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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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"Beschwichtigungsversuche"'

überwerfen und England von dein russischen Drucke befreien. Diese Argumen¬
tation galt vielleicht vor zehn oder zwanzig Jahren noch, heute ist sie ver¬
altet. Rußland ganz freie Hand im Osten zu lassen, ruhig zuzusehen, wie es
China in seinen Vasallenstaat verwandelt und damit Herr von ganz Asien
wird, das ist uns heule ganz unmöglich; wer das nicht einsieht, mit dein ist
über diese Dinge nicht zu reden. Wir müssen hier uns alle Thüren offen¬
halten, und Rußland würde sie uns alle vor der Nase zuschlagen, lind wir
möchten doch wissen, welche Rücksichten diese rücksichtslose, ja wenn mau will
treulose russische Politik von uns verdiente, die ihre Truppen kaltblütig aus
Petschili herauszieht, ehe irgend etwas entschieden ist, den Beschützer dieser
hinterhältigen, treulosen Chinesen spielt, wo sie kann, Sondervertrnge mit ihnen
schließt, wo sie kann, kurz uns, die wir, weil wir uns die Genugthuung zu
holen haben für die Ermordung unsers Gesandten, dort in vorderster Reihe
stehn müssen, nicht mir nicht in dieser selbstverständlichen Pflicht unterstützt,
sondern uns überall Knüppel vor die Füße wirft? Sind das Zeichen von
Freundschaft oder auch nur von gutem Willen? "Wir laufen niemand nach,"
hat Fürst Bismarck von unserm Verhältnis zu Rußland gesagt, und wir haben
unter seiner Amtsfüyrnng trotz aller Rücksichten, die vielen zu weit gingen
--- man denke um die Battenbergische Sache , zweimal dicht vor dem Kriege
mit Rußland gestanden. Gott verhüte, daß es noch einmal so weit kommt,
aber nur festes, mannhaftes Auftreten wird das verhindern, nicht schwächliche
Nachgiebigkeit, die die Russen nur in dem Glauben bestärken würde, sie dürften
sich alles gegen uns erlauben. Jedenfalls haben nur keinen Grund, Rußland
von dem englischen Gegendrucke zu befreien. Darum ist es nun geradezu lächerlich
zu sehen, wie unsre Liberalen, die einst Rußland als Hort des Absolutismus
tödlich haßten, jetzt salbungsvoll für das engste Einvernehmen mit ihm ein¬
treten, weil sie meinen, damit in Fürst Bismarcks Sinne zu handeln, wie sie
andrerseits gegen England toben, das ihnen einst als politisches Musterland
gute, nur weil sie wieder glauben, das sei gut Bismarckische Politik, und wie
sie durch beides eine unabhängige Haltung der Reichspolitik nach Kräften
erschweren.

Wir hatte" gelegentlich gesagt, mich Bismarck würde nnter den heutigen
Umständen in China kaum anders gehandelt haben als jetzt geschieht. Die
Hamburger Nachrichten entrüsten sich darüber sehr und versichern, er würde
die ganze "Chinapolitik" nicht gemacht haben. Wir wissen nicht, woher sie
das wissen wollen, und mochten nur fragen, was denn wohl andres hätte ge¬
schehn können, als jetzt geschehn ist; im übrigen ist die Frage von unter¬
geordneter Bedeutung. Fürst Bismarck hat die Politik seiner Zeit gemacht,
Kaiser Wilhelm II. und Graf Bülow machen die Politik unsrer Zeit. Wir
stellen darum die jetzige Chinapolitik durchaus uicht "unter den Schutz des
verewigten Fürsten Bismarck," sie bedarf dessen auch gar nicht, und wenn die
Hamburger Nachrichten in unsrer beiläufigen Bemerkung "die ganze gedanken¬
lose Dreistigkeit, die für unsre Offiziösen charakteristisch ist." erkennen wollen,


„Beschwichtigungsversuche"'

überwerfen und England von dein russischen Drucke befreien. Diese Argumen¬
tation galt vielleicht vor zehn oder zwanzig Jahren noch, heute ist sie ver¬
altet. Rußland ganz freie Hand im Osten zu lassen, ruhig zuzusehen, wie es
China in seinen Vasallenstaat verwandelt und damit Herr von ganz Asien
wird, das ist uns heule ganz unmöglich; wer das nicht einsieht, mit dein ist
über diese Dinge nicht zu reden. Wir müssen hier uns alle Thüren offen¬
halten, und Rußland würde sie uns alle vor der Nase zuschlagen, lind wir
möchten doch wissen, welche Rücksichten diese rücksichtslose, ja wenn mau will
treulose russische Politik von uns verdiente, die ihre Truppen kaltblütig aus
Petschili herauszieht, ehe irgend etwas entschieden ist, den Beschützer dieser
hinterhältigen, treulosen Chinesen spielt, wo sie kann, Sondervertrnge mit ihnen
schließt, wo sie kann, kurz uns, die wir, weil wir uns die Genugthuung zu
holen haben für die Ermordung unsers Gesandten, dort in vorderster Reihe
stehn müssen, nicht mir nicht in dieser selbstverständlichen Pflicht unterstützt,
sondern uns überall Knüppel vor die Füße wirft? Sind das Zeichen von
Freundschaft oder auch nur von gutem Willen? „Wir laufen niemand nach,"
hat Fürst Bismarck von unserm Verhältnis zu Rußland gesagt, und wir haben
unter seiner Amtsfüyrnng trotz aller Rücksichten, die vielen zu weit gingen
—- man denke um die Battenbergische Sache , zweimal dicht vor dem Kriege
mit Rußland gestanden. Gott verhüte, daß es noch einmal so weit kommt,
aber nur festes, mannhaftes Auftreten wird das verhindern, nicht schwächliche
Nachgiebigkeit, die die Russen nur in dem Glauben bestärken würde, sie dürften
sich alles gegen uns erlauben. Jedenfalls haben nur keinen Grund, Rußland
von dem englischen Gegendrucke zu befreien. Darum ist es nun geradezu lächerlich
zu sehen, wie unsre Liberalen, die einst Rußland als Hort des Absolutismus
tödlich haßten, jetzt salbungsvoll für das engste Einvernehmen mit ihm ein¬
treten, weil sie meinen, damit in Fürst Bismarcks Sinne zu handeln, wie sie
andrerseits gegen England toben, das ihnen einst als politisches Musterland
gute, nur weil sie wieder glauben, das sei gut Bismarckische Politik, und wie
sie durch beides eine unabhängige Haltung der Reichspolitik nach Kräften
erschweren.

Wir hatte» gelegentlich gesagt, mich Bismarck würde nnter den heutigen
Umständen in China kaum anders gehandelt haben als jetzt geschieht. Die
Hamburger Nachrichten entrüsten sich darüber sehr und versichern, er würde
die ganze „Chinapolitik" nicht gemacht haben. Wir wissen nicht, woher sie
das wissen wollen, und mochten nur fragen, was denn wohl andres hätte ge¬
schehn können, als jetzt geschehn ist; im übrigen ist die Frage von unter¬
geordneter Bedeutung. Fürst Bismarck hat die Politik seiner Zeit gemacht,
Kaiser Wilhelm II. und Graf Bülow machen die Politik unsrer Zeit. Wir
stellen darum die jetzige Chinapolitik durchaus uicht „unter den Schutz des
verewigten Fürsten Bismarck," sie bedarf dessen auch gar nicht, und wenn die
Hamburger Nachrichten in unsrer beiläufigen Bemerkung „die ganze gedanken¬
lose Dreistigkeit, die für unsre Offiziösen charakteristisch ist." erkennen wollen,


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[0547] „Beschwichtigungsversuche"' überwerfen und England von dein russischen Drucke befreien. Diese Argumen¬ tation galt vielleicht vor zehn oder zwanzig Jahren noch, heute ist sie ver¬ altet. Rußland ganz freie Hand im Osten zu lassen, ruhig zuzusehen, wie es China in seinen Vasallenstaat verwandelt und damit Herr von ganz Asien wird, das ist uns heule ganz unmöglich; wer das nicht einsieht, mit dein ist über diese Dinge nicht zu reden. Wir müssen hier uns alle Thüren offen¬ halten, und Rußland würde sie uns alle vor der Nase zuschlagen, lind wir möchten doch wissen, welche Rücksichten diese rücksichtslose, ja wenn mau will treulose russische Politik von uns verdiente, die ihre Truppen kaltblütig aus Petschili herauszieht, ehe irgend etwas entschieden ist, den Beschützer dieser hinterhältigen, treulosen Chinesen spielt, wo sie kann, Sondervertrnge mit ihnen schließt, wo sie kann, kurz uns, die wir, weil wir uns die Genugthuung zu holen haben für die Ermordung unsers Gesandten, dort in vorderster Reihe stehn müssen, nicht mir nicht in dieser selbstverständlichen Pflicht unterstützt, sondern uns überall Knüppel vor die Füße wirft? Sind das Zeichen von Freundschaft oder auch nur von gutem Willen? „Wir laufen niemand nach," hat Fürst Bismarck von unserm Verhältnis zu Rußland gesagt, und wir haben unter seiner Amtsfüyrnng trotz aller Rücksichten, die vielen zu weit gingen —- man denke um die Battenbergische Sache , zweimal dicht vor dem Kriege mit Rußland gestanden. Gott verhüte, daß es noch einmal so weit kommt, aber nur festes, mannhaftes Auftreten wird das verhindern, nicht schwächliche Nachgiebigkeit, die die Russen nur in dem Glauben bestärken würde, sie dürften sich alles gegen uns erlauben. Jedenfalls haben nur keinen Grund, Rußland von dem englischen Gegendrucke zu befreien. Darum ist es nun geradezu lächerlich zu sehen, wie unsre Liberalen, die einst Rußland als Hort des Absolutismus tödlich haßten, jetzt salbungsvoll für das engste Einvernehmen mit ihm ein¬ treten, weil sie meinen, damit in Fürst Bismarcks Sinne zu handeln, wie sie andrerseits gegen England toben, das ihnen einst als politisches Musterland gute, nur weil sie wieder glauben, das sei gut Bismarckische Politik, und wie sie durch beides eine unabhängige Haltung der Reichspolitik nach Kräften erschweren. Wir hatte» gelegentlich gesagt, mich Bismarck würde nnter den heutigen Umständen in China kaum anders gehandelt haben als jetzt geschieht. Die Hamburger Nachrichten entrüsten sich darüber sehr und versichern, er würde die ganze „Chinapolitik" nicht gemacht haben. Wir wissen nicht, woher sie das wissen wollen, und mochten nur fragen, was denn wohl andres hätte ge¬ schehn können, als jetzt geschehn ist; im übrigen ist die Frage von unter¬ geordneter Bedeutung. Fürst Bismarck hat die Politik seiner Zeit gemacht, Kaiser Wilhelm II. und Graf Bülow machen die Politik unsrer Zeit. Wir stellen darum die jetzige Chinapolitik durchaus uicht „unter den Schutz des verewigten Fürsten Bismarck," sie bedarf dessen auch gar nicht, und wenn die Hamburger Nachrichten in unsrer beiläufigen Bemerkung „die ganze gedanken¬ lose Dreistigkeit, die für unsre Offiziösen charakteristisch ist." erkennen wollen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/547>, abgerufen am 22.06.2024.