluß)

is sich das alte Preußen im Jahre 1866 zum neuen größern
Preußen auswuchs, und als es daun nochmals die Arme auf-
that und sich zum neuen Deutschen Reich erweiterte, da haben
viele alte Preußen, zumal die Anhänger und die Führer der
konservativen Partei diese Verwandlung mit zweierlei Augen an¬
gesehen, mit einem zufriedner und einem traurigen, Ihre Partei, die Partei
der Junker und der Pastoren konnte im neuen Reiche nur verlieren; in den
eroberten Provinzen waren die Wähler entweder liberal oder partiknlaristisch-
konservativ. Thatsächlich herrschte denn auch im neuen Reiche die ersten zehn
Jahre lang der Liberalisinus. Aber die alten Verfassungskämpfe schliefen ein.
Es entbrannte der Kampf um die wirtschaftlichen Fragen. Nunmehr sind die
alten Parteiunterschiede verblaßt; eine neue große Partei hat sich aus allen
Teilen Deutschlands zusammengefunden, die agrarische mit einem ultramontanen
linken Flügel und einem konservativen rechten Flügel und mit einer im ganzen
sehr breiten demokratischen Grundlage. Der rechte Flügel giebt der alten


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[0549] Landflucht und Polenfrage die „Umkehr" nun ausbleibt? Soll dann die Erschütterung der monarchischen Gesinnung weiter gehn? Nun, eine „monarchische Gesinnung," die durch solche Dinge erschüttert würde, wäre verwünscht wenig wert, Revolution aber Wollen die Altdeutschen doch nicht machen, Umkehr ist allerdings not, dringend not, nämlich in der Haltung unsrer Presse, Wir machen für das traurige Vor¬ kommnis in Bremen, das so leicht viel schlimmer hätte ablaufen können, als es Gott sei Dank abgelaufen ist, natürlich keine Partei und keine Zeitung verantwortlich; aber wenn ein epileptischer Arbeiter ans den ruchlosen Einfall kommt, ein scharfkantiges Eisenstück gegen den Kaiser zu schleudern, der ahnungslos und ohne jede Bedeckung vorbeifährt, und zwar so sicher zu schleudern, daß von einer geistigen Störung in diesem Augenblicke kaum die Rede sein kann, so kann die jahrelang fortgesetzte, nieist gegen den Kaiser ganz Persönlich gerichtete Aufregung und Verhetzung der öffentlichen Meinung den Boden für eine solche Niederträchtigkeit gerade so gut vorbereitet haben, wie das Attentat Oskar Beckers ans König Wilhelm am 14. Juni 1861 mit der Motivierung, „weil er der deutschen Einheit im Wege stehe," und der Mord¬ anfall Julius Cohns auf Bismarck am 7. Mai 1866 von den maßlosen Schmähungen und Verdächtigungen in der damaligen demokratischen Presse moralisch mit verschuldet worden sind. Wir sollten meinen, das gäbe ernsten " und patriotischen Leuten zu denken. Landflucht und Polenfrage (Schluß) is sich das alte Preußen im Jahre 1866 zum neuen größern Preußen auswuchs, und als es daun nochmals die Arme auf- that und sich zum neuen Deutschen Reich erweiterte, da haben viele alte Preußen, zumal die Anhänger und die Führer der konservativen Partei diese Verwandlung mit zweierlei Augen an¬ gesehen, mit einem zufriedner und einem traurigen, Ihre Partei, die Partei der Junker und der Pastoren konnte im neuen Reiche nur verlieren; in den eroberten Provinzen waren die Wähler entweder liberal oder partiknlaristisch- konservativ. Thatsächlich herrschte denn auch im neuen Reiche die ersten zehn Jahre lang der Liberalisinus. Aber die alten Verfassungskämpfe schliefen ein. Es entbrannte der Kampf um die wirtschaftlichen Fragen. Nunmehr sind die alten Parteiunterschiede verblaßt; eine neue große Partei hat sich aus allen Teilen Deutschlands zusammengefunden, die agrarische mit einem ultramontanen linken Flügel und einem konservativen rechten Flügel und mit einer im ganzen sehr breiten demokratischen Grundlage. Der rechte Flügel giebt der alten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/549>, abgerufen am 22.06.2024.