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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Beschwichtigungsversuche"

Wandlung des ohnmächtigen Deutschen Bundes in das starke Deutsche Reich sie
vermehrt hat, und wir wissen so gut wie die Hamburger Nachrichten, daß wir
uns vor allein auf unsre eigne Starke verlassen müssen; aber wozu das be¬
sonders erwähnen, da dafür ohnehin alles Nötige geschieht? Jedenfalls finden
wir es mehr als undiplomatisch, wenn die Hamburger Nachrichten behaupten,
der Dreibund bestünde nur auf dem Papier fort; das heißt doch geradezu
unsern Feinden Mut machen und unsre Bundesgenossen beleidigen. Und
gesetzt, es wäre kein Verlaß auf ihn, daun wäre ein deutsch-englisches Ein¬
vernehmen doch wohl erst recht wertvoll. Aber von einem solchen "vollen die
Hamburger Nachrichten natürlich nichts wissen. Vielleicht erkundigen sie sich
einmal in ihrer Nähe, ob die Hamburger Reeber und Kaufherren, die doch
etwas von der Welt versteh", auch so denken wie sie. Jedenfalls bekämpfen
sie eine Annäherung an England aus zwei Gründe", einmal weil England
unser schärfster wirtschaftlicher Konkurrent sei, also uns gar nicht fördern könne,
ohne sich selbst zu schädigen, und daun, weil ein solches Einvernehmen unser
Verhältnis zu Nußland stören müsse. Haben denn die Hamburger Nachrichten
ganz vergessen, daß Fürst Bismarck politische Freundschaft mit einem wirt¬
schaftlichen Gegensatze, ja mit direkt feindlichen Wirtschaftspolitiken Ma߬
regeln gerade gegenüber Rußland für vollkommen vereinbar erklärt hat, und
daß er in seiner ganzen afrikanischen Politik immer voll Rücksicht auf Eng¬
land gewesen ist, daß er Lttderitzland erst dann unter den Schutz des Reiches
stellte, als England keinen Anspruch geltend machte, daß er die Santa Luciabai,
die für die Zukunft der Burenstaaten die größte Bedeutung gehabt hätte, auf¬
gab, weil England sie uns uicht lassen wollte, daß er die Anregung, diese
Republiken unter deutsches Protektorat zu nehmen, natürlich aus Rücksicht auf
England, ablehnte? Das Verhältnis zu Rußland nicht zu gefährden ist gewiß
eine der wichtigsten Aufgaben unsrer Politik; aber man soll doch nicht ver¬
gessen, daß ein eigentliches Bündnis mit Rußland unmöglich ist, solange der
russisch-französische Zwcibund besteht, und die Franzosen nicht rückhaltlos den
Frankfurter Frieden angenommen haben. Und welche Macht uns im Falle
eines europäischen Kriegs mehr nützen oder, was ziemlich dasselbe ist, mehr
schaden könnte, ob Rußland oder England, das ist noch die Frage. Nußland
könnte uns nur zu Lande ernsthaft bedrohen, und da wären wir stark genug;
England könnte unsre Seeverbindungen offen halten oder, solange wir zur
See nicht sehr viel stärker sind als heute, im andern Falle sperren, und in
diesem zweiten Falle würde eine furchtbare wirtschaftliche Krisis über Deutsch¬
land hereinbrechen. Wir wissen nicht, was schlimmer wäre, wir wissen nur,
daß unsre ganze Flottenpolitik darauf ausgeht und ausgehn muß, uns die
Seewege freizuhalten Eine Erschütterung unsrer Beziehungen zu Nußland
fürchten die Hamburger Nachrichten vor allein von unsrer "Chinapolitik."
Dort, sagen sie, unterstützen wir lediglich die Sache Englands gegen Rußland,
"ohne durch unsre Interessen dazu genötigt zu sein, ja ohne den geringsten
Vorteil davon zu haben"; wir werden uns schließlich darüber mit Rußland


Beschwichtigungsversuche"

Wandlung des ohnmächtigen Deutschen Bundes in das starke Deutsche Reich sie
vermehrt hat, und wir wissen so gut wie die Hamburger Nachrichten, daß wir
uns vor allein auf unsre eigne Starke verlassen müssen; aber wozu das be¬
sonders erwähnen, da dafür ohnehin alles Nötige geschieht? Jedenfalls finden
wir es mehr als undiplomatisch, wenn die Hamburger Nachrichten behaupten,
der Dreibund bestünde nur auf dem Papier fort; das heißt doch geradezu
unsern Feinden Mut machen und unsre Bundesgenossen beleidigen. Und
gesetzt, es wäre kein Verlaß auf ihn, daun wäre ein deutsch-englisches Ein¬
vernehmen doch wohl erst recht wertvoll. Aber von einem solchen »vollen die
Hamburger Nachrichten natürlich nichts wissen. Vielleicht erkundigen sie sich
einmal in ihrer Nähe, ob die Hamburger Reeber und Kaufherren, die doch
etwas von der Welt versteh«, auch so denken wie sie. Jedenfalls bekämpfen
sie eine Annäherung an England aus zwei Gründe», einmal weil England
unser schärfster wirtschaftlicher Konkurrent sei, also uns gar nicht fördern könne,
ohne sich selbst zu schädigen, und daun, weil ein solches Einvernehmen unser
Verhältnis zu Nußland stören müsse. Haben denn die Hamburger Nachrichten
ganz vergessen, daß Fürst Bismarck politische Freundschaft mit einem wirt¬
schaftlichen Gegensatze, ja mit direkt feindlichen Wirtschaftspolitiken Ma߬
regeln gerade gegenüber Rußland für vollkommen vereinbar erklärt hat, und
daß er in seiner ganzen afrikanischen Politik immer voll Rücksicht auf Eng¬
land gewesen ist, daß er Lttderitzland erst dann unter den Schutz des Reiches
stellte, als England keinen Anspruch geltend machte, daß er die Santa Luciabai,
die für die Zukunft der Burenstaaten die größte Bedeutung gehabt hätte, auf¬
gab, weil England sie uns uicht lassen wollte, daß er die Anregung, diese
Republiken unter deutsches Protektorat zu nehmen, natürlich aus Rücksicht auf
England, ablehnte? Das Verhältnis zu Rußland nicht zu gefährden ist gewiß
eine der wichtigsten Aufgaben unsrer Politik; aber man soll doch nicht ver¬
gessen, daß ein eigentliches Bündnis mit Rußland unmöglich ist, solange der
russisch-französische Zwcibund besteht, und die Franzosen nicht rückhaltlos den
Frankfurter Frieden angenommen haben. Und welche Macht uns im Falle
eines europäischen Kriegs mehr nützen oder, was ziemlich dasselbe ist, mehr
schaden könnte, ob Rußland oder England, das ist noch die Frage. Nußland
könnte uns nur zu Lande ernsthaft bedrohen, und da wären wir stark genug;
England könnte unsre Seeverbindungen offen halten oder, solange wir zur
See nicht sehr viel stärker sind als heute, im andern Falle sperren, und in
diesem zweiten Falle würde eine furchtbare wirtschaftliche Krisis über Deutsch¬
land hereinbrechen. Wir wissen nicht, was schlimmer wäre, wir wissen nur,
daß unsre ganze Flottenpolitik darauf ausgeht und ausgehn muß, uns die
Seewege freizuhalten Eine Erschütterung unsrer Beziehungen zu Nußland
fürchten die Hamburger Nachrichten vor allein von unsrer „Chinapolitik."
Dort, sagen sie, unterstützen wir lediglich die Sache Englands gegen Rußland,
„ohne durch unsre Interessen dazu genötigt zu sein, ja ohne den geringsten
Vorteil davon zu haben"; wir werden uns schließlich darüber mit Rußland


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/546>, abgerufen am 22.06.2024.